Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Wir alle? Nein: Eine Berufsgilde widersetzt sich konsequent allen Veränderungen: die Gilde der Juristen. Sie orientiert sich an einem Konfliktlösungsmodell, das im alten Rom entstand. Wohl deshalb gehört römisches Recht an unseren Fakultäten nach wie vor zu den Pflichtfächern. Das römische Recht biete «auch dem heutigen Juristen noch eine Plattform, sein eigenes juristisches Denken zu schärfen und Methoden zur Lösung neuer Probleme zu erlernen», heisst es im aktuellen Vorlesungsverzeichnis der Universität Zürich. Doch das alte Rom ging 476 unter, und seither sind mehr als eineinhalbtausend Jahre verstrichen. Das Problem- und Konfliktlösungsdenken hat sich inzwischen vor allem im angloamerikanischen Recht weiterentwickelt, möglicherweise begünstigt dadurch, dass es sich mehr an Präzedenzfällen als an Gesetzen orientiert. Von einer Weiterentwicklung des juristischen Problemlösungsdenkens ist hierzulande sehr wenig zu spüren.
Noch in einem Urteil vom 28. November 2006 leitete das Bundesgericht die Mängelrechte des Käufers aus dem römischen Recht her (4C.180/2005). Bis heute prägen die Rechtsinstitute des römischen Zivilrechtes und überlieferte Klageformeln die Gerichtsverfahren. Kannten die römischen Juristen den Formularprozess, orientieren sich heutige Anwälte am fünfbändigen Werk «Kommentierte Musterklagen», einem Bestseller aus dem Verlag Schulthess. Konfliktlösungsverfahren aber, die sich am römischen Recht und nicht an Lösungen orientieren, genügen den Ansprüchen rechtsuchender Bürgerinnen und Bürger nicht mehr. Wir leben in einer «waitless world», die rasche und alltagstaugliche Streiterledigungen verlangt. Stattdessen erleben Prozessparteien ihre Gerichtsverfahren oftmals als rituelle Darbietungen einer Juristokratie, die sie Geld, Zeit und Nerven kostet und die in einem Scherbenhaufen endet.
Korrekt hergeleitet, doch im Ergebnis falsch
Ich kann mich noch gut an einen meiner ersten Prozesse vor dem Handelsgericht Zürich Mitte der 1980er-Jahre erinnern: Ein paar Dutzend Klienten hatten bei einem Zürcher Reisebüro Bungalows in Italien gemietet. Dort wollten sie mit ihren Familien die Sommerferien verbringen. Nach stundenlangen Autofahrten mit quengelnden Kindern auf dem Rücksitz fanden sie dann vor Ort nur grüne Wiesen vor. Die gemieteten Bungalows existierten nicht. Andere Unterkünfte waren in der Sommerferienzeit nicht erhältlich. Also ballten die geprellten Feriengäste die Faust im Sack und fuhren, mittlerweile erschöpft, nach Hause. Nach den Sommerferien klagten sie das Zürcher Reisebüro ein. Sie verlangten die Rückerstattung des Bungalow-Mietzinses und eine Entschädigung für die verpfuschten Familienferien. Das Zürcher Handelsgericht wies die Klagen ab. Denn die Kläger hätten es versäumt, dem Reisebüro vor Ort eine Nachfrist zur Vertragserfüllung anzusetzen. Und einen Frustrationsschaden für verpfuschte Ferien kenne das Schweizer Recht ohnehin nicht. Jeder Beteiligte wusste, dass dieses Urteil im Ergebnis falsch war, doch das Institut der mangelhaften Vertragserfüllung war korrekt appliziert worden (Condictio ob causam datorum).
Ein weiteres Beispiel gefällig? Im Kanton Tessin wollte sich ein Ehepaar scheiden lassen. Das erstinstanzliche Scheidungsurteil erging. Ein Ehegatte war nicht einverstanden und erklärte Berufung an das Obergericht des Kantons Tessin. Vor dem Obergericht versöhnten sich die Ehegatten und wollten ihre Ehe fortsetzen. Doch das Obergericht beschied ihnen, ihre Versöhnung erfolge prozessual zu spät. Sie würden nun zwangsweise geschieden (BGE 5A_538/2011). Auch in diesem Fall hatten Formalismus und lösungsfeindliches Denken obsiegt.
Wo also bleibt das römische Recht als Plattform für den heutigen Juristen, sein eigenes Denken zu schärfen und Methoden zur Lösung neuer Probleme zu erlernen?
Prozessuale Tricks bringen mehr als gute Argumente
Zur übertriebenen Formalisierung des Rechtsweges hat die neue Zivilprozessordnung von 2011 das Ihre beigetragen. Sie verschaffte der gerichtsbestimmten Konfliktlösung in alten Mustern und Formeln zusätzlichen Auftrieb. Wer sein Recht durchsetzen will, braucht ein dickes Portemonnaie, starke Nerven und vor allem einen sehr langen Schnauf. Auf Zuteilungsverfügungen folgen Kautionsverfügungen und Editionsverfügungen. Bis sich ein Gericht ein erstes Mal inhaltlich mit einem Fall befasst, kann locker ein halbes Jahr verstreichen. Und dann geht es los mit Behauptungslasten, Substanziierungspflichten und Beweisauflagen. Anwaltskanzleien unterhalten Litigation-Abteilungen, weil sie wissen, dass sie Prozesse nicht in erster Linie mit guten, sachlichen Argumenten, sondern hauptsächlich mit prozessualen Tricks gewinnen können.
Doch was heisst in einem Gerichtsverfahren schon Gewinnen? Man beachte die vorerwähnten Beispiele! Auch aus dem römischen Recht sind Prozesse bekannt, in denen Kläger an Substanziierungslasten scheiterten, obwohl das Gericht den wahren Sachverhalt kannte. Die Anwaltsverbände geben keinerlei Gegensteuer gegen die immer lösungsfeindlichere Formalisierung des Rechtswegs. Sie fördern Fachausbildungen, aus denen hochspezialisierte Rechtstechniker hervorgehen, die sich nur wenig für die psychologischen und soziologischen Aspekte eines Konfliktes interessieren.
Nicht nur die Universitäten und die an Formalien orientierten Gerichte tragen eine Mitschuld an der zunehmenden Formalisierung des Rechtswegs. Eine ausser Kontrolle geratene Gesetzesflut durchdringt das Leben mehr und mehr. Die eidgenössische Gesetzessammlung umfasst Tausende von Seiten, und jedes Jahr kommen ein paar Tausend Seiten dazu. Darunter zum Beispiel die «Verordnung über die Unterstützung des Beratungs- und Gesundheitsdienstes für Kleinwiederkäuer» (SR 916.405.4). Zusätzlich hat die Schweiz über 5000 Staatsverträge unterschrieben. Einzig studierte Juristen finden noch einen Weg durch den Paragrafendschungel. Der Durchschnittsbürger versteht nur noch Bahnhof, ausserhalb und innerhalb der Gerichtswelt. Und das ist eigentlich nicht zum Lachen. Lost in Translation, lost in der Juristokratie.
Die Juristokratie verkennt den Wandel der Zeit
Was wäre zu tun? Dringend geboten wäre eine massive Förderung von neuen Konfliktlösungsmodellen und alternativen Konfliktlösungsmethoden, im anglo-amerikanischen Rechtsgebiet schon längst als ADR (Alternative Dispute Resolution) bekannt und auch bewährt. Die rechtswissenschaftlichen Fakultäten müssten nicht nur rechtshistorisches, sondern auch lösungsorientiertes Denken schulen und vermehrt Vorlesungen in Mediation, Collaborative Law etc. anbieten – im aktuellen Vorlesungsverzeichnis nicht auffindbar. Doch wie Konflikte überhaupt entstehen – eine Voraussetzung für rechtliche Interventionen – und wie sie eskalieren können, wird nicht doziert. Immerhin hat die Mediation Eingang in die Zivilprozessordnung gefunden. Aber sie fristet da ein Schattendasein. In vielen Konflikten, selbst in solchen, die ein staatliches Urteil erfordern, namentlich in Familiensachen, könnten die Behörden den Konfliktparteien eine Mediation empfehlen oder sogar eine Mediation anordnen. Doch sie tun es nicht, weil sie ihr eigenes Gärtchen pflegen wollen. Sie übersehen oft, dass sie zum Beispiel dem Scheitern einer Liebesheirat nicht in erster Linie mit der technischen Aussonderung von Eigengut (Actio rei uxoriae) gerecht werden können. Erfreulich ist daher der Vorstoss von Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (CVP), jedem Scheidungsverfahren nach dem australischen Modell ein obligatorisches Mediationsverfahren vorzuschalten. Damit könnten nicht nur die Konfliktparteien, sondern auch der Staat – mithin der Steuerzahler – viel Geld sparen.
Fazit: Die Rechtswelt hinkt dem Wandel der Zeit nicht nur weit hinterher, sie verkennt ihn weitgehend. Die Studenten erlernen kaum neue Methoden der Konflikt- und Problemlösung. Und die Juristokratie foutiert sich um sie, soweit sie ihr überhaupt geläufig sind. Wie lange wollen wir noch an einem zweitausendjährigen Konfliktlösungsmodell festhalten?