Für viele ist hier Endstation. Eine glatte Betonmauer umschliesst die Strafanstalt Pöschwies. Auch Thomas Noll, 43, «Chef Vollzug», hat wenig Handlungsfreiheit: Von rechts drückt der Vorwurf der Kuscheljustiz, von links die Kritik an zunehmender Härte im Umgang mit den Gefangenen.
Er hat 112 Aufseher unter sich, die für 452 Insassen verantwortlich sind. Über ihm steht nur Direktor Ueli Graf. Er selbst sieht die Insassen nur an den seltenen «Audienzen». Normalerweise sind es Nolls Mitarbeiter, die den Kontakt mit den Gefangenen pflegen. «Wir sind uns alle bewusst: Das Machtgefälle hier drin ist gewaltig», sagt Noll ernst und kaut seinen Kaugummi, der die Eingangskontrolle trotz Verbotsschild passiert hat.
«Recht habe ich aus Not studiert», erzählt der Neffe des Strafrechtlers Peter Noll. Erst bei einer Vorlesung von Volker Dittmann habe er seine eigentliche Berufung - die forensische Psychiatrie - gespürt. Und folgte ihr mit der ihm eigenen Konsequenz. Heute ist Noll promovierter Jurist und gleichzeitig Psychiater.
Diese Personalunion gefällt nicht allen. Noll sieht in seiner Doppelqualifikation kein Problem:«Ich selbst habe keinen psychiatrischen Kontakt zu den Insassen. Ich bin aber der Meinung, dass unsere Psychiater die Justiz über relevante Hinweise zur Rückfallgefahr eines Insassen informieren müssen.»
Auch in der forensisch-psychiatrischen Abteilung von Pöschwies sind die Grenzen zwischen Psychiatrie und Justiz fliessend. Noll war massgeblich am Aufbau dieser Abteilung für stationäre therapeutische Massnahmen an Sexual- und Gewaltstraftätern beteiligt. «Wir praktizieren dort das Tandem-Prinzip: Je ein Therapeut und ein Aufseher betreuen zusammen einen Insassen», erklärt Noll begeistert. «Das führt zu interessanten Entwicklungen: Psychologen machen Zellenkontrollen und Aufseher therapieren mit.» Nolls Anliegen ist, dass dieser Geist des Austauschs auch auf die restliche Anstalt übergreift.
Noll besteht darauf, dass die Aufseher «deliktrelevante» Vorfälle dokumentieren. Was genau «deliktrelevant» ist, führt unter den Insassen zu «Unsicherheit und manchmal sogar Angst», sagen die Gefangenenseelsorger. Unklar eingesetzt, könne der Begriff zu «einem unangebrachten Machtmittel» werden. Andere werfen dem Vollzugschef vor, die Macht des Wissens auszuspielen und aus ungebührlichem Verhalten legalprognostische Schlüsse zu ziehen. Noll wehrt die Kritik ab: «Wir bezeichnen Handlungen nur als deliktrelevant, wenn sie es offensichtlich sind.» Also wenn etwa ein Gewaltstraftäter einem Mitgefangenen die Faust ins Gesicht schlägt. Klar ist, dass ein «deliktrelevanter» Verstoss in Disziplinarverfügungen erwähnt wird und sich verschärfend auswirken kann.
Die Pflicht zu ausführlichen Aktennotizen soll den Insassen Rechtsstaatlichkeit garantieren und den Mitarbeitern mehr Verantwortung geben. «Es ist zwar eine Mehrbelastung, aber die Mitarbeiter haben so direkt Einfluss auf den Führungsbericht», sagt Noll. Nur: Im Vergleich zu Prognoseinstrumenten wie Fotres, mit denen Experten das Rückfallrisiko und die Therapierbarkeit eines Täters einschätzen, hat der Führungsbericht an Bedeutung verloren. «Ergibt ein gut validiertes Prognoseinstrument ein deutliches Rückfallrisiko, kann kein noch so guter Führungsbericht allein es kippen», räumt Noll ein. Für den Zögling von Frank Urbaniok kein Problem: «Ich bin ein Fan von Prognoseinstrumenten.» Zusammen mit einer objektiven Einschätzung seien sie der Intuition von Spezialisten bezüglich Treffsicherheit deutlich überlegen.
Nolls erzieherische Mission für die Insassen ist, dass sie Konsequenz lernen. Sein bubenhafter Charme weicht für einen Moment dringlichem Ernst: «Das hat nichts mit Härte zu tun.» Sie müssten lernen, «die Folgen ihrer Handlungen zu tragen und selbst in ihren Handlungen konsequent zu sein». Noll führte deshalb ein, dass selbst verbale Drohungen konsequent mit Arrest bestraft werden. Nach einem Jahr nahm die Zahl der Arreste von 39 auf 76 zu. Inzwischen ist sie wieder auf 43 gesunken, «und das nicht, weil wir permissiver geworden wären», betont Noll, «sondern weil die Gewalt tatsächlich zurückgegangen ist». Für den Beitrag zur internen Sicherheit zollt ihm sein dienstälterer Kollege Hans-Jürg Baumann Respekt: «Er hat uns für das Thema sensibilisiert und den wissenschaftlichen Aspekt vermehrt eingebracht.»
Umgekehrt sprechen Kritiker von einer «Kasernenmentalität», die Noll in Pöschwies eingeführt habe. Auch die Medien reagierten mit Unverständnis, als Noll den Gefangenen 2008 verbot, beim Fussballspiel unter der kurzen Sporthose lange Unterhosen zu tragen. Der Rekurs der Insassen war erfolgreich. Das Zürcher Verwaltungsgericht meinte damals: «Dass die Insassen durch die Kleidervorschriften auf ein Leben in der Freiheit vorbereitet würden, vermag in keiner Weise zu überzeugen.» Noll, selbst in Anzug und Krawatte, sagt rückblickend: «Wir haben damals wohl überreagiert, heute wär ich gelassener.»
Noll ist überzeugt: «Menschen werden mit zunehmender Verantwortung besser.» Mit den Insassen passiere das Gegenteil. «Sie werden naturgemäss bis zu einem gewissen Grad entmündigt, was eine Besserung erschwert.» Auch hier verlässt sich Thomas Noll auf Zahlen: «Statistisch gesehen verbessert sich die Legalprognose vor allem bei jenen, die eine deliktorientierte Therapie machen.» Bei den übrigen siebzig Prozent der Insassen wird die Chance, dass sie sich künftig an das Gesetz halten werden, durch eine lange Strafe oft sogar schlechter.
Trotzdem ist der Vollzug strenger geworden. Die Insassen werden auch bei guter Führung nicht mehr nach zwei Dritteln der Strafe entlassen. Zu streng, meint Noll: «Das Problem ist, dass die Politik die Schrauben im aktuellen politischen Klima flächendeckend anzieht. Im vorhandenen Freiraum versuchen wir zu individualisieren.» Welchen Anreiz hat Noll überhaupt, einem Insassen eine positive Empfehlung zu geben? «Die Kosten», antwortet der calvinistisch erzogene Noll und erklärt ausführlich, wie viel ein Insasse pro Tag den Steuerzahler kostet: 300 bis 600 Franken, je nach Abteilung. Und dann fügt er an: «Und vor allem die Gerechtigkeit.»
Wenn er die Gefängnismauern hinter sich lässt, kann Thomas Noll gut abschalten. Das habe er als Arzt auf der Notfallstation gelernt. Pöschwies hingegen lehrte ihn vor allem eins: «Man kann nicht so viel verändern, wie ich anfangs dachte.»