Letzten Sommer stand die Strafjustiz vor dem Zusammenbruch. Nicht wegen Hitze, sondern wegen Überlastung. Dieser Eindruck entstand, wenn man Tamedia-Zeitungen las («Tages-Anzeiger», «Basler Zeitung»). «Überlastete Strafverfolger: Schweizer Justiz vor dem Kollaps», lautete der Titel eines im Juli publizierten Artikels, dem anschliessend noch andere im gleichen Tenor folgten. Andere Verlage zogen nach. Inzwischen scheint in der Öffentlichkeit das Bild vorzuherrschen, dass die Staatsanwaltschaften der Schweiz von der hohen Falllast erdrückt werden und nur mit Mühe funktionsfähig gehalten werden können.
Die vielen Artikel zum Thema liefern verschiedene Erklärungen für die angebliche Systemüberlastung. Viel Raum wird neben dem Bevölkerungswachstum den «deutlich ausgebauten» Rechten von Beschuldigten und «zu vielen Beschwerdemöglichkeiten» eingeräumt. Als Kronzeuge wurde immer wieder der Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth ins Feld geführt, der die Situation ebenfalls als «dramatisch» bezeichnete.
Gegenüber plädoyer ziehen viele Strafverteidiger die Darstellung der Staatsanwaltschaften in Zweifel. Sie glauben nicht, dass die Überbelastung so gross ist wie behauptet. Und sie führen einen Grossteil der Arbeitslast auf eine fehlgeleitete Strafpolitik zurück. «Seit ich mich erinnern kann, beklagen sich sowohl die Polizei als auch die Staatsanwälte in der Schweiz über zu wenig Personal», sagt Matthias Brunner, der seit über 30 Jahren als Strafverteidiger in Zürich tätig ist.
Politiker reagieren mit höheren Stellenbudgets
Diese Klagen kennt auch Konrad Jeker. Er ist Strafverteidiger mit über 30 Jahren Berufserfahrung, führt eine Kanzlei in Solothurn und betreut Fälle aus der ganzen Schweiz. Der Ruf der Strafverfolger nach mehr Ressourcen werde durchaus gehört: «Ich beobachte, wie die Politik in Solothurn wegen angeblicher Überbelastung der Staatsanwaltschaften ständig neue Stellen spricht.»
Tatsächlich ist das Personalbudget in den letzten Jahren in allen grösseren Schweizer Staatsanwaltschaften gewachsen. Das Personal aller Zürcher Staatsanwaltschaften etwa stieg von 378 Angestellten im Jahr 2013 gemäss Geschäftsbericht auf 472 per Ende 2022 – das sind fast 100 Mitarbeiter mehr. Einen Anstieg gab es auch im Kanton Bern: Von 281 im Jahr 2012 auf 366 im 2022. Im Kanton Aargau wurde die Anzahl Stellenprozente in den letzten sechs Jahren um 13,4 Prozentpunkte erhöht, Zahlen für die Zeit vor 2017 fehlen.
Personalbestand wächst schneller als Zahl der Fälle
Dieser Anstieg scheint in keinem Zusammenhang mit der Anzahl Fälle zu stehen: In Zürich lag die Zahl der Eingänge im Jahr 2012 mit 30 734 Geschäften gar höher als im Jahr 2022 mit 30'434 Eingängen. Die Medienstelle der Oberstaatsanwaltschaft schreibt dazu, die Zahlen aus den Jahren bis 2016 würden sich «aufgrund eines Systemwechsels nicht direkt» mit den Zahlen der folgenden Jahre vergleichen lassen. Die Tamedia-Zeitungen stützen sich in ihrem Artikel vom Juli auf die «Zahl der Pendenzen», die angestiegen seien, ohne Zahlen zu nennen.
Warum die Staatsanwaltschaften gesamthaft mehr zu tun haben sollten als früher, kann sich Konrad Jeker nicht erklären. Schliesslich hätten die Staatsanwälte seit dem Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung im Jahr 2011 eine Strafbefehlskompetenz. «95 Prozent aller Verfahren werden alljährlich mit Strafbefehl erledigt. Die Strafverfahren wurden damit massiv vereinfacht – gesellschaftliche Veränderungen und Bevölkerungszuwachs hin oder her», sagt er.
Auch in der Lehre wird das vorherrschende Bild chronisch überlasteter Strafverfolgungsbehörden zurückhaltender gezeichnet. So führt etwa der Zürcher Strafrechtsprofessor Marc Thommen aus: «Ob die Strafverfolgungsbehörden überlastet sind oder falsche Prioritäten setzen, ist von aussen schwierig zu beurteilen.»
Ziehen manche Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger den Befund «Überbelastung» in Zweifel, so gilt das erst recht für die zuletzt kolportierten Hauptgründe für eine angeblich hohe Arbeitslast. Gemäss Matthias Brunner hat diese jedenfalls nicht mit ausgebauten Beschuldigtenrechten oder Formalismen zu tun, sondern mit einer «zunehmenden Instrumentalisierung des Strafrechts zu migrations-, sicherheits- und sozialpolitischen Zwecken».
Schaffung einer neuen «Kriminalitätsklientel»
Als Beispiele nennt Brunner neu eingeführte Straftatbestände wie den unrechtmässigen Bezug von Sozialleistungen im Sinne von Artikel 148a StGB oder die politisch gewollte Kriminalisierung von Ausländern. Er spricht von einer «Konstruktion von Kriminalität». Vor allem unter Minderprivilegierten sei eine neue Kriminalitätsklientel geschaffen worden.
Im Jahr 2022 entfielen von 103'156 Strafurteilen 15'355 auf Verstösse gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Über 13'000 davon ergingen wegen eines Verstosses gegen Artikel 115 AIG: die rechtswidrige Ein- oder Ausreise, der rechtswidrige Aufenthalt und die Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung. «Die Betroffenen haben nichts verbrochen, ausser in der Schweiz zu sein», sagt Brunner. Zuletzt wurde das AIG weiter verschärft: Konnte der Tatbestand «Förderung der rechtswidrigen Ein und Ausreise sowie des rechtswidrigen Aufenthalts» (Artikel 116 AIG) bis im Juli in leichten Fällen noch mit Busse geahndet und als Übertretung behandelt werden, so ist dies neu nicht mehr möglich.
Und seit 2016 die obligatorische Landesverweisung ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde, gehe es für die Betroffenen um viel. «Die Migrationsfälle sind nicht selten komplex und dauern lange», sagt die Berner Anwältin Melanie Aebli. «Auch die Strafbehörden müssen sich nun mit dem Migrationsrecht und den Situationen in den jeweiligen Ländern auseinandersetzen.»
Staatsanwaltschaften mit «Hang zum Übereifer»
Gleichzeitig sagt Aebli, dass im Umgang mit Migrationsdelikten ein grösserer Verfolgungswille herrsche als vor zehn Jahren. Ausdruck davon ist zum Beispiel ein Passus in den Weisungen der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren: Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz seien «keine Bagatelldelikte» und «konsequent zu verfolgen» heisst es dort (plädoyer 5/2022).
Konrad Jeker ortet bei Staatsanwaltschaften generell den Hang zum Übereifer. «Es ist kein Augenmass vorhanden. Fast jede Bagatelle mündet in einem Strafbefehl», sagt er. Er habe gar aus bestimmten Kantonen vernommen, dass dort die Weisung gelte, wonach alles, was die Polizei der Staatsanwaltschaft weiterleitet, zu einem Strafbefehl führen müsse. Zudem drängen laut Aebli auch die kantonalen Migrationsämter regelmässig auf Strafverfolgungen.
Auch die Politiker entscheiden massgeblich, womit sich die Strafverfolgung befassen muss. Nicht nur auf Bundesebene, wenn es um neu geschaffene Straftatbestände geht. Sondern auch in den Kantonen, wo Sicherheitsdirektoren und die Polizei ihre Schwerpunkte setzen. «Welche Delikte wie hartnäckig verfolgt werden sollen, wo in der Strafverfolgung Geld und Ressourcen investiert werden – das sind in der Regel politisch beeinflusste Entscheide», sagt der Basler Strafverteidiger Alain Joset.
Überforderte Basler Strafverfolger
Josets Hauptwirkungsstätte, der Kanton Basel-Stadt, taugt vor diesem Hintergrund als Anschauungsbeispiel. Hier klingen die Hilferufe der Staatsanwaltschaft besonders verzweifelt: Die Aufsichtskommission spricht in einem Bericht vom Juni von einer strukturellen Überlastung mit «Auswirkungen auf die Gesundheit einzelner Mitarbeiter», und rechnet mit weiteren Ausfällen und Kündigungen. Sie bringt gar die «Anstellung von erfahrenem Personal, zum Beispiel pensionierten Mitarbeitern», ins Spiel, um die Pendenzen abbauen zu können.
Als Grund für die Überlastung nennt der Medienverantwortliche der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt «vorab die in der Rechtsprechung starke Tendenz zur Formalisierung des Strafprozesses», die mit der Einführung der nationalen Strafprozessordnung Einzug gehalten habe. Zudem seien «die Rechte der Beschuldigten und der Opfer in den letzten zehn Jahren stetig ausgebaut» worden. Und mit jedem Ausbau der Verfahrensrechte würden die Strafverfahren formalistischer.
Gemäss Strafverteidiger Joset sind die Gründe für eine hohe Arbeitslast hausgemacht: «In Basel-Stadt werden Sans Papiers, die sich regularisieren, systematisch strafrechtlich verfolgt», sagt er. Und auch Demonstrationen würden seit einigen Jahren übermässig kriminalisiert – und auf diese Weise Massenfälle geschaffen.
Prominentestes Beispiel ist der «Basel nazifrei»-Komplex, in welchem mehr als 40 Verfahren gegen Demoteilnehmer angestrengt wurden. Aber auch anlässlich von Klimademonstrationen oder gar dem bewilligten 1.-Mai-Umzug kam es zuletzt zur Verhaftung zahlreicher Teilnehmer und anschliessenden Strafverfahren.
Basel-Stadt ist der einzige Kanton, in dem die Kriminalpolizei in die Staatsanwaltschaft integriert ist. «Die Strafuntersuchung wird von Polizisten geführt, erst spät im Verfahren wechselt der Fall zu einem Staatsanwalt. Dieser muss sich dann einlesen und über Anklage oder Einstellung entscheiden.» Diese Handwechsel sind laut Joset weder effizient noch mit der Strafprozessordnung vereinbar. Sein Kollege Konrad Jeker teilt diese Einschätzung aus eigener Erfahrung. Der Grosse Rat überwies im Sommer eine Motion für die Ausgliederung der Kriminalpolizei aus der Staatsanwaltschaft.
Sind sich die meisten Strafverteidiger in der Problemanalyse einig, so bestehen unterschiedliche Ansichten bei den Lösungsansätzen. So regte etwa Thomas Fingerhuth in den Medien einen runden Tisch zur Problemlösung an. Matthias Brunner entgegnet: «Für mich als Strafverteidiger ist nicht die möglichst effiziente, sondern die möglichst faire Strafjustiz ein Anliegen.»
Konrad Jeker sieht Spielraum für eine Verbesserung von Strafverfahren, von der alle Seiten profitieren würden: «Weniger Teilnahmerechte im Vorverfahren, dafür mehr Unmittelbarkeit im Hauptverfahren.» Er bezweifelt aber, dass ein entsprechender Ansatz auf offene Ohren stossen würde. Es fehle dafür am politischen Willen.