Die schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) trat 2011 in Kraft. Mit ihr wurde in der ganzen Schweiz eine Kostenvorschusspflicht eingeführt. Das hatte Folgen: In Kantonen wie Zürich, wo vor Inkrafttreten der ZPO bloss ausnahmsweise eine Kostenvorschusspflicht bestand, sind in den letzten drei Jahren viel weniger Zivilprozesse bei den Gerichten eingegangen. In Kantonen, die bereits eine Kostenvorschusspflicht kannten, blieb die Zahl der Zivilfälle dagegen weitgehend konstant. Das zeigt eine Erhebung von plädoyer bei verschiedenen Kantonen.
Beispiel Kanton Zürich: Gingen 2010 bei den Bezirksgerichten noch 934 Fälle bei Kollegialgerichten ein, waren es 2013 bloss noch 388. Dies entspricht einem Rückgang von 58,5 Prozent innerhalb bloss dreier Jahre (siehe Tabelle Seite 75). Bei den erstinstanzlichen Einzelrichterfällen im ordentlichen Verfahren sanken die eingegangenen Fälle ebenfalls: 2010 gingen noch 7333 Fälle ein, 2013 waren es bloss noch 5145 – fast ein Drittel weniger.
Höhere Hürden für weniger gut Betuchte
Diese Zahlen belegen, dass der Kostenvorschuss hemmend auf die gerichtliche Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche im Kanton Zürich wirkt, sprich: den Zugang zur Justiz erschwert. Vor allem für den Mittelstand und für Leute, die keine unentgeltliche Prozessführung beantragen können, da sie nicht am Rand des Existenzminimums leben, scheint der Gang vor Gericht merklich erschwert, sind es doch gerade die Streitigkeiten mit einem tiefen Streitwert, die kaum mehr ausgefochten werden.
Diesen Befund bestätigt Isaak Meier, Professor für Zivilprozessrecht an der Universität Zürich: «Die allgemeine Kautionspflicht, wie sie die ZPO vorsieht, stellt für die Rechtsuchenden im Kanton Zürich eine im Vergleich zum alten Recht wesentliche Erschwerung der Rechtsverfolgung dar.»
plädoyer hat die entsprechenden Fallzahlen auch für die Kantone Aargau, Bern und St. Gallen erhoben. Resultat: In keinem der untersuchten Kantone kam es zu einer so drastischen Reduktion von Zivilprozessen wie im Kanton Zürich, die Fallzahlen waren konstant oder sogar steigend. Dies liegt daran, dass in diesen Kantonen bereits vor dem Inkrafttreten der ZPO eine Kostenvorschusspflicht des Klägers bzw. eine dieser ähnliche Pflicht bestand.
Kantone haben viel Spielraum
Gemäss Artikel 98 ZPO kann das Gericht von der klagenden Partei einen Kostenvorschuss in der mutmasslichen Höhe der Gerichtskosten verlangen. Dabei handelt es sich um eine Kann-Vorschrift. In der Praxis wird aber kaum je auf einen Vorschuss verzichtet. Die ZPO schreibt auch nicht vor, ob die gesamten mutmasslichen Gerichtskosten vorzuschiessen sind. Die Gerichte können die Höhe der Vorschüsse faktisch nach Belieben ansetzen.
Das zeigt auch eine Stichprobe in verschiedenen Kantonen: Vergleicht man die durchschnittliche Höhe der Gerichtkostenvorschüsse in den vier Kantonen Aargau, Bern, St. Gallen und Zürich, fallen die grossen Unterschiede auf. Im Kanton Aargau verlangen die Gerichte am wenigsten, in St. Gallen am meisten (siehe Tabelle links). Im Kanton Bern sind die Vorschüsse dagegen generell auch eher hoch, im Kanton Zürich durchschnittlich.
Prozesskostenrisiko liegt neu beim Kläger
Neben der Pflicht zum Gerichtskostenvorschuss hat der Kläger seit dem Inkrafttreten der ZPO ein weiteres Prozesshindernis zu verkraften: Er muss in jedem Fall die Gerichtskosten bezahlen – egal ob seine Klage erfolgreich ist oder nicht. Obsiegt er, wird das Gericht zwar die beklagte Partei zur Zahlung der Gerichtskosten verpflichten, das Geld aber beim Kläger holen. Dieser muss die Summe beim Prozessverlierer einfordern. Ist dieser nicht zahlungsfähig, bleiben die Prozesskosten trotz erfolgreicher Klage beim Kläger hängen.
Rechtsanwalt Arnold Rusch, Privatdozent für Privat- und Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich, sagt unumwunden: «Es ist ein Unding, dass man die Gerichtskosten vorschiessen muss und auch noch das Risiko trägt, dass die Gegenpartei insolvent ist.»
Laut Isaak Meier trägt diese Neuverteilung des Prozesskostenrisikos ebenfalls ihren Teil zum Rückgang der Zivilfälle bei. Er fordert deshalb, dass Zivilprozesse verbilligt werden müssen: «Zivilverfahren sind in der Schweiz nämlich viel teurer als zum Beispiel in Deutschland.»
Laut Meier müsste man auch über eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs der unentgeltlichen Prozessführung nachdenken. Diese sei heute sehr eingeschränkt und stehe nur Personen zur Verfügung, die unter oder am Rand des Existenzminimums leben würden. Auch das Bundesgericht sei nämlich der Ansicht, die unentgeltliche Prozessführung müsse je nach finanziellen Möglichkeiten abgestuft werden. Diesen Prinzipien werde aber in der Praxis kaum je nachgelebt. Meier: «Hier müsste der Gesetzgeber klare Richtlinien vorgeben.»
Im pdf-Anhang findne Sie folgende Tabellen:
- Durchschnittliche Gerichtskostenvorschüsse im Vergleich
- Anzahl eingegangener Zivilfälle von 2010 - 2013