Letzten März hat der Bundesrat seinen Vorentwurf für eine revidierte Zivilprozessordnung in die Vernehmlassung geschickt. In diesem schlägt er über ein Dutzend Änderungen vor (plädoyer 2/2018). Wichtige Neuerungen betreffen die Kosten. Zum einen sollen die Prozesskostenvorschüsse künftig halbiert werden. Zum andern soll die klagende Partei nicht mehr für die Kosten aufkommen müssen, wenn sie obsiegt. Seit der Einführung der schweizerischen Prozessordnung im Jahr 2011 musste die klägerische Partei in jedem Fall die Kosten bezahlen. Ist die unterliegende beklagte Partei zahlungsunfähig, muss die Klägerschaft die Gerichtskosten damit trotz erfolgreichem Prozess selbst bezahlen. In Zukunft soll sich das Gericht für die Gerichtskosten ausschliesslich an die unterliegende Partei halten müssen.
Nur zwei Kantone dafür: Aargau und Ausserrhoden
Die meisten Kantone sprachen sich gegen diese Änderung aus. Sie befürchten höhere Kosten. Ausnahmen: Der Aargau und Appenzell Ausserrhoden begrüssen die Revision im Kostenpunkt. Für beide Kantone schaffen die heutigen hohen Kostenvorschüsse eine Ungleichbehandlung, die es zu beseitigen gilt.
Den Neuerungen gegenüber kritisch eingestellt ist der Schweizer Verband der Handelsrichter: Nur noch die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten als Vorschuss zu verlangen, stehe im Widerspruch zur Aufklärungspflicht über die Kosten. «Der hohe Vorschuss führt der Partei nämlich vor Augen, wie hoch das Risiko ist, das sie mit dem Prozess eingeht.» Es sei nicht ersichtlich, weshalb einer Partei geholfen sein solle, wenn sie Gerichtskosten erst im Nachhinein statt zum Voraus zu tragen habe.
Das Schaffhauser Obergericht weist auf einen weiteren Kostentreiber der schweizerischen Zivilprozessordnung hin: Auch die Anwaltskosten und die drohende Parteientschädigung für die Gegenpartei seien gestiegen – wegen der erhöhten Anforderungen an die Substanziierung und die Beweismittelnennung in den Rechtsschriften. «Auch ist der Beizug eines Anwalts heute vermehrt erforderlich, damit die prozessualen Anforderungen überhaupt erfüllt werden können.»
Die Anwaltsverbände begrüssen die Neuerung beim Vorschuss und dem Inkasso der Gerichtskosten. Der Advokatenverein Zug schreibt, die zu leistenden Prozesskostenvorschüsse hätten auch in der «sozialen» Gerichtsbarkeit eine Höhe erreicht, die es den Parteien mit kleinen und mittleren Einkommen teilweise verunmöglichen würden, ein Gerichtsverfahren einzuleiten. Zudem würden mit einer Eintreibung der geschuldeten Prozesskosten wiederum Kosten für die obsiegende Partei anfallen. «Das kann nicht dem Grundgedanken der Bestimmung über die Auferlegung der Prozesskosten entsprechen, soll doch die obsiegende Partei nicht für das Beschreiten des Rechtswegs bestraft werden.»
“Gerichtskosten maximal 15 Prozent des Streitwerts”
Für die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) gehen die Neuerungen zu wenig weit: Eine Halbierung der Kostenvorschüsse löse das grundsätzliche Problem des verhinderten Zugangs zum Gericht nicht. «Die Höhe der Gerichtskosten muss allgemein sinken.» Sie dürften insgesamt 15 Prozent des Streitwertes vor erster Instanz nicht überschreiten – und im Rechtsmittelverfahren seien sie mindestens auf die Hälfte zu reduzieren. Keinen Kostenvorschuss sollten die Gerichte gemäss den DJS im vereinfachten Verfahren verlangen dürfen.
Thomas Sutter-Somm, Christoph Leuenberger und Benedikt Seiler sind die Herausgeber des ZPO-Kommentars aus dem Schulthess-Verlag. Auch sie befürworten einen Vorschuss von maximal der Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten. Der Vorschlag entspreche dem damaligen Expertenentwurf für die schweizerische Prozessordnung. Er ging 2003 in die Vernehmlassung und wurde bereits damals insbesondere von den Kantonen vehement bekämpft. Auch die Änderung bei der Liquidation der Prozesskosten begrüssen die drei Juristen. «Es ist an sich richtig, dass der Kanton das Inkassorisiko nicht auf die vorschiessende, aber im Entscheid kostenbefreite Partei überwälzen soll.» Die drei Herausgeber führen aus, auch diese Änderung entspreche dem ursprünglichen Expertenentwurf. «Mit der Rechnungsstellung und dem Inkassorisiko würden den Kantonen zweifellos Mehraufwendungen entstehen.» Die Frage sei aber, ob diese im Interesse des Zugangs zum Gericht in Kauf genommen werden sollten.
Ausweitung der Verbandsklage ist umstritten
Neben den Kosten ist der kollektive Rechtsschutz der wichtigste Teil der Revision der Zivilprozessordnung. Der Bundesrat will den Anwendungsbereich der Verbandsklage ausdehnen. Im geltenden Recht ist sie nur im Persönlichkeitsrecht möglich. Neu sollen auch finanzielle Ansprüche darunterfallen (Schadenersatz oder Gewinnherausgabe).
Die Prozessordnung soll zudem um ein Verfahren für Gruppenvergleiche ergänzt werden. Schädiger und Geschädigte, die durch eine oder mehrere Organisationen vertreten werden, sollen sich darauf einigen können, ihre Auseinandersetzung vergleichsweise zu regeln und dem zuständigen kantonalen Gericht zur Genehmigung und Verbindlicherklärung vorzulegen. Ein solcher Gruppenvergleich ist für sämtliche betroffenen Personen bindend – mit der Option, innerhalb einer festgelegten Frist austreten zu können.
Die Konsumentenverbände befürworten diese Verbesserungen des kollektiven Rechtsschutzes – die Wirtschaftsverbände sind unisono dagegen. Economiesuisse erklärt, die vorgeschlagenen Instrumente zur kollektiven Rechtsdurchsetzung seien «in unserem Rechtssystem artfremd, unerprobt und stellen damit ein Experiment dar». Und sie könnten «sowohl das Rechtssystem wie auch den Rechtsfrieden langfristig destabilisieren». Auch die Swisscom nahm am Vernehmlassungsverfahren teil und lehnte alle Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes deutlich ab.
Gleich lässt sich der Schweizerische Versicherungsverband vernehmen: «Es besteht die Gefahr, dass nach amerikanischem Modell mit fragwürdigen Motiven nach Betroffenen gesucht und unnötige Verfahren provoziert werden.» Auch der Hauseigentümerverband lehnt Gruppenverfahren und Verbandsklagen als «Fremdkörper im Schweizer Zivilprozessrechtssystem» ab. Dadurch würden die Haftungsrisiken für die Rechtsunterworfenen erheblich steigen.
Auch die Dachorganisation der Schweizerischen Bauwirtschaft will die Verbandsklage nicht ausdehnen. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb sie nicht mehr auf Persönlichkeitsverletzungen beschränkt werden solle. Massenklagen würde «Tür und Tor geöffnet. Das Prozess- und Haftungsrisiko für die Unternehmen würde enorm erhöht.»
Ins selbe Horn stösst der Verband Creditreform. Ohne Not werde eine enorme Rechtsunsicherheit für die Wirtschaft geschaffen. Die Absicht, den als David wahrgenommenen Konsumenten gegen Goliath zu unterstützen, klinge ja edel. Der Revisionsvorschlag dürfte allerdings lediglich bewirken, dass David und Goliath künftig die Rollen tauschen – nicht jede Firma habe die finanziellen Reserven eines Grossunternehmens. Im Gegensatz zu den Wirtschaftsverbänden ist der Schweizerische Anwaltsverband (SAV) für die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Verbandsklage. «Sie könnte den Zugang zur Justiz fördern.» Die Bestimmungen zur Verbandsklage sollten laut SAV mit jenen zu den Gruppenvergleichen verknüpft werden und eine Einheit bilden. Auch die DJS begrüssen die Erweiterung und Ergänzung der Verbandsklage, namentlich die Schaffung eines Gruppenvergleichsverfahrens.
Parteigutachten als Beweismittel
Eine weitere wichtige Neuerung betrifft Parteigutachten. Sie sollen neu als Urkunden gelten und könnten so als Beweismittel im Prozess verwendet werden. Heute haben Parteigutachten den Stellenwert von Parteibehauptungen. Der SAV begrüsst diese Neuerung: «Sie präzisiert den Status und den Wert einer privaten Begutachtung.» Zudem erweitere sie tendenziell den Ermessensspielraum des Richters.
Anderer Ansicht sind die DJS: «Gewährt der Gesetzgeber dem Privatgutachten Beweiswert, schafft er Rechtsungleichheit.» Die finanziell potentere Partei könne nämlich jederzeit ihren Anspruch durch Privatgutachter nachweisen. «Eine Krankentaggeldversicherung kann so mit Hilfe des Vertrauensarztes ihren Anspruch weitaus besser nachweisen als der Geschädigte, der dieses Mittel nicht hat.»
Auch der langjährige Zürcher Handelsrichter Johann Zürcher warnt: «Die Neuerung würde zu einer Verkomplizierung, Aufblähung und massiven Verteuerung der Zivilprozesse führen.»
Der Ball liegt nun beim Bundesrat: Im ersten Halbjahr 2019 soll die Botschaft zur revidierten Zivilprozessordnung verabschiedet werden.