Meinungsverschiedenheiten zwischen Politik und Justiz können in manchen Ländern zu Staatskrisen führen. In der Schweiz scheinen die Verhältnisse klar: Bundesgesetze können vom Bundesgericht nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit hin überprüft werden. Und das höchste Gericht der Schweiz steht nicht im Ruf, mit seiner Rechtsprechung politische Weichen zu stellen.
Beim Lärmschutz allerdings sieht es aktuell so aus, als gäbe es einen Richtungskampf zwischen Bundesgericht und Bundesrat sowie Teilen des Parlaments. Lausanne fällte in den letzten Jahren mehrere wegweisende Urteile zu diesem Thema. Es gewichtete das Bedürfnis der Lärmbetroffenen stets hoch. Politiker geben Gegensteuer.
Gesundheitsschutz ausgehöhlt
Dass die Bevölkerung vor Lärm geschützt werden muss, lässt sich aus Artikel 74 der Bundesverfassung ableiten: Danach sorgt der Bund dafür, dass «schädliche oder lästige Einwirkungen» auf den Menschen und seine natürliche Umwelt vermieden werden. Der Bund hat gestützt darauf Lärmgrenzwerte in der Lärmschutzverordnung festgelegt. Und im Umweltschutzgesetz ist geregelt, wie in lärmbelasteten Gebieten gebaut werden muss – nämlich so, dass die Lärmgrenzwerte nicht überschritten werden. Gemessen wird Artikel 39 der Lärmschutzverordnung zufolge «in der Mitte der offenen Fenster lärmempfindlicher Räume».
Um dennoch an zentraler Lage vereinfacht bauen und verdichten zu können, legten einige Kantone – darunter Aargau und Zürich – diese Bestimmung im Sinne der von ihnen selbst eingeführten «Lüftungsfensterpraxis» aus. Die Grenzwerte mussten nicht bei jedem Fenster eingehalten werden. Bei lärmpfindlichen Räumen wie etwa Wohn- und Schlafzimmern oder Büros genügte ein Fenster, das man öffnen konnte, ohne dass die Grenzwerte überschritten wurden («Lüftungsfenster»).
Das Bundesgericht erklärte in einem Entscheid von 2016 zu einem Bauprojekt in Niederlenz AG die Lüftungsfensterpraxis für unzulässig. Artikel 39 der Lärmschutzverordnung verlange, dass die Immissionsgrenzwerte «an allen Fenstern lärmempfindlicher Räume» einzuhalten seien. Die Lüftungsfensterpraxis höhle den vom Gesetzgeber gewollten Gesundheitsschutz aus.
In seinem Urteil anerkannte das Bundesgericht einen Zielkonflikt zwischen dem Lärmschutz und der «raumplanerischen Siedlungsverdichtung nach innen». Er könne aber nicht über die Lüftungsfensterpraxis gelöst werden. Mittel der Wahl sollten vielmehr Ausnahmebewilligungen sein, die gemäss Lärmschutzverordnung gewährt werden können. Nämlich dann, wenn – trotz Überschreitung der Grenzwerte – «an der Errichtung des Gebäudes ein überwiegendes Interesse besteht».
Kantone zu grosszügig mit Ausnahmebewilligungen
In der Folge hatte sich das Bundesgericht mehrfach mit solchen Ausnahmebewilligungen zu befassen. Und immer wieder kam es zum Schluss, dass die kantonalen Behörden allzu grosszügig Ausnahmen gewährten. Unter anderem bei einem Projekt an der Bederstrasse in Zürich. Es sah eine Überbauung mit 124 Wohnungen vor – an lärmiger Lage. Wie zuvor schon das Verwaltungsgericht kam auch das Bundesgericht zum Schluss, dass mögliche Alternativen zur Ausnahmebewilligung nicht vertieft genug geprüft worden seien. Und dass keine Abwägung zwischen Lärmschutz und anderen Interessen vorgenommen worden sei.
Der Aufschrei in einigen Medien war nach dem Urteil gross: «Lärmschutz in Zürich: So kann es nicht weitergehen», titelte etwa der «Tages-Anzeiger» im Nachgang, «Der Lärmschutz vereitelt vernünftige Lösungen beim Bau von Wohnsiedlungen in der Stadt», die NZZ. Tenor: Die gewünschte Verdichtung und die Bekämpfung der Wohnungsknappheit in den Städten seien bei so strenger Umsetzung des Lärmschutzes nicht möglich.
Die nationale Politik hatte das Thema schon Jahre zuvor aufgegriffen, kurz nachdem das Bundesgericht die Lüftungsfensterpraxis gekippt hatte. In einer Motion forderte der Aargauer Nationalrat Beat Flach (GLP) eine Anpassung des Umweltschutzgesetzes und der Lärmschutzverordnung, um die Lüftungsfensterpraxis zuzulassen und gesetzlich festzuschreiben.
Ständeratskommission will Alarmwerte aushebeln
Im vergangenen Winter überwies der Bundesrat die Botschaft zur Änderung des Umweltschutzgesetzes. Der Entwurf setzt die Motion Flach um. Allerdings geht er über die Lüftungsfensterpraxis hinaus: So darf eine Baubewilligung bei überschrittenen Grenzwerten trotzdem erteilt werden, «wenn mindestens die Hälfte der lärmempfindlichen Räume über ein Fenster verfügt, bei dem die Grenzwerte eingehalten sind».
«Das heisst, es gäbe neu Räume, in denen an jedem Fenster die Grenzwerte überschritten werden dürfen – ohne dass das irgendwie kompensiert wird», sagt Rechtsanwältin Sophie Ribaut, Vorstandsmitglied der Lärmliga Schweiz. Ribaut spricht deshalb von einer «krassen Schwächung des Lärmschutzes» durch die neue Vorlage. Die Umweltkommission des Ständerats will sogar noch weiter gehen: Sie fügte die Bestimmung hinzu, wonach «mit einer kontrollierten Wohnraumlüftung die Grenzwerte am offenen Fenster nicht eingehalten werden müssen».
«Damit wären an lärmbelasteten Lagen nicht einmal die sehr hohen Alarmwerte einzuhalten», sagt Martin Looser, wie Ribaut Rechtsanwalt und im Vorstand der Lärmliga Schweiz. «Aber Wohnen findet nicht im abgeschlossenen Bunker statt. Eine minimale Aufenthaltsqualität muss auch der Aussenraum aufweisen, namentlich Balkone und Gärten», sagt er.
Die geplante Gesetzesänderung sieht er als Resultat einer falsch interpretierten Rechtsprechung: «Das Bundesgericht hat seine Praxis nicht verschärft. Es hat lediglich den Lärmschutz ernst genommen – und damit die Verfassung und das Gesetz.» Über eine Million Menschen seien in der Schweiz von Strassenlärm betroffen. Die negativen gesundheitlichen Folgen von Lärmbelastung seien durch mehrere Studien belegt: Kardiovaskuläre und psychische Erkrankungen, ein erhöhtes Risiko für Diabetes. Die negativen gesundheitlichen Auswirkungen von Lärm würden denn auch nicht bestritten, gerade vom Bund nicht. «Erst kürzlich kam die Eidgenössische Kommission für Lärmbekämpfung zum Befund, dass die Grenzwerte in der Schweiz deutlich zu hoch angesetzt sind und man sie herabsetzen muss.»
«Den Job nicht richtig gemacht»
Das Bundesgericht, so Looser, habe dies zu Recht hoch gewichtet und eine viel zu laxe Baubewilligungspraxis der kantonalen Behörden gestoppt. Das Argument, man könne wegen des Lärmschutzes in Städten nicht mehr bauen, sei schlicht falsch. «Die Behörden können durchaus Ausnahmen beanspruchen, aber sie müssen diese nun mal begründen und die Ausgangslage sauber dokumentieren.» Dies sei in vielen Fällen nicht geschehen, die Behörden hätten ihren Job nicht richtig gemacht. «Und nun fühlen sie sich durch das Bundesgericht herausgefordert, das auf eine korrekte Anwendung des Gesetzes pocht.» Die politischen Revisionsbestrebungen seien auch vor diesem Hintergrund zu sehen.
Anders Stokholm, Präsident des Schweizerischen Städteverbandes und Stadtpräsident von Frauenfeld, sieht es etwas anders. Er sagt, die Rechtsprechung des Bundesgerichts habe in den Städten tatsächlich zu Baublockaden geführt und die Entwicklung behindert. Der Revisionsvorschlag des Bundesrats neige in der Interessenabwägung nun etwas stärker auf die Seite «Verdichtung» denn auf die Seite «Lärmschutz» und schwäche den Lärmschutz im Vergleich zu heute effektiv. Unter dem Strich befürworte der Städteverband die Vorlage aber.
Forderung nach Tempo 30 auf Hauptstrassen
Allerdings verknüpft der Städteverband mit der positiven Grundhaltung gegenüber der Revision des Umweltschutzgesetzes eine politisch umstrittene Forderung: Die Einführung von Tempo 30 soll in den Städten zur Norm werden. Und die Städte sollen Tempo 30 selbständig bewilligen können – nicht zwingend flächendeckend, aber auch auf Hauptstrassen. «Die Einführung von Tempo 30 ist die einfachste und günstigste Massnahme, um Lärm im Siedlungsgebiet zu reduzieren und damit einen Beitrag zur Bewilligungsfähigkeit von Bauprojekten zu leisten», sagt Stokholm.
Das Umweltschutzgesetz verlangt, dass Lärm grundsätzlich «an der Quelle» bekämpft wird. Bei Strassenlärm bedeutet dies: mit Temporeduktionen, «Flüsterbelägen» oder etwa Vorschriften für Autopneus.
Letztere können nicht zuletzt aufgrund technischer Handelshemmnisse nicht einfach erlassen werden. Flüsterbeläge wiederum haben gemäss Stokholm eine Lebensdauer von nur rund 15 Jahren: «Sie sind damit weit weniger wirtschaftlich als die Einführung von Tempo 30.»
Auch das Bundesgericht sieht in Temporeduktionen eine geeignete Massnahme zur Lärmreduktion. Deutlich zum Ausdruck gebracht hat es diese Haltung mit dem Urteil «Luzernerstrasse» vom März.
Der Grundsatz der «Lärmbekämpfung an der Quelle» ist auch im revidierten Umweltschutzgesetz festgehalten. Allerdings weist die Lärmliga in ihrer Vernehmlassung zur Revision darauf hin, dass genau dieser Grundsatz durch die laxeren Lärmschutzbestimmungen aufgeweicht wird.
Der Kanton bremst die Stadt Zürich aus
Hinzu kommt: Wenn es um die breite Einführung von Tempo 30 geht, gibt es heftigen Widerstand. In Kantonen wie Zürich oder Luzern werden mehrere Volksinitiativen «gegen Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen» oder «Pro Tempo 50» zur Abstimmung kommen.
In Zürich liegen überdies Stadt und Kanton über Kreuz, was die Einführung von Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen betrifft. Auf der vielbefahrenen Rosengartenstrasse zum Beispiel wollte die Stadt die erlaubte Geschwindigkeit von 50 auf 30 km/h reduzieren, wurde aber von der Kantonspolizei zurückgepfiffen. Die Stadt wehrt sich dagegen mit Rekurs. Das Verfahren ist hängig.
Lärmsanierung ist eine «Daueraufgabe»
Im Jahr 2000 hatte das Amt für Umweltschutz des Kantons Luzern für die Sanierung der Luzernerstrasse in Kriens eine Erleichterung gewährt. Das ist bei Sanierungsprojekten gemäss Umweltschutzgesetz möglich, wenn der Aufwand für die Einhaltung der Lärmgrenzwerte «unverhältnismässig hoch» ist.
Der Lärm muss dann nicht an der Quelle bekämpft werden, sondern kann durch andere Vorrichtungen – wie zum Beispiel Lärmschutzfenster – abgedämmt werden. Die Strasse gilt dann als saniert, obwohl die Lärmgrenzwerte weiter überschritten werden.
Im Fall der Luzernerstrasse wehrte sich ein Anwohner, der auch Geschäftsführer des VCS Luzern ist, gegen die gewährte Erleichterung und verlangte eine Neubeurteilung der «Scheinsanierung». Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut und wies die Sache an den Kanton zurück. Er muss nun fürs Erste neue Lärmmessungen vornehmen, weitere Massnahmen, die über die bisherigen Sanierungen hinausgehen, werden wohl folgen.
Das Bundesgericht anerkannte im Urteil, dass seit dem Erleichterungsentscheid von 2000 viel Zeit vergangen sei und es mittlerweile neue Erkenntnisse in der Lärmforschung gebe – unter anderem die Tauglichkeit von Temporeduktionen zur Lärmbekämpfung.
Rechtsanwalt Martin Looser, Vorstandsmitglied der Lärmliga, vertrat den Beschwerdeführer vor Bundesgericht. Die Tragweite des Urteils schätzt er als gross ein: «Es bedeutet, dass Anwohner einen Anspruch auf Neubeurteilungen haben, wenn in solchen Konstellationen vor einiger Zeit Erleichterungen gewährt wurden – und das war in der Vergangenheit ziemlich häufig der Fall.»
An einer Veranstaltung der Lärmliga wies der Zürcher Staatsrechtsprofessor Alain Griffel auf eine weitere Auswirkung des Urteils hin: «Die Behörden müssen von sich aus in periodischen Abständen eine Neubeurteilung bereits sanierter Strassen vornehmen.» Strassenlärmsanierung sei kein einmaliger Akt, sondern eine Daueraufgabe.