Zweiklassenmedizin: Der Kanton Zürich hat das Tabu gebrochen.»1 Mit solchen Schlag-zeilen griff die Tagespresse im Herbst 2004 landesweit die Ankündigung der Zürcher Gesundheitsdirektion auf, im Rahmen eines Sanierungsprogramms nicht nur den Spitalkomfort (zum Beispiel Menüauswahl oder TV-/Internetanschluss im Zimmer), sondern auch die «Betreuungsintensität im Grundversichertenbereich» zu reduzieren.
Für die betroffenen «nur» grundversicherten Patienten und Patientinnen ohne private Zusatzversicherung kann dies bedeuten – so der Zürcher Regierungsrat in einer Medienmitteilung ausdrücklich2 –, dass die Reaktionszeiten auf den Patientenruf länger werden, gewisse Handreichungen in der Körperpflege länger auf sich warten lassen, Ansprechpersonen für Angehörige nicht mehr jederzeit zur Verfügung stehen oder bei präventiven pflegerischen Handlungen, zum Beispiel bei der Patientenlagerung, Prioritäten gesetzt werden müssen. Dieses Sparprogramm veranlasste Gewerkschafts- und Pflegekreise, im September 2004 eine Aufsichtsbeschwerde beim Bundesamt für Gesundheit mit dem Begehren einzureichen, es sei die Unvereinbarkeit des geplanten Leistungsabbaus mit dem Krankenversicherungsgesetz3 festzustellen, das jede Zweiklassenmedizin ausschliessen wolle.4 Da das Bundesamt in der Folge auf die Beschwerde nicht eintreten sollte,5 stellt sich die gesundheits- wie sozialpolitische Kardinalfrage nach der Abgrenzung von Krankengrund- und -zusatzversicherung mit umso mehr Nachdruck.
1 Zum Umfang der Grundversicherung
Die Aufsichtsbeschwerde stellt die Frage in den Vordergrund, ob – und wenn ja: inwieweit – das Krankenversicherungsgesetz eine Zweiklassenmedizin zulässt, die eine Reduktion der Spitalleistungen aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für grundversicherte Personen bei einer gleichzeitigen Privilegierung zusatzversicherter Personen als gesetzeskonform erscheinen lässt.
Damit ist zunächst die Vorfrage nach dem Leistungsumfang und -niveau der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, vordergründig im Spitalbereich, zu beantworten. Als Schlüsselnormen sind hierbei die Art. 25ff. Krankenversicherungsgesetz (KVG) zu betrachten, wonach die obligatorische Krankenpflegeversicherung «die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen»,6 übernimmt – im Spitalbereich unter Einschluss der Pflegemassnahmen und des Aufenthalts in der allgemeinen Abteilung7 –, sofern sich diese als «wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich» erweisen.8 Die Offenheit dieser Formulierung spricht in einem ersten Schritt für eine Auslegung von Art. 25 KVG nach dem üblichen Kanon hermeneutischer Kriterien.
1.1 Grammatische Auslegung: Ganze Palette abgedeckt
Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, dem neben Wortlaut und Wortsinn bei jeder grammatischen Interpretation zentrale Bedeutung zukommt, zeigt die Verwendung des bestimmten Artikels, wonach die Kos ten für die Leistungen zu übernehmen sind, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit dienen, dass a priori keine medizinischen Leis tungen aus dem Leistungsbereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung ausgeschlossen werden, womit – positiv formuliert – sich Art. 25 KVG im Grundsatz, das heisst, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, an den gesamten aktuellen Möglichkeiten der medizinischen Wissenschaft und Technik orientiert. Bestätigt wird dieser Ansatz in den Textversionen der anderen Amtssprachen, die den Leis tungen ebenfalls einen bestimmten Artikel voranstellen («des prestations» und «delle prestazioni»)9 und besonders auf einen Partitiv verzichten, aus dem hätte geschlossen werden können, dass die obligatorische Krankenpflegeversicherung von vornhe rein nicht auf die gesamte Leistungspalette, die dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaften entspricht, abzielt.
1.2 Historische Auslegung: Rundumversorgung bezweckt
Nach der historischen, entstehungszeitlichen Auslegung soll der Normsinn ermittelt werden, den der historische Gesetzgeber einer Bestimmung zugedacht hat. Im Fall von Art. 25 KVG lässt sich den Materialien – zwar nur zum Teil spezifisch für den Spitalsektor, aber generell für den Leistungsbereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung – das Ziel einer umfassenden medizinischen Versorgung durch die Krankenversicherung entnehmen:
In seiner Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung sieht der Bundesrat das Ziel des KVG insbesondere darin, «eine qualitative und quantitative Leistungsrationierung zu vermeiden, welche mit einem liberalen Gesundheitswesen, wie dem unseren, unvereinbar ist». Weiter bestehe die Aufgabe der Krankenversicherung darin, «ein ausgewogenes Leistungskonzept zu erstellen mit dem vorrangigen Ziel, den Versicherten eine qualitativ hochstehende Behandlung zu möglichst günstigen Kosten zu gewährleisten».10
In der parlamentarischen Beratung haben besonders die Kommissionsberichterstatter, deren Voten besonderes Gewicht zuzumessen ist, das gesetzgeberische Ziel hervorgehoben, dass die gesamte Bevölkerung «Zugang zu einer qualitativ hochstehenden medizinischen Versorgung»11 haben soll und dass die Versicherer ein Leistungspaket anzubieten haben, «das den heutigen Bedürfnissen der Patienten und dem Wissensstand der Medizin, der Pharmazie und der Pflege entspricht».12 In der parlamentarischen Debatte wurde der Zusatzversicherungsbereich, in erster Linie im Spitalsektor, folgerichtig auf sogenannte «Komfortleistungen» reduziert.13
Schliesslich finden sich auch in den Erläuterungen des Bundesrates zur KVG-Referendumsabstimmung vom 4. Dezember 1994, dem «Abstimmungsbüchlein», unmissverständ liche Aussagen, wonach es «einer der wesentlichen Vorzüge des Gesetzes (ist), dass es allen den Zugang zu einer auf hohem Niveau stehenden, umfassenden gesundheitlichen Versorgung […] gewährleistet».14
1.3 Geltungszeitliche Aus legung: Ziele unverändert
Bei der Ermittlung des aktuellen Normverständnisses, auf den der geltungszeitliche Ansatz abzielt, sprechen verschiedene Indizien dafür, dass sich in den zehn Jahren seit dem In-Kraft-Treten des Krankenversicherungsgesetzes die Ziel- und Wertvorstellungen im Leistungsbereich, zumindest für den Bundesrat als wichtigen Akteur im Gesetzgebungs prozess, nicht verschoben haben: Im Jahr 2000 bezeichnete der Bundesrat den Zugang aller Versicherten zu einer qualitativ hochstehenden Versorgung als «Kernziel»15 oder als «vorrangiges Ziel»16 des KVG, 2004 sprach er sich dafür aus, dieses Versorgungsziel zu «konsolidieren»17 und 2005 lehnte er «jeglichen Abbau des von der Grundversicherung gedeckten Leistungsangebots ab».18
1.4 Systematische Auslegung: Rechtsgleichheit verletzt
Bei der systematischen Auslegung wird eine einzelne Rechtsnorm nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den übrigen Bestimmungen des Gesetzes oder der ganzen Rechtsordnung beleuchtet.19
Während innerhalb des krankenversicherungsrechtlichen Normensystems keine weiteren Anhaltspunkte für die Umschreibung des Leistungsbereichs der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach Art. 25 KVG zu finden sind, können im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung – als Anwendungsfall des systematischen Kriteriums – verschiedene Verfassungsnormen herangezogen werden, die der Umschreibung der obligatorischen Krankenpflegeleistungen sowie der Abgrenzung zum Zusatzversicherungsbereich einen verfassungsrechtlichen Bezugsrahmen verleihen. Hervorzuheben ist – neben dem verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz,20 dem grundrechtlichen Anspruch auf medizinische Leistungen im Rahmen des Rechts auf Hilfe in Notlagen21 und dem Sozialziel, dass «jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält»22 – vor allem das allgemeine Gleichbehandlungsgebot:23 Nach dem relativen Gleichbehandlungsgrundsatz, den die herrschende Lehre und die bundesgerichtliche Rechtsprechung aus Art. 8 Abs. 1 Bundesverfassung (BV) ableitet, verletzt ein Erlass den Grundsatz der Rechtsgleichheit, wenn er rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger oder sachlicher Grund in den zu regelnden Verhältnissen nach Regelungszweck nicht ersichtlich ist, oder wenn er Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen.
Wird die ärztliche Therapiewahlfreiheit durch eine restriktive Auslegung von Art. 25 KVG im Einzelfall nun derart eingeschränkt, dass die Diagnose oder die Therapie einer Krankheit im Sinne von Art. 3 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)24 im Rahmen der sozialen Krankenpflegeversicherung nicht nach anerkanntem neuestem Stand der medizinischen Wissenschaft möglich ist, so wird die Patientin die Kosten selber übernehmen oder allenfalls über eine risikogerechte und damit prämienintensive Zusatzversicherung abdecken müssen. Damit entscheidet beim selben Krankheitsbild wohl nicht de iure, aber de facto die ökonomische Situation eines Patienten über eine Leistung in einem essenziellen Lebensbereich wie die Gesundheit. In einem ausgedünnten Pflichtleistungsangebot, das eine allenfalls essenzielle Gesundheitsleistung von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Patienten abhängen lässt, ist daher eine mittelbare Ungleichbehandlung, mithin eine Verletzung der Rechtsgleichheit zu erkennen.
2 Zur Grund- und Zusatzversicherung
In einer positiven Annäherung lassen alle herangezogenen Auslegungskriterien den Schluss zu, dass nach Art. 25 KVG die obligatorische Krankenpflegeversicherung bei einer Gesundheitsbeeinträchtigung mit Krank heitswert diejenigen medizinischen Leistungender Diagnose und Therapie anzubieten hat, die dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik entsprechen. Negativumschrieben gehören nicht zum Pflichtleistungskatalog, aber damit ex contrario zum Katalog mög -lich er Zusatzversicherungsprodukte, nicht medizinische Leistungen sowie Leis tungen, die bei einerGesundheitsbeeinträchtigung ohne Krankheitswert erbracht werden.
So einsichtig dieses krankheitszentrierte und medizinorientierte Auslegungsergebnis im Grundsatz auch erscheinen mag, so diffus wird das Verhältnis zwischen Grund- und Zusatzversicherung in der öffentlichen, sozialpolitisch sensiblen Dis kussion dargestellt: Gerade in der Debatte um das Zürcher Sanierungsprogramm des Jahres 2004 schürte die Berichterstattung in der Tagespresse die Verunsicherung beispielsweise mit undifferenzierten (juristischen) Äusserungen zum Wirtschaftlichkeitsgebot der Krankenversicherung25 oder mit Aussagen, wonach das Krankenversicherungsgesetz die Zweiklassenmedizin vorsehen soll.26
Diese Tatsache spricht dafür, das rechtliche Verhältnis von Grund- und Zusatzversicherung im Leis tungsbereich in einem Vier-Stufen-Modell annäherungsweise zu kategorisieren und zu systematisieren: Hat sich nach erfolgter Auslegung die qualitativ hochstehende medizinische Leistung im Krankheitsfall als zentraler Gehalt von Art. 25 KVG erwiesen, so liegt der Dreh- und Angelpunkt der Ab grenzung zwischen Grund- und Zusatzversicherungsleistungen konse quen ter weise in der Krankheitsrelevanz, die wirksame (medizinische wie nicht medizinische) Hand lungen bezeichnet, die auf die Erkennung oder Behandlung einer Krankheit abzielen.
Im schematischen Stufenmodell erscheint die erste Stufe (I), welche die krankheitsrelevanten medizinischen Leistungen umfasst, de lege et constitutione lata als eigentlicher Kernbereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach Art. 25 KVG: Der hohe, dem aktuellen Erkenntnisstand entsprechende medizinische Standard, der in Art. 25 KVG angestrebt wird, impliziert, dass – wird einer Gesundheitsbeeinträchtigung Krankheitswert zugemessen – der medizinisch indizierten (diagnostischen oder therapeutischen) Leistung eo ipso Pflichtleistungscharakter zukommt, zumindest wenn die Leistung von einem Arzt oder einer Ärztin erbracht wird.34 Ein Verschieben krankheitsrelevanter medizinischer Leistungen vom Grundversicherungs- in den Zusatzversicherungsbereich verunmöglicht den in Art. 25 KVG angestrebten hohen Leistungsstandard und ist daher unzulässig, was zugleich jeden Raum für Zusatzversicherungsleistungen ausschliesst.
Die weiteren Leistungsstufen können alle dem Zusatzversicherungsbereich zugeordnet werden, wobei sich in diesen für die obligatorische Krankenpflegeversicherung peripheren Bereichen, wenn auch ausnahmsweise und im Kern weitgehend versicherungsfremd, durchaus Pflichtleistungen finden oder begründen lassen. Der Raum für Zusatzversicherungsangebote nimmt von der zweiten (krankheitsrelevante nicht medizinische Leistungen [II]) über die dritte (krankheitsirrelevante medizinische Leistungen [III]) zur vierten Stufe (krankheitsirrelevante nicht medizinische Leis tungen [IV]) tendenziell zu.
3 Zur Zürcher Aufsichtsbeschwerde
Werden diese – wenn auch schematischen – Grundsätze als Leitlinien für die Beurteilung der Zürcher Aufsichtsbeschwerde herangezogen, so führt dieser Subsumtionsvorgang – als eine Art hypothetischer Beschwerde-Entscheid – zu differenzierten Schlussfolgerungen:
In der Tat erscheint die Reduktion der Komfortleistungen für grundversicherte Personen – etwa bei der Menüauswahl, den Zwischenmahlzeiten, den Zeitungen oder dem TV- oder Internetanschluss im Zimmer (Leistungsstufe IV) – als krankenversicherungsrechtlich insoweit unproblematisch, als der gesetzlich zur Pflichtleistung erklärte «Aufenthalt in der allgemeinen Abteilung»35 in Form angemessener Verpflegung und Unterkunft gewährleistet wird.
Als weit problematischer ist hingegen die Reduktion der «Betreuungsintensität im Grundversichertenbereich» zu beurteilen: Der Entscheid, ob eine Leistung im Einzelfall zu erbringen ist, beurteilt sich besonders danach, ob sie – Wirksamkeit vorausgesetzt – medizinisch indiziert und damit zweckmässig36 ist, wobei – wie die Auslegung von Art. 25 KVG gezeigt hat – ein hoher medizinischer Standard anzustreben ist. Ist die Leistung medizinisch indiziert und zweckmässig, ist sie zulas ten der sozialen Krankenpflegeversicherung zu erbringen, ohne vom gesetzlich angestrebten hohen medizinischen Standard abzurücken – eine Aus differenzierung unterschiedlicher Leistungsniveaus je nach Versicherungsdeckung ist im Bereich der krankheitsrelevanten medizinischen Pflichtleistung (Leis tungsstufe I), in dem zum Beispiel auch die von der Zürcher Regierung als Sparmassnahme andeutungsweise erwähnte Dekubitusprophylaxe anzusiedeln ist37, nicht statthaft: Bei der Dekubitusprophylaxe wäre es unzulässig, zusatzversicherte, nicht aber ausschliesslich grundversicherte Patientinnen in nach pflegewissenschaftlichen Standards gebotener Re gelmässigkeit umzulagern.
Ohne Bedeutung bleibt in diesem Zusammenhang das Gebot der Wirtschaftlichkeit nach Art. 32 Abs.1 KVG, das auch in der Zürcher Debatte als Rechtfertigung der geplanten Sparmassnahmen vorgeschoben worden ist:38 Das Gebot der Wirtschaftlichkeit gilt nämlich nicht absolut, sondern verlangt einen Kos tenvergleich möglicher Behandlungsalternativen mit ungefähr gleichem medizinischen Nutzen; ist dieser Kostenvergleich nicht möglich, weil es nur eine zweckmässige Behandlungsmassnahme gibt (wie das Umlagern, um einem Dekubitus vorzubeugen), so beurteilt sich die Leistungspflicht nicht nach der Wirtschaftlichkeit, sondern nach dem Prinzip der Verhältnismässigkeit, das nach herrschender Lehre und Praxis allerdings nur bei einem groben Missverhältnis zwischen der Kostenhöhe und dem zu erwartenden medizinischen Nutzen verletzt wird39 (was bei der Umlagerung zur Dekubitusprophylaxe mit Sicherheit nicht der Fall wäre).
Diese Schlussfolgerungen decken sich mit verschiedenen Indizien his torischer und geltungszeitlicher Auslegung, die den Zusatzversicherungsbereich ganz generell, spezifisch aber im stationären Sektor – als Korrelat zur umfassenden Leistungsdeckung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung – auf Komfortleistungen beschränken.40
4 Zu den nötigen Weichenstellungen
Es ist davon auszugehen, dass die Dis kussionen rund um die Abgrenzung zwischen Krankengrund- und Krankenzusatzversicherung in Zukunft zunehmen und an Brisanz gewinnen werden, und zwar auf verschiedenen Ebenen: sei es – wie die Beispiele des Zürcher Sanierungsprogramms 2004 oder des Ausschlusses der Komplementärmedizin aus der Grundversicherung41 zeigen – durch den Versuch, das Krankenversicherungsgesetz durch eine restriktive Auslegung auf der Mikroebene auszuhebeln, sei es durch Massnahmen, um die Leistungsbereiche von Grund- und Zusatzversicherung auf der Makroebene zu verschieben, wie es die Volksinitiative «für tiefere Krankenkassenprämien in der Grundversicherung», über die im Wahljahr 2007 abgestimmt werden dürfte, wohl beabsichtigt.42 Vor dem Hintergrund steigender Gesundheitskosten lässt sich diese Tendenz auch bei einem Blick über die Grenzen feststellen: So wird in der deutschen Literatur darüber debattiert, das Lebensalter als Abgrenzungskriterium zwischen Grund- und Zusatzversicherung heranzuziehen,43 indem zum Beispiel Operationen am offenen Herzen nur bis zu einem bestimmten Alter durch die Grundversicherung abgedeckt wären, während die Kostendeckung für Operationen im höheren Alter den Abschluss einer privaten Zusatzversicherung voraussetzen würde.44
Stösst man in diesen Fragen auch oftmals an die Grenzen des Justiziablen, so bleibt es dennoch – oder vielmehr gerade deshalb – die Aufgabe des Gesetzgebers, Leitplanken zu setzen, zum Beispiel durch die bereits angesprochene «Konsoli dierung» des Leistungsbereichs in der sozialen Krankenpflegeversicherung, allenfalls aber auch durch eine klare gesetzliche Regelung der zulässigen Zusatzversicherungsprodukte im Versicherungsvertragsgesetz.45 Denn der schleichenden Erosion der sozialen Krankenversicherung durch Ausdünnen der Pflichtleistungen muss umso mehr begegnet werden, als der Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf die Gesundheit – Arme sterben früher – nicht mehr bewiesen werden muss.46
Diese faktische Chancenungleichheit vor der Krankheit darf nicht auch noch rechtlich zementiert werden, indem gerade die eh bereits benachteiligten Bevölkerungskreise im Krankheitsfall von einer adäquaten medizinischen Versorgung ausgeschlossen würden, die nur noch über Zusatzversicherungsprodukte garantiert wäre.
1 Berner Zeitung, 20. Oktober 2004.
2 Medienmitteilung des Zürcher Regierungsrates vom 11. Juni 2004.
3 KVG/SR 832.10.
4 Tages-Anzeiger, 5. Oktober 2004.
5 Neue Zürcher Zeitung, 14. Januar 2005.
6 Art. 25 Abs. 1 KVG.
7 Art. 25 Abs. 2 Bst. a und e KVG.
8 Art. 32 Abs. 1 KVG.
9 Wobei der bestimmte Artikel mit der Präposition zu einem Wort verschmilzt (für das Französische «des» aus «de + les»).
10 BBl 1992 I 133.
11 AB 1993 N 1726.
12 AB 1992 S 1273, bestätigt durch weitere Voten, siehe etwa AB 1993 N 1824.
13 «Zusatzversicherungen haben also nur noch die Aufgabe, Komfortleistungen abzudecken», AB 1993 N 1737.
14 Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 4. Dezember 2004, S. 7.
15 Botschaft vom 31. Mai 2000 zur Volksinitiative «Gesundheit muss bezahlbar bleiben (Gesundheitsinitiative)», BBl 2000, 4288.
16 Botschaft vom 18. September 2000 betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung, BBl 2001, 748.
17 Botschaft vom 26. Mai 2004 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (Strategie und dring liche Punkte), BBl 2004, 4264ff.
18 Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Volksinitiative «für tiefere Krankenkassenprämien in der Grundversicherung», BBl 2005, 4329.
Hans Michael Riemer, Die Einleitungsartikel des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, 2. Auflage, Bern 2003, S. 49.
20 Recht auf Leben und auf körperliche und geistige Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 1 und 2 BV/SR 101).
21 Art. 12 BV.
22 Art. 41 Abs. 1 Bst. b BV.
23 Zum Folgenden eingehend Pascal Coullery, Der Leistungskatalog der sozialen Krankenversicherung und seine verfassungsrechtliche Vernetzung, SZS 2003, 381ff. m. w. H.
24 Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (SR 830.10).
25 Siehe etwa La liberté und Berner Zeitung, 20. Oktober 2004 sowie nachfolgend Ziffer 32.
26 Tages-Anzeiger, 5. Oktober 2004.
27 Die Krankenversicherung übernimmt während höchstens 21 Tagen pro Kalenderjahr einen täglichen Beitrag von zehn Franken an die Kosten von ärztlich angeordneten Badekuren, siehe Art. 25 Abs. 2 Bst. c KVG i. V. m. Art. 25 der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV/SR 832.112.31).
28 Zum Begriff und zur (umstrittenen) Qualifizierung der Grundpflege siehe Gebhard Eugster, «Krankenversicherung», in: Heinrich Koller / Jörg Paul Müller / René Rhinow / UlrichZimmerli (Hrsg.), Schweizerisches Bun des verwaltungsrecht – Soziale Sicherheit, Basel/Genf/München 1998, Rz. 114 und Art. 7 Abs. 2 Bst. c KLV.
29 Siehe Art. 25 Abs. 2 Bst. d KVG und Eugster (Anm. 28), Rz. 142ff.
30 Die Qualifizierung der komplementärmedizinischen Leistungen als krankheitsirrelevant ist Folge des im Juni 2005 gefällten Entscheides des Eidgenössischen Departementes des Innern (EDI), fünf komplementärmedizinischen Methoden (anthroposophische Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie und Traditionelle Chinesische Medizin) den Pflichtleis tungscharakter abzusprechen, vor allem, weil die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit ungenügend nachgewiesen sei (siehe Medienmitteilung des EDI vom 3. Juni 2005). Inkohärent die Annahme des EDI, «dass neue, billige Zusatzversicherungsangebote auch den aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung entlassenen Teil der Leistungen übernehmen können», denn wenn die ausgeschlossenen komplementärmedizinischen Leistungen tatsächlich unwirksam sind, ist nicht einzusehen, weshalb sie in Zusatzversicherungsprodukten angeboten werden sollen.
31 Siehe die abschliessende Aufzählung in Art. 12 KLV.
32 Siehe Art. 25 Abs. 2 Bst. e KVG.
33 Die Krankenversicherung übernimmt fünzig Prozent der Transport- und Rettungskosten, maximal aber fünfhundert Franken (Transportkosten) oder fünftausend Franken pro Kalenderjahr, siehe Art. 25 Abs. 2 Bst. g KVG i. V. m. Art. 25f. KLV.
34 Der Pflichtleistungscharakter ärztlicher Leistungen wird de lege lata (Art. 25 Abs. 1 i. V. m. Art 32 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 1 KVG) vermutet, so dass es keine abschliessende Liste ärztlicher Pflichtleistungen gibt, während für die nicht ärztlichen Leistungen durchgehend das Prinzip der echten Positiv liste gilt.
35 Art. 25 Abs. 2 Bst. e KVG.
36 Nach Brigitte Pfiffner Rauber, Das Recht auf Krankheitsbehandlung und Pflege, Zürich/Basel/Genf 2003, S. 142, ist rechtlich «die medizinische Indikation nichts anderes als die Frage nach der Zweckmässigkeit».
37 Siehe vorne Ziffer 1. Die Dekubitusprophylaxe ist eine Pflegemassnahme, der nicht nur im Spital, sondern auch bei Krankenpflege zu Hause, ambulant oder im Pflegeheim Pflichtleistungs charakter zukommt, siehe Art. 7 Abs. 2 Bst. c Ziff. 1 KLV.
38 So wird in der Berner Zeitung vom 20. Oktober 2004 ein «KVG-Spezialist» zitiert, der unter Berufung auf Art. 32 KVG festhält, dass «das Gesetz ausdrücklich (sagt), dass gewisse Leistungen, auch wenn sie wirkungsvoll sind, nicht übernommen werden können, weil sie zu teuer sind».
39 So Eugster (Anm. 28), Rz. 102 m. w. H.
40 Der Bundesrat hat zuletzt im Juni 2005 bestätigt, dass «die Unterscheidung zwischen Grundversicherung nach KVG und Zusatzversicherungen nach Privatrecht insoweit vertretbar (ist), als die Grundversicherung ein umfassendes Angebot an notwendigen Leistungen abdeckt und die freiwilligen Versicherungen spezielle Komfortbedürfnisse abdecken, die aus sozialer Sicht keiner Solidarität bedürfen» (BBl 2005, 4328). Im stationären Bereich hat der Bundesrat als Beispiele für Leistungen von Zusatzversicherungsprodukten wiederholt ausschliesslich den zusätzlichen Komfort in einem Ein- oder Zweibettzimmer und die frei Arztwahl im Spital erwähnt, vgl. die Botschaften vom 18. September 2000 (BBl 2001, 780) und 15. September 2004 (BBl 2004, 5566) betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung.
41 Siehe zu diesem Entscheid des EDI vorne Anm. 30.
42 Siehe hierzu die bundesrätliche Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Volksinitiative «für tiefere Krankenkassenprämien in der Grundversicherung», BBl 2005, 4328ff.
43 Siehe als Befürworter der Altersrationierung Friedrich Breyer, Zum Konzept der altersbezogenen Rationierung von Gesundheitsleistungen: zehn populäre Irrtümer, Textfassung eines am interdisziplinären Symposium «Rationierung im Gesundheitswesen» vom 2./3. Dezember 2005 in Luzern gehaltenen Referates.
44 So Hartmut Kliemt, Gibt es ein Recht auf Gesundheit?, Schweizer Monatshefte Nr. 10/2000, S. 22, der das zitierte Beispiel als «vorstellbar» bezeichnet.
45 SR 221.229.1
46 Siehe für einen Überblick zu dieser Problematik Jean-Daniel Rainhorn, «Déterminants sociaux et politique de santé», in: Nationale Gesundheitspolitik Schweiz, Documentation de la réunion de travail des 18/19 octobre 2001 à Rüschlikon/ZH, Bern 2002, S. 21ff. und Karin Huwiler / Raphael Amstutz / Christoph E. Minder, «Soziale Ungleichheit in der Gesundheit – ein Thema auch in der Schweiz», in: Caritas (Hrsg.), Sozialalmanach 2003, Luzern 2003, S. 55ff.