Es hätte ein fulminanter Tag werden sollen: die Feier im Hauptsitz der Vereinten Nationen am East River, ein festlicher Empfang im Harvard-Club in Midtown und der Besuch des Hip-Hop-Erfolgsmusicals «Hamilton» am Broadway. Covid-19 verhagelte die Pläne zum 100. Geburtstag von Ben Ferencz.
Stattdessen beging der Hundertjährige den Ehrentag am 11. März in seinem bescheidenen Bungalow in Florida im kleinsten Kreis. «Die Welt ist eine andere. Und das ist erst der Anfang», glaubt Ben Ferencz. Es schmerzt ihn, dass die Pandemie so viele unschuldige Menschenleben kostet. Um sich selber macht er sich keine Sorgen. «Wenn ich morgen sterben muss, ist das zwar schade. Aber es ängstigt mich nicht. Ich habe in meinem Leben getan, was ich konnte, und das tue ich noch immer und solange es geht.»
Bis auf weiteres sind sämtliche Reisen, Auftritte und Referate des gefragten Zeitzeugen abgesagt. Trotzdem erreichen ihn noch mehr Einladungen, Briefe und Mails als bisher. Ferencz erklärt sich das Phänomen mit dem kanadischen Filmporträt «Prosecuting Evil». «Ben Ferencz ist eine Ikone des Völkerstrafrechts», lobt darin Fatou Bensouda, die amtierende Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Alan Dershowitz, Harvard-Professor und einer der bekanntesten Strafverteidiger der USA, bezeichnet ihn als «Inbegriff eines Menschen, dessen einziges Lebensziel es ist, Gerechtigkeit in eine ungerechte Welt zu bringen.» Für die Richterin Rosalie Abella von Kanadas Oberstem Gerichtshof ist Ferencz «eine der wichtigsten Persönlichkeiten unserer Zeit».
Von Statur mag der Mann mit 1,54 Metern klein sein. Als letzter lebender Chefankläger der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und als unermüdlicher Anwalt für den Frieden aber gehört er zu den ganz Grossen dieser Zeit: Im Zweiten Weltkrieg wurde der Infanterist einer US-amerikanischen Flak-Einheit Ende 1944 von der Kampffront abgezogen und der neu geschaffenen Dienststelle für die Ermittlung von Kriegsverbrechen zugeteilt. Er suchte nach ermordeten US-Piloten, die sich per Fallschirm aus abgeschossenen Maschinen zu retten hofften und den Nazis in die Hände gefallen waren.
Bei der Befreiung der Konzentrationslager war Ben Ferencz stets einer der Ersten. Er sah die Leichenberge vor Krematorien, die zu Skeletten abgemagerten Überlebenden, die ratten- und typhusverseuchten Häftlingsbaracken. Er sichtete Deportationslisten, Totenbücher, befragte noch vernehmungsfähige Opfer. Es war auch Ferencz’ Verdienst, dass ein als «geheime Reichssache» getarnter, kaltblütiger Massenmord nach Kriegsende ans Licht und in Nürnberg vor Gericht kam: die systematische Erschiessung von über einer Million unschuldiger Menschen durch sogenannte «Einsatzgruppen» der SS in Osteuropa. Mit gerade mal 27 Jahren wurde der Harvard-Absolvent Chefankläger im Prozess gegen 24 Kommandeure dieser Killerkommandos.
Die erlebten Kriegsgräuel prägten Ferencz. Seit Jahrzehnten setzt er sich für die Schwachen und Unterdrückten ein und für eine Welt ohne kriegerische Konflikte. Nach Ende der Nürnberger Prozesse arbeitete der Jurist viele Jahre für Opferverbände von Überlebenden und Hinterbliebenen des Holocausts, bis 1956 in Deutschland, wo auch seine vier Kinder geboren wurden, später in New York.
Als die USA in den Sechzigerjahren im Sumpf des Vietnamkriegs versanken, entschied sich Ferencz, den Rest seines Lebens dem Weltfrieden zu widmen. Er forschte in Bibliotheken, begann Bücher zu schreiben, verfasste Artikel, Pamphlete und Leserbriefe. Zudem lobbyierte er in der Uno für eine übergeordnete Sanktionsmacht nach Nürnberger Vorbild.
Für sein Engagement belächelte man ihn lange als Spinner, Träumer und Utopist. Erst mit dem Fall der Berliner Mauer und nach den Völkermorden in Jugoslawien und Ruanda raffte sich die Internationale Völkergemeinschaft zu Ad-hoc-Straftribunalen auf, ähnlich wie in Nürnberg. Und 1998 trafen sich in Rom Delegierte aus 160 Ländern zu einer Konferenz, um über einen permanenten Strafgerichtshof zu entscheiden. Doch sein eigenes Land stimmte gegen eine übergeordnete Gerichtsinstanz. Für Ferencz ist das bis heute gültige Nein der Vereinigten Staaten eine bittere Enttäuschung.
Die Hoffnung nicht aufgeben
Inzwischen ist die Euphorie der Gründerjahre verflogen. Der Strafgerichtshof in Den Haag steht zunehmend in Kritik, das Internationale Völkerrecht mehr und mehr unter Druck. Doch Ferencz wäre nicht Ferencz, liesse er sich durch Rückschläge und Enttäuschungen von seinem Weg abbringen, getreu seinem Lebensmotto: «Never give up!» Er setzt vor allem auf die Jungen. «Gebt die Hoffnung nicht auf», ermutigte er etwa Jus-Studenten während eines feurigen Referats an der Universität Salzburg. «Das Internationale Rechtssystem steckt noch in den Anfängen.»
Und so scheut Ben Ferencz auch in höchstem Alter keinen Aufwand, um sich gegen jede Form von Krieg und für die gleichen Rechte aller einzusetzen. «Krieg macht aus sonst anständigen Menschen Massenmörder», warnt er. «Jahrhundertelang wurde der Krieg glorifiziert. Es wird Zeit, damit aufzuhören!»
Die von Donald Trump angeordnete Ermordung des iranischen Generals Suleimani Anfang Jahr verurteilte der Völkerrechtler in einem vielbeachteten Leserbrief an die «New York Times» als «unmoralische Aktion und als klare Verletzung nationalen und internationalen Rechts».
In den letzten Jahren erhielt Ferencz etliche Auszeichnungen und Ehrungen. Eine Auszeichnung steht allerdings noch aus: der Friedensnobelpreis. Erst unlängst hat Christoph Safferling, Experte für Internationales Straf- und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg, einen Vorstoss mitunterzeichnet. Der Nobelpreis, sagt er, wäre die verdiente Ehrung eines Mannes, der Weltgeschichte geschrieben hat: als Chefankläger im Einsatzgruppenprozess, dank dem die Anfänge des Holocaust erstmals gerichtlich untersucht und verurteilt worden seien, aber auch als Vorkämpfer und Entwickler des Völkerstrafrechts.