Die Fachstelle Lingua des Staatssekretariats für Migration macht in Asylverfahren Sprach- und Herkunftsabklärungen, um festzustellen, ob die Asylsuchenden wirklich aus der Region kommen, die sie angeben. 2021 wurden 148 Lingua-Analysen vorgenommen, 2022 waren es 105.
Zahlen zu den Herkunftsregionen und Sprachräumen gibt das Staatssekretariat nicht bekannt. Ein Teil der Fälle betrifft Gesuchsteller, die angeben, aus Tibet in die Schweiz geflüchtet zu sein. Von den 80 Sachverständigen, die die Behörde unter Vertrag hat, befassen sich drei mit Tibet.
Asylanwälte kritisieren die Lingua-Analysen seit Jahren. Diese haben für das Staatssekretariat und die Gerichte «erhöhten Beweiswert», die Namen der Experten sind für die Gesuchsteller und ihre Rechtsvertreter aber geheim. Sie erhalten nur ein knapp gehaltenes Faktenblatt mit Angaben zum Werdegang und zur Qualifikation der Sachverständigen. «Doktorat: Tibetologie; Sinologie», heisst es etwa darin. Oder: «Herkunftsregion: Westeuropa». Die Anonymisierung wird mit dem Schutz der Sachverständigen begründet.
Auch erhalten weder Asylsuchende noch Rechtsanwälte die Sprach- und Herkunftsanalysen der Experten in der Vollversion. Sie müssen mit einem Kurzbericht vorliebnehmen. Begründet wird dies damit, dass man einen «Lerneffekt» in späteren Asylverfahren verhindern will.
Für die Asylsuchenden und ihre Rechtsvertreter ist es so schwierig, die Gutachten nachzuvollziehen und fundiert infrage zu stellen. «Die Lingua-Gutachten sind eine Blackbox», sagt der Luzerner Anwalt Roman Schuler, der regelmässig Klienten aus Tibet vertritt.
In einem Fall brachte das Staatssekretariat zuletzt etwas Licht ins Dunkel – unfreiwillig. 2020 lehnte es das Asylgesuch eines Mannes ab, der angab, aus Tibet zu stammen. Im Rahmen der Akteneinsicht stellte die Behörde dem Betroffenen aus Versehen die Vollversion der Lingua-Analyse zu – statt wie vorgesehen den Kurzbericht. Verfasst wurde das Gutachten von einem Experten mit dem Pseudonym «AS19».
Er bezweifelte, dass der Gesuchsteller im tibetischen Kernland sozialisiert worden sei, wahrscheinlicher sei eine Sozialisation in der exiltibetischen Gemeinschaft in Indien oder Nepal. Ein im Umgang mit Tibet-Schutzsuchenden häufiges Fazit, sagt Benno Straumann.
Professoren zerpflückten Lingua-Gutachten
Straumann ist kein Rechtsanwalt, er vertritt aber als Rentner regelmässig Schutzsuchende in Asylverfahren. So auch den Asylsuchenden im AS19-Fall. Er legte das Gutachten vier Tibetologie-Professorinnen und -Professoren vor. Diese zerpflückten es. Die Analyse enthalte «substanzielle Defizite» und «nicht akzeptierbare Fehler», schrieben sie in einem Gutachten zum Gutachten.
Gegenüber der «NZZ am Sonntag» meinte eine der Professorinnen, dass der Experte AS19 «sehr chinafreundlich» sei und einige seiner Aussagen «wie die offizielle chinesische Staatspropaganda» tönen würden. Straumann reichte beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen den ablehnenden Asylentscheid ein. Dabei kritisierte er basierend auf der Expertise der beigezogenen Professorinnen und Professoren das AS19-Gutachten sowie die Arbeitsweise dieses Experten und von Lingua im Allgemeinen.
Im Juli fällte das Bundesverwaltungsgericht das Urteil. Da es dabei auch um den Sachverständigen AS19 und dessen Arbeit in anderen, früheren Fällen geht, handelt es sich um ein Referenzurteil. Die Urteilsbegründung bietet einen Einblick in die Vorgehensweise bei Sprach- und Herkunftsanalysen und illustriert, was den Asylsuchenden im Verfahren abverlangt wird.
Die Lingua-Analyse basiert auf einem Telefongespräch, das eine Person aus dem Herkunftsland (in diesem Fall aus Tibet) mit dem Asylsuchenden führt. Das Gespräch wird aufgezeichnet, worüber der Betroffene aufgeklärt wird – nicht aber darüber, dass das Gespräch als Grundlage für eine spätere Sprach- und Herkunftsanalyse dient. Diese Analyse wird dann gestützt auf die Gesprächsaufnahme von einem Lingua-Experten vorgenommen – in diesem Fall von AS19, einem Westeuropäer.
Namen von Klöstern und Pilzen abgefragt
Die Asylsuchenden werden im Telefongespräch ausführlich nach ihren Ortskenntnissen befragt. Die Lingua-Gutachter überprüfen die Antworten anschliessend akribisch. So führte das Staatssekretariat in seiner Stellungnahme an das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Gesuchsteller «einen Fluss sowie drei Klöster richtig bezeichnet» habe.
Ebenfalls korrekt ausgefallen seien seine Angaben zu vor Ort spriessenden Pilzen. Jedoch hätten sich auch «markante Wissenslücken» gezeigt: So habe der Asylsuchende «Dörfer mit Gemeinden und Marktflecken verwechselt», und er habe das «allgemein bekannte Amt des Kreisvorstands nicht benennen können».
Straumann bezeichnete diese Vorwürfe in seiner Beschwerdeschrift als «Haarspalterei». Es sei krampfhaft versucht worden, Widersprüche zu konstruieren. Auch der Verdacht einer China-Nähe von AS19 wurde in der Beschwerde vorgebracht: Der Analyst arbeite auf der Grundlage nicht ausgewiesener Quellen, heisst es dort. «Diese stammen vermutlich vorwiegend von der chinesischen Regierung und seien als Staatspropaganda zu werten.»
Der Gutachter sei zu verpflichten, sein Verhältnis zur chinesischen Regierung und zur Repression in Tibet offenzulegen. Das in der Beschwerde festgehaltene Fazit von Straumann: Lingua sei eine «Dunkelkammer mit Raum für Willkür».
Bundesverwaltungsgericht weist Beschwerde ab
Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde ab. Die von AS19 erstellte Analyse sei «nachvollziehbar und schlüssig», hält es in der Urteilsbegründung fest. Der Asylsuchende spreche ein Dialektgemisch, das sich nicht vollständig mittels angeblicher Anpassung an die Interviewerin begründen lasse. Schliesslich sei er im Interview explizit aufgefordert worden, seinen Heimatdialekt zu sprechen. Zu seiner Herkunftsregion habe der Asylsuchende «durchaus substanzvolle Angaben» gemacht.
Doch auch das Bundesverwaltungsgericht legt die Messlatte hoch und bemerkt, dass «Aussagen zu den Veränderungen im Dorf sehr oberflächlich» ausgefallen seien und sich der Asylsuchende «auch zum Bau einer markanten Brücke sehr vage äusserte».
Grundsätzlich kommt das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, «dass die Qualität und Aussagekraft der von AS19 erstellten Lingua-Analysen grundsätzlich nicht zu beanstanden» seien. Die Kompetenz von AS19 sei «als gewährleistet zu bezeichnen». Den offengelegten Daten sei keine ungebührliche Nähe zu den chinesischen Behörden zu entnehmen.
Kritik übt das Bundesverwaltungsgericht an der – auch im AS19-Fall angewandten – Praxis, wonach die Lingua-Analysen nicht mit Klarnamen unterzeichnet wurden. Auch dem Gericht war die Identität von AS19 offenbar zuerst nicht bekannt, mittlerweile sei sie ihm vom Staatssekretariat aber umfassend offengelegt worden. Es schreibt plädoyer auf Anfrage, dass seit dem 1. April 2021 alle Sachverständigen ihre Berichte mit einem Code unterschreiben würden. «So ist klar ersichtlich, dass es sich nicht um eine echte Unterschrift handelt, und eine eventuelle Verwechslung mit einer unbeteiligten Drittperson ist ausgeschlossen.»
Am Grundsatz der Anonymisierung der Gutachter gegenüber den Asylsuchenden und ihren Rechtsvertretern rüttelt das Bundesverwaltungsgericht auch im AS19-Urteil nicht. Ebenso wenig am «erhöhten Beweiswert» der Lingua-Analyse.
Argumente der Beschwerde «nicht ernst genommen»
Rechtsvertreter Benno Straumann kritisiert das AS19-Urteil. Weder die Argumente der Beschwerdeführer noch jene der Tibetologen seien ernst genommen worden. «Ich gehe davon aus, dass das Bundesverwaltungsgericht schlicht nicht bereit war, eine mehrjährige Praxis über den Haufen zu werfen.» Hätte es AS19 als Gutachter in diesem Fall in Frage gestellt, hätte es auch zahlreiche andere Urteile vergangener Jahre, welche sich auf Analysen von AS19 stützen, in Wiedererwägung oder Revision ziehen müssen.
Straumann wird das Urteil nicht an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg weiterziehen. Der betroffene Asylsuchende befinde sich in einer Berufslehre, primäres Ziel sei es, dass er diese abschliessen könne. Straumann hofft auf eine Ausnahmebewilligung. Eine Rückführung nach China droht tibetischen Asylsuchenden zurzeit nicht.
Kritik an Lingua: «Im Zweifel gegen die Gesuchsteller»
Nicht nur Anwälte und Rechtsvertreter von Asylsuchenden üben Kritik an den Analysen der Fachstelle Lingua. In einer Stellungnahme zuhanden der parlamentarischen Gruppe Tibet äusserte 2022 auch der Berner Linguist Marius Zemp Bedenken an der LinguaPraxis.
Zemp war zwischen 2007 und 2018 für Lingua tätig und erstellte laut eigenen Angaben ein gutes Dutzend Herkunftsgutachten. «Aus wissenschaftlicher Sicht ist aufgrund der von Lingua durchgeführten Interviews mit tibetischen Asylsuchenden eine Hauptsozialisierung ausserhalb Chinas kaum nachweisbar», schreibt Zemp. Tibetische Asylsuchende stünden nach der Flucht aus ihrer Heimat unter einem «gewaltigen Akkommodationsdruck», so Zemp.
«Wenn eine Tibeterin in einem Lingua Interview so sprechen soll, wie sie zu Hause gesprochen hat, nachdem sie diesen Dialekt seit Verlassen ihrer Heimat erfolgreich unterdrückt hat, kann man mitnichten davon ausgehen, dass es ihr gelingen wird, dieser Aufforderung nachzukommen.»
Sprache strebe stets gegenseitiges Verständnis an und werde an den Adressaten angepasst. Zemp stellte seine Tätigkeit für die Fachstelle Lingua ein, nachdem er in einem Gutachten die Herkunftsangabe eines Asylsuchenden als plausibel erachtet hatte – und seine Argumentation von Lingua als «zu dünn» bezeichnet worden sei. «Ich hatte das Gefühl, dass die Analysen im Zweifel zuungunsten der Gesuchsteller ausfallen», sagt Zemp gegenüber plädoyer.
Kurswechsel im Umgang mit Tibetern
Während des Kalten Kriegs zeigte sich die Schweiz gegenüber Schutzsuchenden aus Tibet offen. Sie war europaweit sogar das erste Land, das diese aufzunehmen begann. 2013 wurde zwischen der Schweiz und China ein Freihandelsabkommen unterzeichnet, das am 1. Juli 2014 in Kraft trat. «Der Begriff Menschenrechte findet darin keine Erwähnung. Ebenso wenig sind Minderheiten und Minderheitenschutz Gegenstand des Vertragswerks»,
schrieb die Gesellschaft für bedrohte Völker 2018.
Im Zeitraum des Inkrafttretens des Abkommens habe sich auch der Umgang der Schweiz mit Tibetern geändert. 2014 harmonisierte das Staatssekretariat für Migration etwa die Herkunftsbezeichnung in den Ausländeraus weisen von Tibetern. Seither gilt nur noch die Bezeichnung «China (Volksrepublik)». Zuvor war nebst dieser Bezeichnung die Herkunftsbezeichnung «Tibet» möglich.
Gemäss Benno Straumann, der in den letzten Jahren mehrere Tibeter in Asylver fahren betreute, habe sich mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens auch die Asylpolitik im Umgang mit Tibetern geändert. Bis 2013/14 seien Aufenthaltsbewilligungen grosszügig erteilt worden, danach sei die Praxis deutlich repressiver geworden. Aussagekräftige Zahlen existieren dazu jedoch nicht. Das Staatssekretariat für Migration weist nur die Anzahl Entscheide aus, die Personen «chinesischer Staatsangehörigkeit» betreffen. Tibeter sind mitgemeint, neben weiteren Ethnien.