Marcel Niggli, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg, plädiert in der «Weltwoche» (Ausgabe 1/2018) für eine Annahme der «Selbstbestimmungsinitiative» der SVP. Seine Argumentation: Das Anliegen der Initianten fordere Selbstverständliches. Die Geltung der Menschenrechte in der Schweiz würde durch eine Annahme des Begehrens keineswegs beeinträchtigt. Zur Frage, wer im Einzelfall über die Anwendung und Auslegung der Menschen- und Grundrechte bestimmen darf, sagt Niggli: «Wir machen unsere Gesetze selbst und entscheiden auch selbst über deren Anwendbarkeit und Auslegung.»
Niggli nennt Deutschland als positives Beispiel. Dort habe das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass alle staatlichen Organe die Strassburger Entscheide beachten müssten. Niggli betont: «In Deutschland kommt der EMRK der Rang eines Bundesgesetzes zu. Sie steht also normhierarchisch unter der Verfassung.» Zwar werde der EMRK durch konventionskonforme Auslegung der Grundrechte grösstmögliche Wirkung verschafft. Über die Auslegung entscheide aber das Verfassungsgericht. Urteile des EGMR dienten bloss als Auslegungshilfe. Das Verfassungsgericht stelle unmissverständlich klar, «dass die Souveränität Deutschlands vorgeht in Konfliktfällen, die nicht anders zu lösen sind».
Der Vergleich von deutschem Grundgesetz und Schweizer Bundesverfassung hinkt, so der Zürcher Völkerrechtler Daniel Moeckli. «Die Bundesverfassung ist viel dynamischer, sie ändert sich ständig, nämlich mit jeder Annahme einer eidgenössischen Volksinitiative.» Dementsprechend könnten jederzeit Widersprüche zur EMRK Eingang in die Verfassung finden, «was ja in den letzten Jahren immer wieder passiert ist». Das deutsche Grundgesetz könne nur schwierig abgeändert werden, «schon gar nicht nach dem Gusto des Volks». Dementsprechend sei es EMRK-konform und werde es auch bleiben.
Eines der global stärksten Verfassungsgerichte
Der Luzerner Rechtsprofessor Sebastian Heselhaus doppelt in diesem Punkt nach: Deutschland habe – vergleichbar mit dem Supreme Court der USA – eines der stärksten Verfassungsgerichte der Welt. «Das Verfassungsgericht kann mit den Grundrechten der Verfassung den Gesetzgeber jederzeit in die Schranken weisen und Bundesgesetze verwerfen. Das kann das Schweizerische Bundesgericht nicht.»
Auch Heselhaus weist darauf hin, dass die Bundesverfassung im Vergleich mit anderen Verfassungen relativ leicht abänderbar sei. Es gebe kaum inhaltliche Schranken im System, weshalb auch Widersprüche zu den EMRK-Verpflichtungen eingeführt werden könnten. Umgekehrt kenne er aber keinen Fall, in dem der Bundesrat einen völkerrechtlichen Vertrag eingegangen wäre, der der Bundesverfassung widerspreche. Die EMRK sei zudem durch Bundesbeschluss – also durch das Parlament – ratifiziert worden.
Schweizer Recht prägt auch internationales Recht
Nigglis Position «vermittelt ein introvertiert-nationalistisches Weltbild der Schweiz, während die Essenz der Menschenrechte gerade in der Mitverantwortung für den Schutz von Opfern auch in anderen Ländern liegt», so der Zürcher Staatsrechtler Daniel Thürer. Der Zürcher Rechtsprofessor Matthias Mahlmann betont: «Die Eingliederung in eine Völkerrechtsordnung ist kein Souveränitätsverlust.» Im Gegenteil. Die internationale Koordination von staatlichem Handeln schaffe neuen politischen Handlungsspielraum.
Mahlmann verweist darauf, dass der EGMR immer wieder wichtige Anregungen für die Entwicklung des nationalen Rechts gebe: «Umgekehrt gilt, dass das nationale Recht auch die internationalen Rechtskreise prägt.» So bestätigte der EGMR-Entscheid «Osmanoðlu et Kocaba c. Suisse», die Schweizer Rechtsprechung zur Teilnahme am Schwimmunterricht. Die Schweiz habe damit einen Beitrag zur Konturierung des Rechts der Glaubensfreiheit und seiner Grenzen in Europa geleistet.