José Luis Pecina Alcalá ist Strafrechtsprofessor an der Universität von Monterrey und zugleich Richter am Strafgericht Nuevo Léon. Er hält von Montag bis Freitag Vorlesungen im Straf- und Strafprozessrecht. Sehr früh, jeweils von sieben bis acht Uhr, manchmal auch abends. Seit dreissig Jahren ist Pecina auch in der Justiz tätig. Aktuell behandelt er an bestimmten Tagen als Sachrichter oder als Zwangsmassnahmenrichter bis zu 14 Fälle.
An diesem Morgen befinden sich in seiner Vorlesung unter den Zuschauern nebst Studenten auch viele Rechtspraktiker: Anwälte, Staatsanwälte und Gerichtsschreiber. Das hat einen Grund: Mexiko beschloss 2016 eine Strafrechtsreform, die ihresgleichen sucht. Pecina war massgeblich an der Reform beteiligt. Heute unterrichtet er aktuelle Brennpunkte der neuen Strafprozessordnung, bevor er ans Strafgericht von Monterrey geht, um in einem Vergewaltigungsfall zu entscheiden.
Mexikos Strafrecht wurde von den spanischen Eroberern in der Kolonialzeit eingeführt. Es stammte aus dem Europa des 14. Jahrhunderts und bestimmte das mexikanische Justizwesen in seinen Grundzügen bis zur Reform von 2016. Charakteristisch war die Personalunion von Ankläger und Richter. Wer für die Ermittlungen zuständig war, fällte auch das Urteil. Die richterlichen Entscheide wurden vom Schreibtisch aus und geheim gefällt. Eine mündliche Verhandlung war nicht vorgesehen, auch keine Verteidigung der Angeklagten. Laut Pecina waren Angeklagte eigentliche Objekte des Strafverfahrens.
Tatverdächtige mussten ihre Unschuld beweisen
Dieses inquisitorische System setzte sich auch nach der Unabhängigkeit Mexikos und mit der neuen mexikanischen Verfassung von 1917 weiterhin durch. Damals wurde das Ministerio Publico geschaffen. Es entsprach dem Institut der Staatsanwaltschaft und führte die Strafuntersuchungen in einem geheimen Aktenprozess, ohne dass die Beschuldigten zwingend vom Verfahren Kenntnis erlangten – und ohne jede Parteirechte der Beschuldigten.
Der Grundsatz der Unschuldsvermutung war unbekannt. Vielmehr hatte jemand, der von der Polizei aufgegriffen und zum Tatverdächtigen erklärt wurde, in der Regel seine Unschuld selbst zu beweisen, um eine Verurteilung zu umgehen. Die Staatsanwaltschaft war eng mit der Politik liiert – wie auch Teile der Richterschaft. Die Justizorgane waren de jure und de facto nicht unabhängig.
Diese frühere Strafprozessordnung führte nicht zu einer erhöhten Aufklärungsrate. Korruption und Ressourcenknappheit behinderten die Strafermittlungen. Die Staatsanwaltschaft ordnete nur in knapp einem Fünftel aller Mordfälle die Sicherung der Beweise an. Bei Vermögensdelikten war die Rate noch tiefer. Wichtigstes Beweismittel war das Geständnis. Einer Strafe entgehen konnten die Angeklagten in der Regel nur, wenn sie ihre Unschuld klar beweisen konnten. Verteidiger hatten keine Rechte ausser dem Recht auf Berufung. Im Ermittlungsverfahren gab es weder ein Recht auf Akteneinsicht noch auf Beweisanträge. Man ging davon aus, dass Beschuldigtenrechte der Wahrheitsfindung und der Effizienz des Verfahrens abgträglich seien. Dennoch führte dieses System zu endlosen Prozessen und zu Beschuldigten, die in der Untersuchungshaft vergessen wurden.
Das verbesserte sich laut Pecina mit der Reform von 2016 markant. Sie führte zwingend ein mündliches Verfahren ein. Darin spielen auch Strafverteidiger eine Rolle. Dennoch gibt es kaum Anwälte, die in der Lage sind, Angeklagte adäquat zu verteidigen. Deshalb unterrichtet Pecina Praktiker in der neuen Prozessordnung.
Die Entwicklung in Mexiko ist auf die Rechtsprechung des 1979 gegründeten interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR) zurückzuführen. Er stärkte die Verfahrensrechte. Zuvor hatten bereits Chile, Argentinien und andere südamerikanische Staaten nach dem Ende der Diktaturen den Strafprozess reformiert und versucht, ein menschenrechtskonformes Strafrecht zu schaffen.
Die Verhandlungen in Mexiko sind nun öffentlich, die Hauptverhandlung wird aufgenommen und es gilt das gesprochene Wort. Beschuldigte erhalten schon in der Untersuchung Akteneinsicht. Man kann Beweisanträge stellen und Zeugen befragen.
Strafverteidiger müssen ein selbstbewusstes Rollenverständnis entwickeln. Auch die Rolle des Richters ist heute wichtiger. Er muss an der Verhandlung teilnehmen und die Beweise unmittelbar zur Kenntnis nehmen sowie über deren Verwertbarkeit entscheiden.
Präventives Strafrecht wieder im Kommen
Warum dauerte es bis 2016, bis die Reform beschlossen wurde? Pecina glaubt, das habe mit dem 2006 durch Präsident Calderón ausgerufenen «Drogenkrieg» gegen die Kartelle zu tun. Der Fokus lag auf einer Stärkung der Bundespolizei und des Militärs zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Pecina stellt aktuell wieder eine Gegenreform gegen die menschenrechtlichen Fortschritte fest. Vielleicht liege es daran, dass die Unschuldsvermutung von gewissen Leuten als Hindernis im Kampf gegen die Kriminalität betrachtet werde.
Für Pecina zeigt sich diese Gegenreform in der wieder ausufernden Anordnung der Untersuchungshaft. Zwar hatte die grosse Strafrechtsreform erstmals genau definiert, wann und aus welchen Gründen jemand in Untersuchungshaft gesetzt werden darf. So sollte die U-Haft in Einklang mit der Unschuldsvermutung und Verhältnismässigkeit gebracht werden.
Heute werden laut Pecina Beschuldigte wieder vermehrt aus präventiven Gründen inhaftiert. Für gewisse Straftaten wird automatisch Untersuchungshaft angeordnet, da das Gesetz dafür eine unwiderlegbare Vermutung der Wiederholungsgefahr aufstellt, so etwa bei Einbruchdiebstahl. Aktuell befindet sich fast die Hälfte aller Gefangenen in U-Haft – die meisten aus präventiven Gründen.
Pecina begründet die hohe Zahl mit der Angst vor steigender Kriminalität. Die Antwort darauf sei kriminalpolitischer Populismus, der meist die ärmere Bevölkerung treffe – nicht die organisierte Kriminalität. Doch die seit Amtsantritt von Präsident Calderón praktizierte Politik der harten Hand verhinderte die ansteigende Gewaltkriminalität nicht. Die Mordrate ist heute so hoch wie noch nie. Die Verurteilung Unschuldiger und die kategorische Inhaftierung von Verdächtigen trägt nach Pecina nichts zur Kriminalitätsbekämpfung bei. Die tatsächlichen Straftäter würden oft auf freiem Fuss bleiben. Der Staat wird von der Bevölkerung nur als ein weiterer krimineller Player wahrgenommen. Das Instituto Nacional de Estadística y Geografía hält fest, dass 85 Prozent der Mexikaner kein oder wenig Vertrauen in die Polizei haben. Das manifestiert sich in einer Anzeigerate von 5 Prozent der Delikte.
Pecina macht klar: Solange die Menschenrechte im Strafprozess nicht in den Köpfen von Richtern und Staatsanwälten ankommen und Verfahrensgrundrechte nicht in die Praxis umgesetzt werden, gibt es die Beschuldigtenrechte nur auf dem Papier. Mit der Reform des Strafprozessrechts wurden Weichen für ein faires Verfahren stellt. Doch es bleibe ein weiter Weg, bis der kulturelle Wandel in der Justiz vollzogen sei.
Korruption der politischen Elite behindert Reform
Klar ist für Pecina auch, dass es tiefgreifende systemische Änderungen braucht, die über die Justiz hinausgehen und vorab die Korruption der politischen Elite angeht. Solange von oben aus politischem Aktivismus eine Gegenreform gegen die Strafrechtsreform angestrengt werde, würde sich wenig zum Besseren wenden. Und die organisierte Kriminalität fresse sich weiter wie ein Krebs in die Gesellschaft hinein.