Wer seit dem 1. Oktober 2016 als Ausländer eine Katalogstraftat begeht, wird automatisch für 5 bis 15 Jahre des Landes verwiesen, es sei denn, es liege ein Härtefall vor. Der vorliegende Aufsatz soll vier Jahre nach Einführung der neuen Gesetzesbestimmungen im Strafgesetzbuch einen Überblick über die Artikel der Landesverweisung allgemein sowie die von den Gerichten anzuwendenden Kriterien zur Beurteilung der Landesverweisung geben.
1. Die obligatorische Landesverweisung
1.1 Grundsatz der Verhältnismässigkeit
Das Gericht verweist den Ausländer, der wegen einer strafbaren Handlung gemäss Art. 66a StGB verurteilt wird, unabhängig von der Höhe der Strafe für 5 bis 15 Jahre aus der Schweiz. Damit entfällt in sämtlichen Fällen, bei welchen von der Staatsanwaltschaft eine Landesverweisung zu beantragen ist und gestützt auf den Grundsatz «in dubio pro duriore» Anklage zu erheben ist, das Strafbefehlsverfahren. Die Landesverweisung ist von einem Gericht zu beurteilen.
Der Landesverweisung kommt als Massnahme primär eine Sicherungsfunktion zu, indem ein verurteilter ausländischer Straftäter während der Dauer der Landesverweisung auf dem Gebiet der Schweiz keine weiteren Straftaten begehen kann.1 Gleichzeitig unterliegt die Landesverweisung als Massnahme damit dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit.
1.2 Persönliche Voraussetzungen des Täters
Als Ausländer gemäss Art. 66a StGB gelten Personen, die nicht über das schweizerische Bürgerrecht verfügen. Der ausländerrechtliche Status ist grundsätzlich irrelevant. Für Ausländer, die indes gleichzeitig dem Freizügigkeitsabkommen2 unterstehen, gelten gewisse Ausnahmen.
Irrelevant ist weiter, ob die Katalogtat als Allein- oder Mittäter, als Anstifter oder als Versuch begangen wird. Sämtliche Täterschafts- und Teilnahmeformen sind abgedeckt. Weder die Höhe der Strafe spielt eine Rolle, noch ob diese bedingt, teilbedingt oder unbedingt ausgesprochen wird.3 Erreicht der Ausländer das Versuchsstadium eines Katalogtatbestands, ist er grundsätzlich obligatorisch des Landes zu verweisen.
1.3 Aufzählung der Katalogtaten abschliessend
Der Katalog von Art. 66a Abs. 1 StGB enthält Delikte unterschiedlichen Schweregrades. Er ist abschliessend.
Der Einbruchdiebstahl ist speziell unter den im Katalog aufgeführten Artikeln, als dass es sich beim Hausfriedensbruch um ein Antragsdelikt handelt. Mithin hat es ein Antragsteller in der Hand, ob ein Täter des Landes verwiesen wird. Zieht er seinen Antrag zurück, liegt ein Prozesshindernis vor, das Verfahren ist einzustellen – was rechtsstaatlich bedenklich ist.
Der Ladendiebstahl unter Verletzung eines Hausverbots in einem Kaufhaus wird von Art. 66a Abs. 1 StGB nicht erfasst. Bei einem simplen Ladendiebstahl ist keine obligatorische Landesverweisung auszusprechen.4
1.4 Erfordernisse der Härtefallklausel
Von einer obligatorischen Landesverweisung kann abgesehen werden, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen gegeben sind:
1. Es liegt ein schwerer persönlicher Härtefall vor; und
2. das öffentliche Interesse an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz überwiegt nicht.
Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB). In der Lehre ist umstritten, ab wann eine Person als in der Schweiz aufgewachsen gilt. Das Bundesgericht hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt und dabei festgehalten, dass Art. 66a Abs. 2 StGB im Gegensatz zum Migrationsrecht keine Altersgrenze vorsehe. Demnach kann nicht schematisch ab einer gewissen Aufenthaltsdauer von einer Verwurzelung in der Schweiz ausgegangen werden. Die Härtefallprüfung ist in jedem Fall anhand der gängigen Integrationskriterien vorzunehmen.5
In der Schweiz geborene und aufgewachsene Personen haben in aller Regel ein sehr starkes privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz. Bei ihnen dürfte das erste zu erfüllende Kriterium (schwerer persönlicher Härtefall) grundsätzlich gegeben sein, zumal eine vollständige Integration und Verwurzelung regelmässig zu einem persönlichen Härtefall führen dürfte. Auch bei der zweiten Voraussetzung (Interessenabwägung) haben Personen, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind, ein gewichtiges privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz. Das öffentliche Interesse an einer Wegweisung einer in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Person muss daher extrem hoch sein. Mithin muss es sich bei der betroffenen Person um einen schweren Wiederholungstäter handeln, dessen Verschulden bei den zu beurteilenden Delikten sehr schwer wiegt und der für die öffentliche Sicherheit der Schweiz zur Gefahr geworden ist.
Dabei gilt es indes zu berücksichtigen, dass bei der Beurteilung von Wiederholungstätern grundsätzlich nur solche Straftaten berücksichtigt werden dürften, die seit dem 1. Oktober 2016 begangen worden sind, zumal das Rückwirkungsverbot (Art. 2 StGB) eine Berücksichtigung von Straftaten vor dem 1. Oktober 2016 bei der Beurteilung eines Wiederholungstäters im Rahmen der Härtefallprüfung verbietet. Im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung berücksichtigte das Bundesgericht indes auch Vorstrafen, die vor Inkrafttreten der Landesverweisung begangen wurden. Nach der hier vertretenen Auffassung erscheint dies im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot zumindest nicht unproblematisch.6 Auf jeden Fall in Bezug auf die zu beurteilende Tat gilt das Rückwirkungsverbot absolut.7
Ebenso gilt für allfällige Vorstrafen, die der Wiederholungstäter seit Inkrafttreten der Bestimmungen über die Landesverweisung begangen hat, selbstredend auch das Verbot des Vorhaltens eines entfernten Strafurteils gemäss Art. 369 Abs. 7 StGB.
Die Härtefallklausel dient der Umsetzung des Verhältnismässigkeitsprinzips.8 Das Bundesgericht plädiert diesbezüglich indes auf eine restriktive Anwendung der Härtefallklausel. Zur kriteriengeleiteten Prüfung des Härtefalls im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB ist der Kriterienkatalog der Bestimmung über den «schwerwiegenden persönlichen Härtefall» in Art. 31 Abs. 1 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) heranzuziehen.9
Konkret sind folgende Umstände als Härtefallgründe zu betrachten: die Anwesenheitsdauer, die familiären Verhältnisse, die Arbeits- und Ausbildungssituation, die Persönlichkeitsentwicklung, der Grad der Integration sowie die Resozialisierungschancen des Beschuldigten. Erst wenn bei einer Gesamtbetrachtung dieser Kriterien von einem Härtefall auszugehen ist, sind die privaten Interessen des Beschuldigten am Verbleib in der Schweiz gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Wegweisung gegeneinander abzuwägen. Von einer obligatorischen Landesverweisung kann erst dann und nur ausnahmsweise abgesehen werden, wenn das private das öffentliche Interesse bei Vorliegen eines Härtefalls überwiegt.10
Auch wenn die bundesgerichtliche Rechtsprechung hinsichtlich der Anwendung der Härtefallklausel restriktiv ist, wird bei der Annahme eines solchen insbesondere der Anwesenheitsdauer des Beschuldigten in der Schweiz viel Gewicht beigemessen.11 Dabei fällt regelmässig ganz wesentlich ins Gewicht, wenn der Beschuldigte in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist.12
1.5 Notwehr und Notstand als Rechtfertigungsgründe
Von einer Landesverweisung kann ferner abgesehen werden, wenn die Tat in entschuldbarer Notwehr (Art. 16 Abs. 1) oder in entschuldbarem Notstand (Art. 18 Abs. 1) begangen wurde (Art. 66a Abs. 3 StGB).
Mit der expliziten Erwähnung der Bestimmungen der Art. 16 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 StGB im Gesetz wird weiter klar, dass die Bestimmung ausschliesslich auf die entschuldbare Notwehr oder den entschuldbaren Notstand anzuwenden ist. Andere Fälle von Strafmilderungen werden von Art. 66a Abs. 3 nicht erfasst.13
2. Nicht obligatorische Landesverweisung
Mit der Bestimmung von Art. 66abis StGB hat der Gesetzgeber explizit die Möglichkeit vorgesehen, dass das Gericht einen Ausländer für 3 bis 15 Jahre des Landes verweisen kann, wenn er wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das nicht von Artikel 66a StGB erfasst wird, zu einer Strafe verurteilt oder gegen ihn eine Massnahme nach den Art. 59 bis 61 oder 64 angeordnet wird.
Die Verhängung einer nicht obligatorischen Landesverweisung dürfte indes in der Praxis die Ausnahme bilden. Die nicht obligatorische Landesverweisung zielt insbesondere auf Kriminaltouristen und auf Wiederholungstäter.14
Heimgartner ist darin zuzustimmen, dass bei den von Art. 66a StGB nicht erfassten Delikten eine erhebliche Schwere vorliegen und im Einzelfall die negative Legalprognose aus spezialpräventiver Sicht diese Massnahme indizieren muss.15 Wie auch bei der Prüfung der Härtefallklausel ist bei einer nicht obligatorischen Landesverweisung stets eine Verhältnismässigkeitsprüfung vorzunehmen. Das Gericht hat die sicherheitspolizeilichen Interessen der Schweiz an einer Fernhaltung gegen das private Interesse des Beschuldigten an einem Verbleib in der Schweiz abzuwägen.
Im Rahmen des privaten Interesses sind die gleichen Kriterien zu beachten, die auch bei der Härtefallklausel Anwendung finden.
Gerade bei der nicht obligatorischen Landesverweisung stellt sich im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung in jedem Fall die Frage der Erforderlichkeit der Massnahme. Im Gegensatz zu Strafen, die schuldangemessen zu sein haben, beziehen sich Massnahmen weder vom Grundsatz her noch in Bezug auf ihr Ausmass auf eine irgendwie geartete Schuld des Täters. Während sich Strafen vornehmlich auf eine Tat beziehen, erfolgt bei Massnahmen hauptsächlich eine Orientierung an der Person des Täters und dessen Sozialgefährlichkeit.16
Die nicht obligatorische Landesverweisung ist in der Regel ab einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu prüfen. Bei Wiederholungstätern kann sich eine Prüfung aber auch bei kürzeren Strafen rechtfertigen.
Mit Blick auf den historischen Willen des Gesetzgebers17 ist grundsätzlich festzuhalten, dass mit kriminellen Ausländern streng zu verfahren ist. Immer dann, wenn die Voraussetzungen für eine obligatorische Landesverweisung nicht gegeben sind und bereits angeordnete ausländerrechtliche Massnahmen keine Wirkung hatten, kann auch bei weniger gravierenden Delikten als Anlasstaten die nicht obligatorische Landesverweisung ausgesprochen werden. Dies ist namentlich im Wiederholungsfall oder bei Kriminaltouristen so.
Zu prüfen sind in diesem Rahmen neben der Art der Tatbegehung, der kriminellen Energie, dem Zeitablauf seit der Tatbegehung und dem seitherigen Verhalten des Beschuldigten auch die Vorstrafen, die Zukunftsprognose, die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz, der Integrationsgrad, die beruflichen Perspektiven, die familiäre und soziale Bindung zur Schweiz sowie die Möglichkeit der Wiedereingliederung im Herkunftsland.18
Der Umstand, dass es sich beim Beschuldigten um einen Grenzgänger handelt, der nahe an der Grenze zur Schweiz wohnt, kann bei der Prüfung der fakultativen Landesverweisung indes nicht berücksichtigt werden.19
3. Aufschub des Vollzugs
Der Vollzug der obligatorischen Landesverweisung nach Art. 66a StGB kann nur aufgeschoben werden, wenn sich ein Verurteilter auf das Rückschiebungsverbot (Art. 66d Abs. 1 lit. a StGB) oder auf andere zwingende Bestimmungen des Völkerrechts berufen kann, die der Landesverweisung entgegenstehen würden (Art. 66d Abs. 1 lit. b StGB). Kann sich ein Verurteilter nach Art. 5 Abs. 2 des Asylgesetzes nicht auf das Rückschiebeverbot berufen, so kann auch der Vollzug der obligatorischen Landesverweisung nicht aufgeschoben werden.
Das Non-Refoulement-Gebot ist im Stadium des Vollzugs – mithin von den zuständigen Vollzugsbehörden und nicht vom Sachgericht – zu prüfen. Selbstredend gilt das in Art. 66d StGB verankerte Prinzip auch für die nicht obligatorische Landesverweisung, auch wenn diese nicht ausdrücklich erwähnt wird.20
Ist Art. 5 Abs. 1 des Asylgesetzes erfüllt, kommt einer Person mithin Flüchtlingseigenschaft zu und ist durch den Vollzug der Landesverweisung sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauungen gefährdet, so ist der Vollzug aufzuschieben. Die zuständige Behörde hat hier kein Ermessen.21 Die Ausnahme gemäss Art. 5 Abs. 2 des Asylgesetzes ist sehr restriktiv anzuwenden.22 Alleine die Verurteilung wegen einer Katalogstraftat im Sinne von Art. 66a Abs. 1 dürfte dafür in der Regel nicht ausreichen.23 Um das Non-Refoulement-Gebot aufzubrechen, bedarf es eines besonders schweren Verbrechens im Zusammenhang mit einer konkreten Wiederholungsgefahr.24
Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass Personen mit einem anerkannten Flüchtlingsstatus bei der Prüfung der Landesverweisung vor dem Sachgericht zwar gleich zu behandeln sind, im Rahmen des darauf folgenden Vollzugs indes gestützt auf das Non-Refoulement-Gebot einen höheren Schutz geniessen.
4. Dauer der Landesverweisung
Die Dauer der Landesverweisung beträgt bei Art. 66a StGB (obligatorische) 5 bis 15 Jahre, bei Art. 66abis StGB (nicht obligatorische) 3 bis 15 Jahre. Bei der Bemessung der Dauer der auszusprechenden Landesverweisung kommt dem Gericht ein grosser Ermessensspielraum zu.
5. Völkerrechtliche Verträge
5.1 Recht auf Privat- und Familienleben
Gemäss Art. 8 Ziff. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Aus Art. 8 Ziff. 1 EMRK lässt sich indes kein Anspruch auf Einreise und Aufenthalt oder auf einen besonderen Aufenthaltstitel ableiten.
Das in Art. 8 EMRK oder auch Art. 13 BV geschützte Recht ist dann berührt, wenn eine staatliche Entfernungs- bzw. Fernhaltemassnahme wie die Landesverweisung eine nahe, echte und tatsächlich gelebte familiäre Beziehung einer in der Schweiz gefestigt anwesenheitsberechtigten Person beeinträchtigt, ohne das es dieser ohne Weiteres möglich bzw. zumutbar wäre, ihr Familienleben andernorts zu pflegen.
Ist die Wegweisungsmassnahme aber gesetzlich vorgesehen und entspricht sie zugleich einem legitimen Zweck im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK, dessen Realisierung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig erscheint, ist sie auch dann nicht unzulässig.25 Auch nach der Praxis des EGMR in Bezug auf Betäubungsmitteldelikte überwiegt das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes regelmässig, sofern keine besonderen persönlichen und familiären Bindungen im Aufenthaltsstaat bestehen.26
Eine normale familiäre und emotionale Beziehung reicht sodann nicht aus, um einen Aufenthaltsanspruch zu begründen.27
5.2 Genfer Flüchtlingskonvention
Gemäss Art. 32 Abs. 1 der Flüchtlingskonvention (SR 0.142.30) weisen die vertragsschliessenden Staaten einen Flüchtling, der sich rechtmässig auf ihrem Gebiet aufhält, nur aus Gründen der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung aus.
Art. 32 Abs. 1 steht aber eine Landesverweisung dann nicht entgegen, wenn ein Beschuldigter eine reale gegenwärtige Gefahr von einer gewissen Schwere für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in der Schweiz darstellt.28
5.3 Abkommen über die Personenfreizügigkeit
Das Freizügigkeitsabkommen steht einer Landesverweisung nicht per se entgegen.29 Zwar ist grundsätzlich vom Vorrang von Art. 5 Anhang I FZA gegenüber den Bestimmungen zur Landesverweisung im Sinne von Art. 66a StGB auszugehen.30 Das FZA berechtigt zu einem doppelt bedingten Aufenthalt in der Schweiz, nämlich einerseits nach Massgabe der spezifischen Vertragsvereinbarungen als Voraussetzung eines rechtmässigen Aufenthalts und andererseits nach Massgabe des rechtskonformen Verhaltens im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA.31 Wenn die Landesverweisung zum Schutze der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verhältnismässig ist, steht ihr auch das FZA nicht entgegen.32
6. Schengener Informationssystem
Im Falle der Anordnung einer Landesverweisung gegenüber sogenannt «Drittstaatenangehörigen» hat das Gericht auch über die Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem zu entscheiden (N-SIS Verordnung vom 8.3.2013; SR 362.0).
Eine Ausschreibung erfolgt dann, wenn der Drittstaatenangehörige eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer einer Straftat wegen verurteilt wurde, welche mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist oder wenn gegen den Drittstaatenangehörigen ein begründeter Verdacht besteht, dass er eine schwere Straftat begangen hat oder konkrete Hinweise vorliegen, dass er solche Taten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates plant (vgl. Art. 96 des Schengener Durchführungsübereinkommens [SDÜ]).
Begeht der Beschuldigte ein Delikt, welches mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht ist (abstrakte Mindeststrafe wie bspw. in Art. 19 Abs. 2 BetmG) und verfügt die betroffene Person über kein Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat, ist die Landesverweisung grundsätzlich ohne Weiteres im Schengener Informationssystem (SIS) auszuschreiben.33
Obwohl dem Wortlaut zufolge eine abstrakte Mindeststrafe von einem Jahr für eine Ausschreibung genügt, sollte eine solche aber nur bei schweren Straftaten erfolgen.34 Jedenfalls hat auch der richterliche Entscheid über die Ausschreibung der Landesverweisung im Schengener Informationssystem einer Verhältnismässigkeitsprüfung standzuhalten. Das Gericht hat darüber zu befinden, ob Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung des Falles eine Aufnahme in das SIS rechtfertigen (Art. 21 SIS-II-Verordnung). Damit wird die abstrakte Mindeststrafe von einem Jahr erheblich relativiert.
Gerhard Fiolka / Luzia Vetterli, «Die Landesverweisung nach Art. 66a StGB als strafrechtliche Sanktion», in: plädoyer 5/2016, S. 82 f.
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit; SR 0.142.112.681.
BGE 144 IV 171, mit Verweis auf die Botschaft (BBl 2013, S. 5975).
BGE 145 IV 404, E. 1.5.3.
Vgl. zum Ganzen BGE 146 IV 105, E. 3.4.
Vgl. BGer 6B/607_2018 vom 10.10.2018.
Vgl. zum Rückwirkungsverbot
auch Fanny De Weck, Art. 66a N 5 StGB, in: Marc Spescha et al. (Hrsg.), Migrationsrecht Kommentar, 4. Aufl., Zürich 2015.
Vgl. BGer 6B_87/2020 vom 2.9.2020, E. 1.2.1 mit Verweis auf Art. 5 Abs. 2 BV;
BGE 146 IV 105, E. 3.4.2;
BGE 144 IV 332, E. 3.1.2.
Vgl. BGE 146 IV 105, E. 3.4.2 mit Verweis auf BGE 144 IV 332, E. 3.3.2 und BGer 6B_689/2019 vom 25.10.2019, E. 1.7.
Vgl. zum Ganzen BGer 6B_1286/2017 vom 11.4.2018, E. 1.2; 6B_659/2018 vom 20.9.2018,
E. 3.3.1; Zurbrügg / Hruschka, Art. 66a N 101 f, Basler Kommentar StGB.
BGer 6B_209/2018 vom 23.11.2018, E. 3.
BGE 144 IV 341 f.; BGer 6B_627/2018, E. 1.5.
BGer 6B_1379/2017 vom 25.4.2018, E. 1.3.
Vgl. Obergericht Schaffhausen, Urteil OGE 50/2017/29 vom 28.8.2018, E. 9.4.
Stefan Heimgartner, Art. 66abis N 1 StGB, in: Andreas Donatsch et al., StGB/JStG Kommentar, 20. Aufl., Zürich 2018.
Vgl. zur ganzen Entstehungsgeschichte der Massnahmen Marianne Heer, Art. 56 N 1 ff., in: Marcel Alexander Niggli / Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl., Basel 2018; BGE 120 IV 1.
Vgl. Amtliches Bulletin der Bundesversammlung vom 10.12.2014, Geschäft Nr. 13.056 betreffend StGB und MStGB, Ausschaffung krimineller Ausländer, S. 1236 ff.; Kantonsgericht Basel-Landschaft, Entscheid 460 17 66 der Abteilung Strafrecht vom 25.7.2017, E. 4.4.
In Analogie zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Ausländerrecht: BGer 2C_935/2014 vom 11.5.2015, E. 2.1 ff.
Vgl. Kantonsgericht Basel-Landschaft, Entscheid 460 18 107 der Abteilung Strafrecht vom 7.8.2018, E. 3.3.5.
Stephan Schlegel, Art. 66d N 1, Handkommentar StGB.
Zurbrügg / Hruschka, Art. 66d N 5, Basler Kommentar StGB.
Vgl. BGE 135 II 114.
So auch Botschaft: BBl 2013, S. 6034.
BGer 2A.51/2006 vom 8.5.2006, E. 5.2.
BGer 6B_680/2018 vom 19.9.2018, E. 1.4.
BGE 139 I 16, E. 2.2.2.
BGer 6B_680/2018 vom 19.9.2018, E. 1.5 mit Verweis auf BGE 144 II 1, E. 6.6.
Abteilung Strafrecht Kantonsgericht Basel-Landschaft, Entscheid 460 18 297 vom 8.1.2019, E. 2.7.
Vgl. zur Thematik BGer 6B_378/2018 vom 22.5.2019.
BGE 142 II 38 ff.
BGE 134 IV 370.
BGE 145 IV 364 (Regeste).
Obergericht des Kantons Zürich, Urteil SB170246, E. III.3. mit Verweis auf das Urteil C-4656/2012 des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.9.2015 m.w.H.
Nicole Schneider / Diego R. Gfeller, Landesverweisung und das Schengener Informationssystem, in: Sicherheit & Recht 1/2019, S. 11.