plädoyer: Die Massnahmen des Bundesrats während der Coronapandemie betrafen praktisch alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Eine solche Machtfülle hatten zuletzt in Europa fast nur Monarchen.
Andreas Stöckli: Ja, es kam wirklich zu einer enormen Machtverschiebung hin zur Exekutive. Die Regierung musste aber handeln – vor allem vor dem Hintergrund, dass ein Parlament in ausserordentlichen Lagen aufgrund verschiedener Faktoren weniger gut in der Lage ist, rasch und effektiv zu agieren. Dazu kam, dass der Parlamentsbetrieb im Bundeshaus mitten in der Krise nicht aufrechterhalten werden konnte, da der Gesundheitsschutz der Volksvertreter nicht mehr gewährleistet war. Das zeigt aber auch: Wir müssen in Notsituationen sicherstellen, dass dieser Machtzuwachs zugunsten der Exekutive nicht missbraucht wird. Diesbezüglich kommt dem Parlament eine wichtige Rolle zu. Diese Forderung ist dringlich, da die bundesrätlichen Massnahmen in sehr weitgehender Weise in die grundrechtlichen Freiheiten eingreifen. Erforderlich ist auch eine kritische Öffentlichkeit.
Gemäss dem Basler Staatsrechtler Markus Schefer wurden die bundesrätlichen Massnahmen von der Mehrheit der Bevölkerung nicht aus Vernunft getragen, sondern viel mehr wegen der breit und professionell orchestrierten Kampagne des Bundesrates auf allen öffentlichen Kanälen.
Ich hatte eher das Gefühl, dass es vor allem die Medien waren, welche die Kontrolle über die Regierung übernahmen, indem sie tagtäglich jeden Schritt und jede Entscheidung der Regierung öffentlich machten und zum Teil auch kritisierten. Das Parlament hat in Bezug auf die Handlungen des Bundesrats zwar Kontrollrechte, doch sind sie vorwiegend nachträglicher Natur. Dies ist einer der Faktoren, weshalb das heutige demokratisch-rechtsstaatliche Sicherungsnetz in ausserordentlichen Lagen ungenügend ist.
Welche Massnahmen schlagen Sie vor, um den demokratischen Rechtsstaat abzusichern?
Artikel 7 des Epidemiengesetzes und Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung verschaffen der Regierung ziemlich weitreichende Notrechtsbefugnisse, um in einer ausserordentlichen Lage, namentlich in einer Pandemie, agieren zu können. Der Bundesrat bestimmt selbst, also ohne das Parlament einzubeziehen, ob eine ausserordentliche Lage gegeben ist. Er bestimmt auch das Ende der ausserordentlichen Lage. Die Notverordnungen müssen zwar befristet und nach einer gewissen Zeit in Parlamentsrecht überführt werden. Auch kommen dem Parlament etwa hinsichtlich der dringlichen Finanzbeschlüsse vorgängige Kontrollrechte zu. Die Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse des Parlaments sind aber insgesamt betrachtet ungenügend. Die Rolle des Parlaments und die demokratische Legitimation könnten etwa durch einen vorgängigen und begleitenden Einbezug des Parlaments selbst, einer Parlamentskommission oder -delegation gestärkt werden. Weiter sollte der Bundesrat verpflichtet werden, beim Erlass von Massnahmen in einem schriftlichen Rechenschaftsbericht die Gründe für die einzelnen Handlungen in ausserordentlichen Lagen darzulegen, um eine bessere Überprüfung zu ermöglichen und die Transparenz zu erhöhen. Die Begründung und Rechtfertigung der Massnahmen erfolgte in der Coronakrise weitgehend mündlich an Medienkonferenzen.
Genügen Medienmitteilungen, um eine neue Verordnung zu begründen?
Natürlich nicht. Gerade bei Notverordnungen sollte eine Verschriftlichung – ähnlich wie bei einer Botschaft an das Parlament – Eingang finden. Regierungshandeln neigt zu einer gewissen Intransparenz. Der Bundesrat sollte gesetzlich verpflichtet werden, die Gründe für die einzelnen notrechtlichen Massnahmen in einem begleitenden schriftlichen Rechenschaftsbericht darzulegen. Welches sind die wesentlichen grundlegenden Fakten? Weshalb hat man sich für eine bestimmte Massnahme entschieden? Welches sind die rechtlichen Grundlagen? Was sind die Argumente? Wie ist der Entscheid zustande gekommen? Auf solche Fragen müsste der Bericht Antworten liefern. Transparenz sollte im Übrigen nicht zuletzt auch in Bezug auf die wissenschaftliche Beratung durch verwaltungsexterne Personen geschaffen werden. Es geht nicht, dass die Öffentlichkeit beispielsweise erst nach Wochen die Namen der Mitglieder erfährt, die der nationalen Task Force angehören und den Bundesrat beraten.
Wie weit sollen Gerichte bei Massnahmen der Regierung in einer ausserordentlichen Lage eingreifen können?
Es genügt aus rechtsstaatlicher Sicht nicht, dass es Regeln über die Ausrufung der ausserordentlichen Lage und Rahmenbedingungen für die Ausübung der exekutiven Befugnisse gibt. Die entsprechenden Massnahmen müssen nicht nur einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen, sondern auch einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden können. Heute bestehen diesbezüglich Rechtsschutzdefizite.
Verschiedene Professoren kritisieren, dass die Gerichte in ausserordentlichen Lagen die exekutiven Massnahmen nur sehr zurückhaltend überprüfen.
Ja, dazu gibt es Studien. Sie zeigen auf, dass Gerichte gerade in akuten Gefahrenlagen vielfach regierungsfreundlich entscheiden und exekutive Massnahmen nur sehr zurückhaltend überprüfen. Eine gerichtliche Kontrolle, die bloss scheinbar eingerichtet ist, ist indes problematisch, da sie den Regierungsentscheidungen einen «Anschein der Legalität» vermittelt. Diese Kritik der Lehre muss man ernst nehmen.
In Israel wollte die Regierung, dass der Inlandsgeheimdienst Zugang zu den persönlichen Daten von Infizierten und deren Kontaktpersonen erhält. Eine dagegen erhobene Klage verbot dies. In Berlin untersagte die Regierung eine Demonstration gegen die staatlichen Massnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie. Das Berliner Verwaltungsgericht kippte das Verbot. Es gibt also auch positive Beispiele.
Ich denke, auch bei uns wären die Gerichte in der Lage, in einem Eilverfahren einen Entscheid innert nützlicher Frist zu fällen. Bei Gesuchen zu superprovisorischen Massnahmen entscheidet das Gericht ja auch sehr schnell. Zu überlegen ist beispielsweise, ob gegen notrechtliche Akte des Bundesrats und des Parlaments eine direkte Anfechtungsmöglichkeit im Rahmen eines Eilverfahrens beim Bundesgericht eingeführt werden sollte. Dadurch könnten Rechtsschutz- und Kontrolllücken geschlossen werden.