Schutz für Flüchtlinge: Individuelle Bedrohung massgebend
Bei der Behandlung eines Antrags von Flüchtlingen auf subsidiären Schutz dürfen sich die zuständigen Behörden nicht einzig auf ein quantitatives Kriterium der Zahl der Opfer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der betroffenen Region verlassen. Das entschied der Europäische Gerichtshof im Fall von zwei Afghanen, die in Deutschland Asyl beantragt hatten. Nach Ablehnung ihrer Asylanträge wandten sie sich an den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg und beantragten die Gewährung subsidiären Schutzes. Dieser ersuchte den EuGH um Klärung der Auslegung von Richtlinie 2011/951 über den internationalen Schutz von Flüchtlingen. Er wollte vom EuGH wissen, nach welchen Kriterien die Gewährung subsidiären Schutzes in Fällen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge «willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts» erfolgt. Der EuGH habe bisher noch keine Gelegenheit gehabt, zu dieser Frage ausdrücklich Stellung zu nehmen. Zudem sei die Rechtsprechung auf diesem Gebiet uneinheitlich. Während teilweise eine umfassende Beurteilung auf Grundlage aller Umstände des Einzelfalls vorgenommen werde, stellen andere Ansätze primär auf die Zahl ziviler Opfer ab.
Der EuGH stellte klar, dass eine nationale Regelung, wonach die Feststellung einer «ernsthaften individuellen Bedrohung» davon abhängig ist, dass das Verhältnis der Zahl ziviler Opfer zur Gesamtzahl der Bevölkerung des betreffenden Gebiets eine bestimmte Schwelle erreicht, in Fällen, in denen eine Zivilperson nicht aufgrund von ihrer persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist, nicht mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar sei. Ein quantitatives Kriterium wie die Zahl der Opfer im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der betroffenen Region stehe im Widerspruch zu den Zielen der Richtlinie 2011/95 und zur Notwendigkeit, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen. Die systematische Anwendung eines einzigen quantitativen Kriteriums durch einen Mitgliedstaat, wie etwa eine Mindestzahl an Opfern, könne dazu führen, dass Behörden die Gewährung internationalen Schutzes unter Verstoss gegen die Pflicht des internationalen Schutzes verweigern.
Darüber hinaus führte der EuGH aus, dass der Begriff «ernsthafte individuelle Bedrohung» des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die subsidiären Schutz beantragt, weit auszulegen sei. Daher sei eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls erforderlich. Konkret könnten auch die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren berücksichtigt werden, ebenso wie andere Gesichtspunkte, etwa das geografische Ausmass der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort der antragstellenden Person bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt.
Urteil C 901/19 des Gerichtshofs vom 10.6.2021, CF und DN
c. Bundesrepublik Deutschland, EU:C:2021:472.
Lohngleichheitsgrundsatz bei gleichwertiger Arbeit direkt anwendbar
In Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten können sich Angestellte sowohl bei «gleicher» als auch bei «gleichwertiger» Arbeit unmittelbar auf den unionsrechtlich verankerten Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen berufen. Das entschied der Europäische Gerichtshof im Fall von Arbeitnehmerinnen des Einzelhändlers Tesco Stores im Vereinigten Königreich, die 2018 Klagen gegen ihren Arbeitgeber erhoben. Darin machten sie geltend, dass Männer und Frauen für die gleiche Arbeit nicht das gleiche Entgelt erhalten hätten. Dies verstosse gegen die nationalen Rechtsvorschriften und gegen Art. 157 AEUV. Diese Bestimmung besagt: «Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher.» Insbesondere argumentierten die Klägerinnen, dass ihre Arbeit in den Läden und die Arbeit der Männer, die in den Vertriebszentren von Tesco beschäftigt sind, gleichwertig sind und dass es deswegen zulässig ist, ihre Arbeit mit der Arbeit dieser Männer zu vergleichen, obwohl sie in unterschiedlichen Betrieben verrichtet wird. Die Arbeitsbedingungen liessen sich auf einen einheitlichen Anknüpfungspunkt zurückführen, nämlich ein Anstellungsverhältnis bei Tesco. Tesco hielt dem entgegen, dass Art. 157 AEUV bei Klagen, die auf eine gleichwertige Arbeit gestützt würden, keine unmittelbare Wirkung habe. Die Klägerinnen könnten sich deswegen nicht auf diesen Artikel berufen. Das zuständige Arbeitsgericht Watford im Vereinigten Königreich war unsicher bezüglich der unmittelbaren Wirkung von Art. 157 AEUV zwischen Privaten. Deshalb entschied es, den EuGH in dieser Frage um Vorabentscheidung zu ersuchen.
Laut EuGH auferlege Art. 157 AEUV eindeutig und bestimmt eine Ergebnispflicht und habe zwingenden Charakter. Dies gelte sowohl in Bezug auf eine «gleiche» als auch in Bezug auf eine «gleichwertige Arbeit». Sodann stellte der EuGH fest, dass der Artikel nach ständiger Rechtsprechung unmittelbare Wirkung entfalte, indem die Bestimmung für Einzelne Rechte begründe, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten hätten, unter anderem im Fall von Diskriminierungen, die ihren Ursprung unmittelbar in Rechtsvorschriften oder in Kollektivverträgen haben, sowie in dem Fall, dass die Arbeit in ein und demselben privaten oder öffentlichen Betrieb oder Dienst verrichtet wird. Zudem stellte der EuGH klar, dass die Frage, ob die betreffenden Angestellten die «gleiche Arbeit» oder «gleichwertige Arbeit» im Sinne von Art. 157 AEUV verrichten, eine Frage der Tatsachenwürdigung durch das Gericht sei. Die Arbeit und das Entgelt der Angestellten könne verglichen werden, selbst wenn diese ihre Arbeit in verschiedenen Betrieben desselben Arbeitgebers verrichten.
Urteil C-624/19 des Gerichtshofs vom 3.6.2021, Tesco Stores, C-624/19, EU:C:2021:429.