Polen muss Gesetz zur Senkung des Pensionsalters von Richtern sistieren
Die Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs hat im Rahmen eines Verfahrens zum vorläufigen Rechtsschutz entschieden, dass Polen die Anwendung einer nationalen Bestimmung über die Senkung des Ruhestandsalters der Richter am Obersten Gerichtshof aussetzen muss.
Am 3. April 2018 trat das neue polnische Gesetz über den Obersten Gerichtshof in Kraft. Durch dieses Gesetz wurde das Ruhestandsalter der Richter an diesem Gerichtshof auf 65 Jahre gesenkt. Die neue Altersgrenze gilt ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes. Die Verlängerung der aktiven richterlichen Tätigkeit der Richter am Obersten Gerichtshof über das Alter von 65 Jahren hinaus ist möglich, unterliegt aber der Vorlage einer Erklärung, aus der der Wunsch der Richter hervorgeht, ihr Amt weiter auszuüben, und einer Bescheinigung, die attestiert, dass ihr Gesundheitszustand ihnen die Ausübung ihres Amts erlaubt, sowie der Genehmigung durch den Präsidenten der Republik Polen.
Nach diesem Gesetz mussten amtierende Richter am Obersten Gerichtshof, die das 65. Lebensjahr vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes oder bis am 3. Juli 2018 vollendet haben, am 4. Juli 2018 in den Ruhestand treten. Es sei denn, sie hatten bis zum 3. Mai 2018 solche Erklärungen und solche Bescheinigungen vorgelegt und der Präsident Polens hätte ihnen die Verlängerung ihrer Tätigkeit genehmigt. Zudem räumte das Gesetz über den Obersten Gerichtshof dem Präsidenten die Befugnis ein, bis zum 3. April 2019 nach freiem Ermessen über eine Erhöhung der Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof zu entscheiden.
Die Kommission ist der Auffassung, dass Polen gegen das Unionsrecht verstossen hat: Zum einen dadurch, dass es das Ruhestandsalter gesenkt und auf die bis zum 3. April 2018 an den Obersten Gerichtshof ernannten Richter angewandt hat. Und zum anderen dadurch, dass es dem Präsidenten Polens die Befugnis eingeräumt hat, die aktive richterliche Tätigkeit der Richter am Obersten Gerichtshof nach freiem Ermessen zu verlängern.
In ihrem Beschluss hält die Richterin fest, eine vorläufige Entscheidung sei notwendig und dringlich. Insbesondere stellt sie fest, dass die streitigen nationalen Bestimmungen bereits zur Anwendung kommen und dazu geführt haben, dass zahlreiche Richter am Obersten Gerichtshof in den Ruhestand versetzt wurden. Dieser Umstand und die gleichzeitige vom Präsidenten der Republik Polen genehmigte Erhöhung der Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof von 93 auf 120, die Ausschreibung von über 44 freien Stellen und die Ernennung von mindestens 27 neuen Richtern führe zu einer sofortigen grundlegenden Umbesetzung des Obersten Gerichtshofs.
Würde der Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Polen stattgegeben, hätte dies zur Folge, dass alle vom Obersten Gerichtshof bis dahin erlassenen Entscheidungen ohne die Garantie auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht ergangen wären. Die Verletzung von Grundrechten wie des Rechts auf ein unabhängiges Gericht ist geeignet, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu verursachen.
Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 19.10.2018, Kommission gegen Polen, C-619/18, ECLI:EU:C:2018:852
Urheberrechtsverletzungen versus Achtung des Familienlebens
Der EuGH hatte das Verhältnis zwischen den Grundrechten auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Schutz des geistigen Eigentums und dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens zu beurteilen. Das Deutsche Verlagshaus Bastei Lübbe verlangte vor dem Landgericht München I Schadenersatz, weil ein Hörbuch, über dessen Urheberrechte es verfügt, über den Internetanschluss des Beklagten auf einer Internettauschbörse einer unbegrenzten Anzahl von Nutzern zum Herunterladen angeboten wurde. Der Beklagte bestreitet, die Urheberrechtsverletzung selbst begangen zu haben. Er macht geltend, dass auch seine Eltern Zugriff auf den Anschluss gehabt haben, ohne jedoch nähere Angaben zum Zeitpunkt und zur Art ihrer Nutzung des Anschlusses zu machen.
Gemäss dem Urteil des Landgerichts München I geht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hervor, dass der Anschlussinhaber aufgrund des Schutzes von Ehe und Familienleben keine Auskunft über die Nutzung seines Internetanschlusses durch Angehörige zu erteilen habe und die vorgebrachte Verteidigung deshalb ausreiche, um eine Schadenersatzhaftung auszuschliessen. In diesem Zusammenhang ersuchte das Landgericht München I den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidverfahrens um Auslegung der Richtlinien 2001/29 und 2004/48 zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums.
Der EuGH stellt in seinem Urteil fest, dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Grundrechten, nämlich zum einen dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem Recht des geistigen Eigentums und zum anderen dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gefunden werden müsse. An einem solchen Gleichgewicht fehle es, wenn den Familienmitgliedern des Inhabers eines Internetanschlusses, über den Urheberrechtsverletzungen durch Filesharing begangen wurden, ein quasi absoluter Schutz gewährt wird. Wenn das nationale Gericht auf Antrag des Klägers keine Beweismittel verlangen darf, die Familienmitglieder der beklagten Partei betreffen, wird die Feststellung der gerügten Urheberrechtsverletzung und die Identifizierung ihres Täters unmöglich gemacht, was eine qualifizierte Beeinträchtigung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und des Rechts des geistigen Eigentums zur Folge hat. Anders verhielte es sich jedoch, wenn der Rechtsinhaber zur Vermeidung eines für unzulässig gehaltenen Eingriffs in das Familienleben über einen anderen wirksamen Rechtsbehelf verfügen könnte.
Urteil des Gerichtshofs vom 18.10.2018, Bastei Lübbe GmbH & Co. KG gegen Michael Strotzer, C-149/17, ECLI:EU:C:2018:841