Voraussetzungen für Schadenersatzklagen gegen Tochtergesellschaft
Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) entschied am 6. Oktober 2021 im Urteil Sumal, dass das Opfer einer wettbewerbsrechtlichen Widerhandlung von der Tochtergesellschaft Ersatz der Schäden verlangen kann. Dafür muss das Opfer nachweisen, dass die beiden Gesellschaften zum Zeitpunkt der widerrechtlichen Handlung eine wirtschaftliche Einheit bildeten.
Die spanische Sumal SL erwarb zwischen 1997 und 1999 zwei Lastwagen von der Mercedes Benz Trucks España SL (MBTE), eine Tochtergesellschaft des Daimler-Konzerns, der zur Daimler AG gehört. 2016 stellte die Europäische Kommission fest, dass die Daimler AG gegen das Kartellverbot nach Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verstiess, indem sie zwischen 1997 und 2011 Absprachen mit anderen europäischen Lastwagenherstellern über Preise und die Erhöhung der Bruttolistenpreise für Lastwagen traf. Darauf basierend erhob Sumal SL eine Schadenersatzklage gegen MBTE mit einer Forderung über 22 204 Euro. Ein Handelsgericht in Spanien wies die Klage mit der Begründung ab, dass MBTE von dem Beschluss der Kommission nicht betroffen sei. Gegen die Abweisung legte Sumal SL Berufung beim Provinzgericht in Barcelona ein, welches dem EuGH die Frage vorlegte, ob und unter welchen Voraussetzungen eine solche Klage gegen eine Tochtergesellschaft erhoben werden kann.
Die Grosse Kammer führte in ihrem Urteil aus, dass der Begriff «Unternehmen» im Sinne von Art. 101 AEUV eine wirtschaftliche Einheit bezeichnet, die aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen bestehen kann. Wenn erwiesen ist, dass eine zu einer solchen wirtschaftlichen Einheit gehörende Gesellschaft so gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstossen hat, dass das «Unternehmen», zu dem sie gehört, die Zuwiderhandlung begangen hat, ist eine gesamtschuldnerische Haftung der einzelnen Gesellschaften möglich. Wurde also eine Zuwiderhandlung seitens einer Muttergesellschaft festgestellt, steht es dem Opfer der Zuwiderhandlung frei, anstelle der Muttergesellschaft eine von deren Tochtergesellschaften zivilrechtlich haftbar zu machen. Dies vorausgesetzt, es kann nachweisen, dass die wirtschaftliche Einheit zwischen Tochter- und Muttergesellschaft im Hinblick auf die wirtschaftliche, organisatorische und rechtliche Bindung sowie im Hinblick auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Tochtergesellschaft und die Zuwiderhandlung der Muttergesellschaft besteht. Folglich muss Sumal SL, um eine Schadenersatzklage gegen MBTE als Tochtergesellschaft der Daimler AG erheben zu können, nachweisen, dass die von der Daimler AG geschlossene wettbewerbswidrige Vereinbarung die gleichen Produkte betrifft, die von MBTE vermarktet werden.
Urteil C‑882/19 des Gerichtshofs (Grosse Kammer) vom 6.10.2021, Sumal, EU:C:2021:657
Umstrittene, durch Rulings gewährte Steuerbefreiungen belgischer Unternehmen
In seinem Urteil vom 16. September 2021 behandelte der EuGH die Bedingungen für eine Beihilferegelung im Zusammenhang mit dem belgischen System zur Befreiung von Gewinnüberschüssen von belgischen Unternehmen, die zu multinationalen Konzernen gehören.
Seit 2005 konnten solche Unternehmen einen Vorbescheid der belgischen Steuerbehörden erlangen (sogenanntes Ruling). Sie mussten geltend machen, dass eine neue Situation vorliegt, wie etwa eine Neuorganisation, welche zur Neuansiedlung des Hauptunternehmens in Belgien führt, zur Schaffung von Arbeitsplätzen oder Investitionen. Dabei waren Gewinne von der Gesellschaftssteuer befreit, die als «Mehrgewinne» angesehen wurden, weil sie die Gewinne überstiegen, die von vergleichbaren eigenständigen Unternehmen unter ähnlichen Umständen erzielt worden wären. 2016 stellte die Europäische Kommission fest, dass dieses System der Befreiung von Gewinnüberschüssen eine rechtswidrige Beihilfe darstelle. Sie ordnete die Rückforderung dieser Beihilfen bei 55 Empfängern an, zu denen auch die Gesellschaft Magnetrol International zählte. Belgien und Magnetrol International erhoben beide Klagen beim Gericht der Europäischen Union auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission. 2019 erklärte das Gericht den Beschluss der Kommission für nichtig. Es stellte unter anderem fest, dass die Kommission zu Unrecht zum Schluss gelangt sei, dass die Steuerregelung keine Durchführungsmassnahmen erfordere. Daraufhin legte die Kommission ein Rechtsmittel beim EuGH ein. Ihrer Ansicht nach sind dem Gericht bei der Auslegung der Definition einer Beihilferegelung Fehler unterlaufen.
In seinem Urteil wies der EuGH darauf hin, dass die Einstufung einer staatlichen Massnahme als Beihilferegelung drei kumulative Bedingungen voraussetzt. Erstens können Unternehmen auf der Grundlage einer Regelung Einzelbeihilfen gewährt werden. Zweitens ist für die Gewährung dieser Beihilfen keine nähere Durchführungsmassnahme erforderlich. Drittens müssen die Unternehmen, denen Einzelbeihilfen gewährt werden können, in einer allgemeinen und abstrakten Weise definiert werden.
Hinsichtlich der ersten Bedingung kam der EuGH zum Schluss, dass das Gericht den Begriff der Regelung falsch anwandte. Auch eine ständige Verwaltungspraxis der Behörden eines Mitgliedstaats kann eine Regelung darstellen, wenn diese Praxis ein systematisches Konzept erkennen lässt.
Hinsichtlich der zweiten Bedingung wies der EuGH darauf hin, das Gericht habe nicht berücksichtigt, dass die belgischen Steuerbehörden die Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse systematisch bewilligt hatten, sofern die Voraussetzungen erfüllt waren.
Auch hinsichtlich der dritten Bedingung wies der EuGH wiederum darauf hin, dass die Frage nach der allgemeinen und abstrakten Definition der Begünstigten der Steuerbefreiung für Gewinnüberschüsse untrennbar mit den ersten beiden Bedingungen verbunden sei. So hätten die Rechtsfehler des Gerichts seine Beurteilung in Bezug auf die Definition der Begünstigten beeinträchtigt.
Im Resultat hob der EuGH das Urteil des Gerichts auf. Er stellte fest, dass der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif ist. Entsprechend verwies er die Sache zurück an das Gericht.
Urteil C-337/19P des Gerichtshofs vom 16.9.2021, Europäische Kommission c. Belgien und Magnetrol International, EU:C:2021:741