Staatsanwaltschaft nicht befugt, Zugang zu Handydaten zu erlauben
Gemäss dem Europäischen Gerichtshof dürfen Ermittlungsbehörden nur zur Aufklärung schwerer Kriminalität Zugang zu Verkehrs- und Standortdaten von Handys erhalten.
In Estland wurde eine Person wegen Diebstahls, Verwendung der Bankkarte eines Dritten und Gewalttaten gegenüber Beteiligten an einem Gerichtsverfahren angeklagt. Das Verfahren führte zu einer Verurteilung zu einer Haftstrafe. Das estnische Revisionsgericht hegte jedoch Zweifel an der unionsrechtlichen Zulässigkeit der Protokolle, auf die sich die Verurteilung stützte. Die Protokolle wurden anhand personenbezogener Daten der elektronischen Kommunikation erhoben. Das Gericht ersuchte deswegen den EuGH um Klärung. Über den Zugang zu den betreffenden Daten entschied die estnische Staatsanwaltschaft. Das Gericht fragte deshalb auch, ob die Staatsanwaltschaft als unabhängige Behörde angesehen werden könne, die rechtmässig Zugang erteilen darf.
Laut dem Entscheid des EuGH steht die europäische Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation einer nationalen Regelung entgegen, die es einer Ermittlungsbehörde ermöglicht, Zugang zu Verkehrs- oder Standortdaten zu erlangen, die geeignet sind, Rückschlüsse auf das Privatleben zuzulassen. Eine Ausnahme besteht, wenn sich dieser Zugang auf Verfahren zur Bekämpfung schwerer Kriminalität oder zur Verhütung ernster Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beschränkt. Dies gelte unabhängig davon, für welchen Zeitraum der Zugang zu den betreffenden Daten begehrt werde. Und es gelte unabhängig davon, welche Menge oder Art von Daten für einen solchen Zeitraum verfügbar sei. Ausserdem stehe die europäische Richtlinie einer nationalen Regelung entgegen, wonach die Staatsanwaltschaft dafür zuständig sein dürfe, einer Behörde für strafrechtliche Ermittlungen Zugang zu Verkehrs- und Standortdaten zu gewähren.
Der Gerichtshof verwies darauf, dass die europäische Datenschutzrichtlinie grundsätzlich schon Rechtsvorschriften entgegensteht, die den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste präventiv eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorschreiben. Mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit sei nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität oder die Verhütung ernster Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit geeignet, den Zugang zu Verkehrs- oder Standortdaten zu rechtfertigen.
Der EuGH wies darauf hin, dass ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle die Erteilung des Zugangs zu den Daten durch eine Strafverfolgungsbehörde zwingend vorab kontrollieren müsse. Das Gericht oder die Stelle müsse in der Lage sein, für einen gerechten Ausgleich zwischen den entgegenstehenden Interessen zu sorgen: Jenen der Ermittlungsbehörden einerseits und den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten der betroffenen Personen andererseits.
Nehme nicht ein Gericht die Kontrolle vor, sondern eine unabhängige Verwaltungsstelle, müsse diese in der Lage sein, ihre Aufgaben ohne jede Einflussnahme von aussen objektiv und unparteiisch wahrzunehmen. Die mit der Vorabkontrolle betraute Behörde dürfe nicht an der Durchführung des fraglichen Ermittlungsverfahrens beteiligt sein und müsse eine Position der Neutralität gegenüber den am Strafverfahren Beteiligten haben. Bei einer Staatsanwaltschaft, die wie die estnische das Ermittlungsverfahren leite und gegebenenfalls Anklage erhebe, sei dies nicht der Fall. Folglich entschied der EuGH, dass eine Staatsanwaltschaft nicht befugt sein darf, einer Ermittlungsbehörde Zugang zu Verkehrs- und Standortdaten zu gewähren.
Urteil der Grossen Kammer des Gerichtshofs vom 2.3.2021,
H. K. / Prokuratuur, C 746/18, EU:C:2021:152
Nationale Sportverbände können Beschaffungsrecht unterstehen
Gemäss EuGH können für einen nationalen Sportverband wie den Italienischen Fussballverband die Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe gelten. Dies dann, wenn er im Allgemeininteresse liegende Tätigkeiten nicht gewerblicher Art ausübt. Ein solcher Verband müsse der Aufsicht einer öffentlichen Einrichtung unterstehen.
Der Italienische Fussballverband führte ein Verfahren durch, um Dienstleistungen für eine Dauer von drei Jahren zu vergeben. Ein erfolglosen Bieter focht die Modalitäten des Verfahrens an. Seiner Ansicht nach sei der Fussballverband als Einrichtung des öffentlichen Rechts anzusehen, sodass er die Bekanntmachungsregeln für die Vergabe öffentlicher Aufträge hätte einhalten müssen. Die Klage wurde gutgeheissen und die Vergabe des Auftrags aufgehoben. Darauf legten der Fussballverband und der erfolgreiche Bieter beim Consiglio di Stato Berufung ein. Sie beanstandeten die Einstufung des Verbands als Einrichtung des öffentlichen Rechts. Der Consiglio di Stato legte dem EuGH die Frage im Rahmen der Auslegung der Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe zur Vorabentscheidung vor.
Zur Definition einer Einrichtung des öffentlichen Rechts durch Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie stellte der EuGH Folgendes fest: Die im Allgemeininteresse liegende Tätigkeit, die der Sport darstellt, werde in Italien von den nationalen Sportverbänden im Rahmen der öffentlichen Aufgaben ausgeübt, die ihnen durch die nationale Regelung ausdrücklich zugewiesen sind. Bei einem nationalen Sportverband wie dem italienischen Fussballverband könne angenommen werden, dass er zu dem besonderen Zweck gegründet wurde, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art zu erfüllen.
Fraglich war auch, ob die Leitung des Verbands der Aufsicht durch einen öffentlichen Auftraggeber untersteht. Das Merkmal der Aufsicht wurde für die italienische Konstellation vom EuGH in der Tendenz abgelehnt. Allerdings wurde der Fall zur letztgültigen Entscheidung an die italienische Justiz zurückgewiesen.
Als Aufsichtsbehörde kommt das Italienische Nationale Olympische Komitee in Frage. Diese öffentliche Verwaltungsstelle hat die Aufgabe, im Sport Regeln aufzustellen, deren ordnungsgemässe Anwendung zu prüfen und Wettkämpfe als Vorbereitung auf die Olympischen Spiele zu organisieren. Das Komitee hat hingegen nicht die Aufgabe, die Organisation und die alltägliche Ausübung der verschiedenen Sportdisziplinen zu regeln. Nach Ansicht des EuGH könne eine solche Stelle dem ersten Anschein nach nicht als ein hierarchisches Aufsichtsorgan angesehen werden. Allerdings könne eine solche Vermutung widerlegt werden. Dies, wenn nachgewiesen wird, dass das Komitee die Entscheidungen des Verbands im Bereich der Vergabe öffentlicher Aufträge beeinflussen kann.
Urteil des Gerichtshofs vom 3.2.2021, Federazione Italiana Giuoco Calcio (FIGC) und Consorzio Ge.Se.Av.S.c.arl / De Vellis Servizi Globali Srl, C 155/19 und C 156/19, EU:C:2021:88