Hinterbliebenenrente auch für Grenzgänger mit einem Pacs
Die Beschwerdeführerin und ihr Lebenspartner liessen im Dezember 2015 in Frankreich beim erstinstanzlichen Gericht in Metz eine gemeinsame Erklärung über einen Pacte civil de solidarité (Pacs) eintragen, das ein Rechtsinstitut zwischen Konkubinat und Ehe ist. Die beiden französischen Staatsangehörigen wohnten in Frankreich und waren in Luxemburg angestellt. Der Lebenspartner starb im Jahr 2016 bei einem Arbeitsunfall. Danach beantragte die Frau bei der Nationalen Pensionsversicherungsanstalt in Luxemburg eine Hinterbliebenenrente. Diese wurde ihr verweigert, weil der in Frankreich geschlossene Pacs nicht im luxemburgischen Personenstandsregister eingetragen war.
2020 reichte die Frau eine Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation in Luxemburg ein. Der Kassationshof legte dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob eine mittelbare Diskriminierung vorliegen könnte, da die Vorschrift, wonach Lebenspartner ihre im Ausland registrierte Partnerschaft auch im luxemburgischen Register eintragen lassen müssen, um Anspruch auf eine Hinterbliebenen-Rente zu haben, Grenzgänger benachteiligen könnte.
Der EuGH entschied, dass die luxemburgische Vorschrift gegen die Gleichbehandlung von Angestellten verstösst, da sie die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten benachteiligt und eine mittelbare Ungleichbehandlung auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit schafft. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich, dass ein amtliches Dokument aus dem Mitgliedsstaat, in dem die Lebenspartnerschaft eingegangen wurde, für die Behörde eines anderen Mitgliedstaats ausreichend sei. Deshalb sei diese Ungleichbehandlung objektiv nicht gerechtfertigt und nicht verhältnismässig. Die Weigerung, eine Hinterbliebenenpension zu gewähren, weil die Lebenspartnerschaft nicht zuvor in ein von diesem Staat geführtes Register eingetragen wurde, verletze somit Artikel 45 AEUV und Artikel 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011.
Mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU wurde die unionsrechtliche Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die Schweiz ausgedehnt. In der Schweiz haben die Kantone Neuenburg und Genf den Pacs eingeführt. Nun gibt es Bestrebungen, landesweit einen Pacs einzuführen (Initiative Caroni 22.448). Daher ist das Urteil für die Schweiz von Bedeutung.
Urteil C-731/21 vom 8.12.2022, GV c. Caisse nationale d’assurance pension, EU:C:2022:969
Zweifel an Zulässigkeit einer Videokonferenz ohne Einwilligung der Lehrer
Im Jahr 2020 veröffentlichte das Hessische Kultusministerium Erlasse zur Regelung des Schulunterrichtes während der Covid-19-Pandemie. Schülerinnen und Schüler, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen konnten, sollten die Möglichkeit haben, am Unterricht per Videokonferenz teilzunehmen. Zur Einhaltung des Datenschutzes wurde festgelegt, dass die Zuschaltung zum Videokonferenzdienst nur mit der Einwilligung von Schülern und Eltern zulässig ist. Hingegen war die Einwilligung der betroffenen Lehrer nicht erforderlich. Der Hauptpersonalrat der Lehrkräfte beim Hessischen Kultusministerium klagte deshalb beim Verwaltungsgericht Wiesbaden (D). Das Gericht hatte Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und bat den EuGH um eine Vorabentscheidung.
Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten von Lehrkräften bei einem Livestream des Schulunterrichts nicht nur in den sachlichen Anwendungsbereich der DSGVO fällt, sondern auch in den persönlichen Anwendungsbereich, der auf die Verarbeitung personenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäftigungskontext abstellt (Artikel 88 DSGVO). Der EuGH zweifelte sodann an der Rechtmässigkeit der hessischen Regelung, da sie bloss die bereits in der DSGVO festgelegten Bedingungen für die allgemeine Rechtmässigkeit wiederholt, obwohl «spezifischere Vorschriften», welche gestützt auf Artikel 88 Absatz 1 DSGVO erlassen werden, sich nicht auf eine Wiederholung der Bestimmung der DSGVO beschränken dürfen. Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass das vorlegende Gericht im Falle der Unzulässigkeit der hessischen Regelung prüfen muss, ob für die Verarbeitung der Daten in der DSGVO eine andere Rechtsgrundlage vorliegt, insbesondere Artikel 6 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe c (rechtliche Verpflichtung) oder Buchstabe e (öffentliches Interesse). Die Anwendung der nationalen Regelung ist nur ausgeschlossen, wenn dies nicht der Fall ist.
Das schweizerische Datenschutzrecht entspricht in weiten Teilen demjenigen in der EU. Entsprechend sind wegweisende Urteile des EuGH zum Datenschutz auch hier bedeutsam.
Urteil C-34/21 vom 30.3.2023, Hauptpersonalrat der Lehrerinnen und Lehrer c. Minister des Hessischen Kultusministeriums EU:C:2023:270