Ungarn verstösst mit Asylregel gegen EU-Recht
Infolge der Ausbreitung von Covid-19 erliess Ungarn 2020 ein Gesetz zur Pandemiebewältigung. Danach mussten Asylsuchende, die sich bereits in Ungarn befanden oder an den Landesgrenzen vorstellig wurden, grundsätzlich ein Vorverfahren durchlaufen, um in Ungarn internationalen Schutz in Anspruch nehmen zu können.
Dieses sah vor, dass sich die Betroffenen zunächst zur ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew zu begeben hatten – über diese Staaten kamen damals am meisten Geflüchtete ins Land. Nach Abgabe einer Absichtserklärung erteilten die ungarischen Vertretungen gegebenenfalls eine Einreiseerlaubnis nach Ungarn, wo die Geflüchteten schliesslich einen Asylantrag stellen konnten.
Die Europäische Kommission sah in dieser Regelung eine Verletzung der Richtlinie zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Richtlinie 2013/32/EU) und strengte ein Vertragsverletzungsverfahren an.
Nun gab der Europäische Gerichtshof (EuGH) der Kommission recht. Der EuGH hält fest, dass die Schutzsuchenden unter den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen (Artikel 3 Absatz 1 Richtlinie 2013/32/EU). Das Vorbringen Ungarns, wonach es sich bei den betroffenen Personen um Drittstaatsangehörige handle, welche die Grenze eines EU-Mitgliedstaats noch nicht erreicht hätten. Damit wären die EU-Asylvorschriften gemäss Artikel 3 Absatz 2 Richtlinie 2013/32/EU nicht anwendbar. Der EuGH wies das Argument Ungarns zurück.
Ein Vorverfahren ist laut EuGH in Artikel 6 Richtlinie 2013/32/EU nicht vorgesehen und liefe deren Ziel zuwider, einen einfachen und schnellen Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten. Ausserdem werde mit dieser Regelung den betroffenen Geflüchteten die effektive Wahrnehmung ihres Rechts, in Ungarn Asyl zu beantragen, verunmöglicht (Artikel 18 Grundrechtscharta).
Weiter befand der EuGH, das fragliche Vorverfahren sei nicht mit dem von Ungarn genannten Ziel, der Pandemie-Eindämmung, zu rechtfertigen. Im Gegenteil: Gemäss dem EuGH erhöht das in Frage stehende Vorverfahren aufgrund der obligatorischen Aus- und Wiedereinreise gar die Gefahr, sich mit Covid-19 anzustecken. Zudem stelle das Vorverfahren einen offensichtlich unverhältnismässigen Eingriff in das Recht von Asylsuchenden dar, ab ihrer Ankunft an der Grenze eines Mitgliedstaates einen Asylantrag zu stellen und während des Asylverfahrens im Mitgliedstaat zu verbleiben (Artikel 6 und 9 Absatz 1 Richtlinie 2013/32/EU).
Urteil C-823/21 vom 22.6.2023, Kommission c. Ungarn, EU:C:2023:504
Die polnische Justizreform verstösst gegen EU-Recht
Das Urteil geht auf ein 2018 erlassenes Gesetz zurück, mit dem die PiS-Regierung am Obersten Gerichtshof eine umstrittene Disziplinarkammer einrichtete. Diese war für die Durchführung von Disziplinarverfahren gegen Richterinnen und Richter der ordentlichen Gerichte sowie des Obersten Gerichtshofs zuständig.
2019 verabschiedete das polnische Parlament ein weiteres Gesetz, das die Möglichkeiten der Disziplinierung von Richterinnen und Richtern noch erweiterte («Maulkorb-Gesetz»). Die Kommission erhob hiergegen eine Vertragsverletzungsklage und erhielt vom EuGH recht.
Der EuGH bestätigt zunächst, uneingeschränkt für die Überprüfung zuständig zu sein, ob ein Mitgliedstaat Grundsätze wie Rechtsstaatlichkeit, wirksamen Rechtsschutz und Unabhängigkeit der Justiz beachte. Die Vorschrift, welche allen polnischen Gerichten die Überprüfung der Einhaltung der EU-rechtlichen Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und gesetzliches Gericht untersagt, ist daher unionsrechtswidrig (Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 EUV).
Die vorgesehene Disziplinarkammer erfülle sodann die EU-rechtlichen Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht. Die «blosse Aussicht», dass eine solche Instanz über etwaige straf-, arbeits-, und sozialversicherungsrechtliche Massnahmen (inklusive Zwangsversetzung oder die Verabschiedung in den vorzeitigen Ruhestand) entscheidet, beeinträchtige die Unabhängigkeit des Gerichts (Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 EUV).
Weiter verweist der EuGH auf den weiten und ungenauen Charakter der neuen Disziplinarordnung sowie den politischen Hintergrund ihres Erlasses. Diese könne zusammen mit den darin vorgesehenen Sanktionen dazu eingesetzt werden, die nationalen Gerichte bei der Beurteilung, ob ein Gericht den EU-rechtlichen Anforderungen in Bezug auf einen wirksamen Rechtsschutz genüge, hindern (Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 EUV, Artikel 47 Grundrechtscharta).
Ferner rügt der EuGH, mit der vorgesehenen Disziplinarkammer werde eine einzige nationale Instanz eingesetzt, welche für die Überprüfung der wesentlichen Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz zuständig sei. Die fehlende Rechtsmittelmöglichkeit verunmögliche einen wirksamen Rechtsschutz im «gesamten sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts und vor allen nationalen Gerichten» (Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 EUV, Artikel 47 Grundrechtscharta, Artikel 267 AEUV, Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts).
Schliesslich verstosse die Verpflichtung zur Bekanntgabe etwaiger Mitgliedschaften in Vereinen, gemeinnützigen Stiftungen oder einer politischen Partei sowie der Veröffentlichung dieser Angaben im Internet gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Artikel 7 und Artikel 8 Grundrechtscharta, Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 litera c und e sowie Absatz 3 und Artikel 9 Absatz 1 DSGVO).
Während des Verfahrens wurde Polen 2021 zu einem Zwangsgeld von einer Million Euro pro Tag verpflichtet. Dieser Betrag wurde im Frühjahr 2023 auf 500'000 Euro pro Tag herabgesetzt. Die Erhebung dieses Zwangsgelds von insgesamt 556 Millionen Euro endet mit dem vorliegenden Urteil. Da Polen sich bis anhin weigerte, den Betrag zu begleichen, wird dieser von den Europäischen Förder- und Wiederaufbaumitteln für Polen abgezogen – gestützt auf die Konditionalitätsverordnung, Verordnung (EU, Euratom) 2020/2092, sind diese Gelder vorläufig ohnehin blockiert.
Im Februar 2023 hat die Kommission eine weitere Vertragsverletzungsklage gegen Polen eingereicht. Anlass dazu gaben zwei Urteile des polnischen Verfassungsgerichtshofes von 2021, in welchen dieser den Vorrang des EU-Rechts ausdrücklich in Frage gestellt hatte. Der EuGH wird sich hier voraussichtlich erneut für die Achtung der Rechtsstaatlichkeit einsetzen müssen.
Urteil C‑204/21 vom 5.6.2023, Kommission c. Polen, EU:C:2023:442
Publikation der Entscheide
Die Entscheide des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) finden sich im Internet auf folgender Webseite: www.curia.europa.eu