Fluggastrechte: Entschädigung wegen Nichtbeförderung
Eine Passagierin buchte bei der chilenischen Latam Airlines einen Hin- und Rückflug von Frankfurt nach Madrid. Als sie für den Hinflug nicht im Internet einchecken konnte, kontaktierte sie die Airline. Diese informierte sie, ihre Buchung sei ohne Vorankündigung auf einen früheren Flug am Vortag umgestellt worden. Und man habe ihren Rückflug, der mehr als zwei Wochen später stattfinden sollte, wegen Nichtantritts des Hinfluges gesperrt.
Die Passagierin musste daraufhin Ersatzflüge buchen. Latam erstattete ihr zwar den Preis für das ungenutzte Ticket, verweigerte aber die Übernahme der Mehrkosten für die Neubuchungen. Daraufhin klagte die Frau beim Landgericht Frankfurt am Main auf Schadenersatz und beantragte zusätzlich eine pauschale Ausgleichszahlung von 250 Euro für die verweigerte Beförderung gemäss der Verordnung 261/2004.
Das deutsche Gericht ersuchte den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um Vorabentscheidung der Frage, ob Reisende trotz mitgeteilter Beförderungsverweigerung am Check-in erscheinen müssen, um ihre Ansprüche auf Ausgleichszahlung zu wahren. Diese Pflicht sei in Artikel 2 litera j der Verordnung vorgesehen. Zudem wollte das deutsche Gericht wissen, ob eine rechtzeitige Information über ein Boarding-Verbot die Airline von der Entschädigungspflicht entbindet.
In Bezug auf die erste Frage entschied der EuGH, dass Passagiere nicht am Flughafen anwesend sein müssen, um Entschädigungsansprüche geltend machen zu können – sofern die Passagiere bereits über die Nichtbeförderung informiert wurden. Ein persönliches Erscheinen am Check-in-Schalter oder am Abfluggate wäre in solchen Fällen nur eine sinnlose Formalität, die dem Verordnungszweck, nämlich dem Schutz der Passagiere, zuwiderliefe.
Bei der zweiten Frage zur Entschädigungspflicht setzte sich der EuGH mit der Ausnahmeregel in Artikel 5 Absatz 1 litera c der Verordnung 261/2004 auseinander. Laut dieser Klausel schuldet das Unternehmen keine Pauschalentschädigung, wenn es die Stornierung mindestens zwei Wochen im Voraus mitteilt.
Der EuGH entschied, die eng auszulegende Ausnahmeregel finde im Unterschied zu Flugannullierungen keine Anwendung auf andere Nichtbeförderungen. Die Ausgleichszahlung sei auch bei einer mehr als zwei Wochen im Voraus mitgeteilten Ankündigung der Nichtbeförderung zu leisten.
Das Urteil des EuGH festigt die Fluggastrechte. Das ist auch für die Schweiz relevant, die im Rahmen des Luftverkehrsabkommens mit der EU die Verordnung 261/2004 übernahm.
Urteil C-238/22 vom 26.10.2023, Latam Airlines Group, ECLI:EU:C:2023:815
Drittstaatsangehörige dürfen bei Binnengrenzkontrollen nicht zurückgewiesen werden
Eine neue Regelung in Frankreich erlaubte den Behörden, Drittstaatsangehörigen an Binnengrenzen die Einreise nach Frankreich zu verweigern. An den Grenzen waren temporäre Kontrollen laut dem Schengener Grenzkodex eingeführt worden. Diverse Organisationen, unter ihnen Asylrechtsanwälte, forderten vor dem französischen Staatsrat die Aufhebung dieser Regelung, da sie gegen die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG verstosse.
Der Staatsrat legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: Darf ein Mitgliedstaat, der temporär Kontrollen an Binnengrenzen einführte, gegenüber einem illegal in die EU eingereisten Drittstaatsangehörigen einen Rückkehrentscheid nach Artikel 14 des Schengener Grenzkodex erlassen, ohne dabei die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie zu beachten?
Der EuGH entschied: Drittstaatsangehörige, die unrechtmässig in einen EU-Mitgliedstaat einreisen und an einer Binnengrenze aufgegriffen werden, fallen in den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie. Mitgliedstaaten seien zwar berechtigt, diesen Personen die Einreise zu verweigern. Dabei müssten sie jedoch die Vorschriften der Rückführungsrichtlinie beachten und ihnen eine angemessene Frist zur Ausreise setzen. Dadurch entfalle die Wirksamkeit eines sofortigen Einreiseverbots.
Weiter befand der EuGH, dass illegal einreisende Personen unter Umständen vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden könnten. Das komme allerdings nur an den EU-Aussengrenzen in Frage. Damit bestehen unterschiedliche Regeln an Binnen- und Aussengrenzen der Union. Der EuGH präzisierte, dass die Rückführungsrichtlinie eine Inhaftierung illegal Einreisender nicht ausschliesse, wenn das zur Wahrung der öffentlichen Ordnung erforderlich sei.
Mit dem vorliegenden Urteil entwickelt der EuGH seine aktuelle Rechtsprechung weiter: Zurückweisungen an den Binnengrenzen der Union sind nicht zulässig. Das Luxemburger Urteil ist auch für die Schweiz relevant, die sich als Mitglied des Schengen-Raums zur Beachtung der Rückführungsrichtlinie verpflichtete.
Urteil C-143/22 vom 21.9.2023, ADDE u.a., ECLI:EU:C:2023:689