Internetportal für die Vermittlung von rezeptfreien Medikamenten ist zulässig
Die EU-Mitgliedstaaten dürfen ein Internetportal für den Versand von rezeptfreien Medikamenten nicht verbieten. Voraussetzung ist, dass der Portalbetreiber nicht selbst als Verkäufer auftritt, sondern sich auf die Vermittlung des Geschäfts beschränkt. Dies hält der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in einem Vorabentscheidungsverfahren zum Portal Doctipharma.fr fest.
Das Verfahren geht auf eine Klage des französischen Apothekendachverbands Union des Groupements de pharmacien d’officine zurück, der 2016 in erster Instanz Erfolg beschieden war. Die folgenden Instanzen waren sich uneinig, ob Doctipharma.fr als «Dienst der Informationsgesellschaft» gemäss der Richtlinie 98/34/EG erlaubt oder ob ein Verbot des Internetportals zum Schutz der öffentlichen Gesundheit gemäss Artikel 85c der Richtlinie 2001/83/EG zulässig sei.
Schliesslich ersuchte das Berufungsgericht Paris den EuGH um eine Auslegung der fraglichen Bestimmungen.
Das fragliche Portal gehört zur Doc-Morris-Gruppe mit Sitz in Frauenfeld TG. Nach Angaben auf seiner Internetseite arbeitet Doctipharma.fr mit über 1000 Partnerapotheken zusammen und tritt als Vermittler auf. Doctipharma wähle für ein gewünschtes Produkt die Apotheke mit dem besten Preis aus, hole die Bestellung dort ab und liefere sie an den Kunden aus, heisst es in der Selbstdarstellung.
Der Gerichtshof hält zunächst fest, dass Doctipharma.fr tatsächlich als Dienst der Informationsgesellschaft einzustufen ist. Dafür sei unerheblich, wer für den Vermittlungsdienst zahle. Es müsse nicht notwendigerweise der Käufer der rezeptfreien Medikamente sein. Ob das Portal von den Apothekern – sprich von den Lieferanten, die über die Plattform Produkte verkaufen – eine monatliche Abonnementsgebühr oder eine prozentuale Kommission verlange, spiele auch keine Rolle. Nun muss das Berufungsgericht Paris gemäss EuGH «ermitteln, wer die nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel verkauft – Doctipharma oder die Apotheker, die den von Doctipharma erbrachten Dienst in Anspruch nehmen.»
Im ersten Fall ist ein Verbot gemäss Artikel 85c Absatz 1 litera a der Richtlinie 2001/83 möglich, falls es der Gesundheitsschutz erfordert. Zeigt sich aber, dass «Doctipharma eine eigene und vom Verkauf unabhängige Dienstleistung erbringt», ist ein Verbot unzulässig.
Urteil C-606/21 vom 29.2.2024, Doctipharma c. Union des Groupements de pharmacien d’officine, Pictime Coreyre, ECLI:EU:C:2024:179
Lebenslange Speicherung biometrischer Daten von Straftätern ist unzulässig
Die Polizei darf Fingerabdrücke, Fotos und andere biometrische Daten sowie DNA-Profile von rechtskräftig verurteilten Straftätern nicht ohne weiteres bis an deren Lebensende speichern. Zulässig ist eine solche Speicherung nur, wenn sie für die Verfolgung von Straftaten und zur Vollstreckung von strafrechtlichen Sanktionen erforderlich ist. Deshalb muss regelmässig überprüft werden, ob eine Speicherung noch nötig ist. Andernfalls haben betroffene Straftäter ein Recht auf Löschung ihrer Daten, wie der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren klarstellt.
Anlass ist der Fall des Bulgaren N.G., der 2016 wegen falscher Zeugenaussage zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden war. Vier Jahre später war die Strafe aus dem Vorstrafenregister gelöscht. N.G. beantragte, dass auch die seinerzeitige polizeiliche Registrierung gelöscht werde. Die Polizei erfasst dabei jeweils die Fingerabdrücke, fertigt Porträtfotos an und entnimmt eine Probe zur Erstellung eines DNA-Profils. Die zuständige Behörde und in der Folge auch das Verwaltungsgericht von Sofia lehnten den Antrag ab.
Eine Löschung sei nicht möglich. Das Gesetz sehe sie nur vor, wenn ein Freispruch erfolge, das Strafverfahren eingestellt werde oder die beschuldigte Person verstorben sei. N.G. zog den Fall an das Oberste Verwaltungsgericht Bulgariens weiter, das sich an den EuGH wandte. N.G. berief sich auf die Richtlinie (EU) 2016/680. Sie regelt die Verarbeitung persönlicher Daten bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten und richtet sich nach den Grundsätzen der Datenschutz-Grundverordnung. Ihr Artikel 5 verlangt «angemessene Fristen» für die Löschung personenbezogener Daten.
Der EuGH hält in seinem Urteil fest, dass dank biometrischen und genetischen Daten oft andere Straftaten aufgeklärt werden können. Nicht bei allen Straftätern sei das Risiko aber gleich hoch, in andere Straftaten verwickelt zu sein. Je nach Art und Schwere einer begangenen Straftat oder fehlender Rückfälligkeit sei die Speicherung nicht mehr nötig. Eine solche Differenzierung fehle «offensichtlich», wenn die Daten «allgemein und unterschiedslos» bei jeder rechtskräftig verurteilten Person bis zum Lebensende gespeichert würden. Eine Löschung der Daten müsse möglich sein, falls eine Überprüfung ergebe, dass die Speicherung nicht mehr nötig sei.
Urteil C-118/22 vom 30.1.2024, N.G. c. Natsionalna politsia Sofia, ECLI:EU:C:2024:97