Konsumenten können am Wohnort gegen Reiseveranstalter klagen
Bei Problemen mit einer Auslandreise kann ein Kunde den Reiseveranstalter am Gericht seines eigenen Wohnorts einklagen. Er muss sich nicht an das Gericht am Sitz des Unternehmens wenden. In diesem Sinn präzisiert der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg (EuGH) die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung (EU) 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit.
Ein Kunde aus Nürnberg forderte vor dem Amtsgericht Nürnberg Schadenersatz von FTI Touristik, weil er bei einer Pauschalreise ins Ausland ungenügend über die Visabestimmungen informiert worden sei. Die FTI Touristik GmbH, die ihren Sitz in München hat, bestritt die Zuständigkeit des Gerichts. Gemäss Artikel 18 der Verordnung 1215/2012 könnten Konsumenten nur bei «grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten» am Gericht des eigenen Wohnorts klagen, also nur dann, wenn der Reiseveranstalter seinen Sitz in einem anderen EU-Land habe. Deshalb müsse der Kläger an das Gericht in München gelangen.
Der EuGH hält in seiner Vorabentscheidung fest, dass bereits dann ein ausreichender Auslandsbezug für die Anwendung der Verordnung 1215/2012 gegeben sei, wenn sich der Sachverhalt, um den es gehe, in einem Drittstaat oder in einem anderen EU-Land zugetragen habe. Fragen zur internationalen Zuständigkeit der Gerichte könnten auch in solchen Fällen aufgeworfen werden. Das sei nicht erst der Fall, wenn der Reiseveranstalter seinen Sitz in einem anderen Land habe. Mit dieser Auslegung der Verordnung sei gewährleistet, dass der Konsument als schwächerer Vertragspartner vor einem für ihn leicht erreichbaren Gericht gegen den stärkeren Vertragspartner klagen könne.
EuGH-Urteil C-774/22 vom 29.7.2024, JX c. FTI Touristik, ECLI:EU:C:2024:646
Wettbewerbsrecht: Entscheide gegen Google und Apple bestätigt
Der EuGH bestätigt die 2017 von der Europäischen Kommission gegen Google verhängte Busse von 2,4 Milliarden Euro. Er kommt zum Schluss, dass der Internetkonzern aus den USA mit der Bevorzugung des eigenen Preisvergleichsdiensts «Google Shopping» seine marktbeherrschende Stellung in 13 EU-Ländern missbräuchlich ausnutzte. Google hatte die Resultate von «Google Shopping» bei den Suchresultaten ganz oben in auffälligen Boxen und mit attraktiven Bildern und Texten platziert.
Die Ergebnisse anderer Preisvergleichsdienste erschienen damals weiter unten und nur mit blauen Links. Das Gericht der Europäischen Union bestätigte die Busse. Die Grosse Kammer des Gerichtshofs weist nun das Rechtsmittel gegen diesen Entscheid mit Urteil vom 10. September ab. Das damalige Verhalten von Google sei in Anbetracht des Markts und der spezifischen Umstände diskriminierend gewesen, hält der EuGH fest.
Am gleichen Tag bestätigte die Grosse Kammer des Gerichtshofs eine Anordnung der Europäischen Kommission von 2016, wonach Irland während 23 Jahren rechtswidrig gewährte staatliche Beihilfen von insgesamt 13 Milliarden Euro von Apple zurückfordern muss. Die irischen Behörden hatten Apple 1991 und 2007 zugesichert, für die Steuerberechnung ein von Apple selbst vorgeschlagenes System bei den zwei Zweigniederlassungen in Irland anzuwenden, die für die Länder ausserhalb des amerikanischen Kontinents zuständig sind.
So wurden erhebliche Gewinne der beiden Niederlassungen, die auf von ihnen gehaltenen Lizenzen geistigen Eigentums basierten, in andere Apple-Einheiten verschoben. Apple zog den Fall an das Gericht der EU weiter und erhielt dort mit Urteil vom 15. Juli 2020 zunächst recht. Das EU-Gericht befand, der Nachweis einer selektiven Steuervergünstigung im Sinne von Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Kommission sei nicht rechtsgenügend gelungen.
Der EuGH aber hob nun dieses Urteil auf und schützt den Entscheid der Kommission. Sein Urteil hält fest, dass die Apple-Einheiten, denen die Gewinne aus Irland zugerechnet wurden, keine Risiken trugen, keine aktiven Funktionen übernahmen und weder Mitarbeiter noch eine physische Präsenz hatten. Alle massgeblichen Funktionen seien von den Zweigniederlassungen in Irland ausgeübt worden. Diese hätten auch die Risiken getragen.
EuGH-Urteil C-48/22 Google und Alphabet c. Europäische Kommission, ECLI:EU:C:2024:726; C-465/2020 Europäische Kommission c. Irland, Apple, ECLI:EU:C:2024:724
Rechtsbeistand für Minderjährige schon bei polizeilicher Befragung
Beschuldigte Kinder und Jugendliche müssen die Möglichkeit haben, sich von einem – nötigenfalls amtlich bestellten – Rechtsbeistand unterstützen zu lassen. Das gilt spätestens bei der Befragung durch die Polizei oder andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörden. Wenn Minderjährige während des Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollenden, verlieren sie dieses Recht nicht automatisch, wie der EuGH in einer Vorabentscheidung festhält, um die das polnische Rayongericht Slupsk ersuchte.
Der Fall betrifft ein 17-jährigen Jugendlichen. Ihm wurde vorgeworfen, an der polnischen Ostseeküste mehrmals in eine nicht mehr benutzte Ferienanlage eingedrungen zu sein. Seine Mutter begleitete ihn zum Polizeiposten. Ihr wurde die Teilnahme an der Einvernahme untersagt. Der Beschuldigte gab an, in die Ferienanlage eingedrungen zu sein, und nannte die Namen von zwei gleichaltrigen Kollegen, die dabei gewesen seien. Auch sie wurden einvernommen. Aufgrund der Geständnisse erhob der Staatsanwalt Anklage.
Das Rayongericht Slupsk bestellte für jeden von ihnen einen amtlichen Verteidiger. Auf ihr Verlangen entfernte das Gericht die bislang gemachten Aussagen aus den Akten, weil sie ohne Beisein eines Rechtsvertreters und damit unter Verletzung der Verfahrensrechte erlangt worden seien. Ein Mitbeschuldigter wurde im Laufe des Gerichtsverfahrens volljährig.
Der EuGH präzisiert in seinem Urteil die Auslegung von Artikel 6 Absätze 1 bis 3 der Richtlinie (EU) 2016/800 über Verfahrensgarantien für Kinder, die verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Demnach muss ihnen das nationale Recht die konkrete und effektive Möglichkeit bieten, sich vor der ersten Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde und spätestens ab dieser Befragung von einem Rechtsbeistand unterstützen zu lassen.
Die aktuelle polnische Regelung entspricht dieser Vorgabe nicht. Denn sie hält fest, dass nicht inhaftierte Minderjährige bei ihrer Befragung nur dann einen Rechtsbeistand erhalten, wenn sie das ausdrücklich beantragen. Zudem stellt der EuGH klar, dass im Laufe des Verfahrens volljährig Gewordene weiterhin einen Anspruch auf den Rechtsbeistand haben, wenn es angesichts ihres Reifegrads, ihrer Schutzbedürftigkeit und anderer Umstände des Einzelfalls angemessen ist.
EuGH-Urteil C-603/22 MS, JW und MP c. Prokurator Rejonowy w Slupsku, ECLI:EU:C:2024:685