Vorratsdatenspeicherung nur bei «ernsthafter Bedrohung» zulässig
Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) hat in den Urteilen Privacy International und La Quadrature du Net erneut die Vorratsspeicherung von Daten thematisiert. Als Vorratsdatenspeicherung bezeichnet man die allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten der gesamten Bevölkerung. Bereits im Jahr 2014 erklärte die Grosse Kammer die Europäische Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten für ungültig. Die Richtlinie enthielt einen besonders schweren Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 GRCh) und auf den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRCh), der sich nicht auf das absolut Notwendige beschränkte (Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-293/12 und C-594/12 Digital Rights Ireland). Im Jahr 2016 beurteilte die Grosse Kammer sodann nationale Regeln zur Vorratsdatenspeicherung in den EU-Mitgliedstaaten Schweden und Grossbritannien. Dabei befand sie, dass EU-Recht eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung solcher Daten untersagt. Eine gezielte Speicherung zum Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten sei zulässig, sofern sie hinsichtlich der Kategorien von Daten, der erfassten Kommunikationsmittel, der betroffenen Personen und der vorgesehenen Dauer auf das absolut Notwendige beschränkt wird. Zudem müsse eine unabhängige Stelle vorher den Zugang der nationalen Behörden zu den Daten kontrollieren (Urteil in den verbundenen Rechtssachen C-203/15 und C-698/15 Tele2/Watson).
Anlass zur erneuten Behandlung der Vorratsspeicherung von Daten in den Urteilen vom 6. Oktober 2020 gaben weitere nationale Regeln in den EU-Mitgliedstaaten Grossbritannien, Frankreich und Belgien, welche die Vorratsspeicherung von Daten mit dem Schutz der nationalen Sicherheit begründeten. Sie argumentierten, dass EU-Recht auf diese Regeln keine Anwendung findet, weil der Schutz der nationalen Sicherheit in der alleinigen Verantwortung der EU-Mitgliedstaaten liege, wie insbesondere aus Art. 4 Abs. 2 EUV hervorgehe.
Die Grosse Kammer entschied, dass die blosse Tatsache, dass eine Massnahme zum Schutz der nationalen Sicherheit getroffen wurde, nicht dazu führen kann, dass EU-Recht nicht anwendbar ist und die Mitgliedstaaten von ihrer Verpflichtung zur Einhaltung des Rechts befreit werden. Jedoch relativierte sie die bisherigen Urteile zur Vorratsdatenspeicherung. In Fällen, in denen ein Mitgliedstaat mit einer «ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit» konfrontiert ist, die sich als echt und gegenwärtig oder vorhersehbar erweist, kann ein EU-Mitgliedstaat von der Gewährleistung der Vertraulichkeit von Daten im Zusammenhang mit der elektronischen Kommunikation abweichen, indem er eine allgemeine Speicherung der Verbindungsdaten für einen bestimmten Zeitraum verlangen darf. Dieser Zeitraum muss auf das unbedingt erforderliche Mass beschränkt sein. Er kann verlängert werden, wenn die Bedrohung fortbesteht. Ein solcher Eingriff in die Grundrechte bedingt wirksame Schutzmassnahmen. Er muss von einem Gericht oder einer unabhängigen Verwaltungsbehörde überprüft werden.
Zudem betonte die Grosse Kammer die Zulässigkeit von weiteren Überwachungsmassnahmen. Einerseits steht einem EU-Mitgliedstaat offen, eine Vorratsspeicherung von IP-Adressen vorzunehmen, die der Kommunikationsquelle zugeordnet sind, wobei die Speicherungsfrist auf das unbedingt Notwendige beschränkt sein muss. Andererseits ist auch eine zeitlich nicht begrenzte Vorratsspeicherung von Daten zulässig, die sich auf die zivile Identität der Benutzer von elektronischen Kommunikationsmitteln beziehen. Schliesslich bestätigte die Grosse Kammer, dass EU-Recht auch einer gezielten Echtzeitüberwachung von Verbindungsdaten nicht im Wege steht, wenn es sich um Verdächtige in Terrorfällen handle und eine justizielle Erlaubnis bestehe.
Mit dem vorliegenden Urteil hat die Grosse Kammer dem Widerstand der EU-Mitgliedstaaten bei der Vorratsdatenspeicherung getrotzt. Sie unterstellte auch Massnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit dem EU-Recht und stärkte damit die EU als Grundrechtsunion. Zudem konkretisierte sie ihre Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung. Was genau eine ernsthafte Bedrohung der nationalen Sicherheit bedeutet, bleibt vorerst jedoch Auslegungssache.
Urteile der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs vom 6.10.2020, Privacy International, C-623/17, ECLI:EU:C:2020:790;
La Quadrature du Net, C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, ECLI:EU:C:2020:791
Deutschland hat die Schwerverkehrsabgabe falsch berechnet
Im Urteil zweier polnischer Speditionsunternehmen gegen die Bundesrepublik Deutschland entschied der EuGH, dass die Lastwagenmaut in Deutschland falsch berechnet wurde. Die Gesellschafter der beiden polnischen Unternehmen machten in Deutschland als Kläger geltend, die Methode, nach der die Mautgebühren berechnet worden seien, sei EU-rechtswidrig. Sie habe zu einer überhöhten finanziellen Verpflichtung geführt. Deswegen klagten die Speditionsunternehmen auf Rückzahlung. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen fragte darauf den EuGH im Vorlageverfahren, ob es gegen die Richtlinie über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge verstösst, dass bei der Berechnung der in Rede stehenden Mautgebühren die Kosten der Verkehrspolizei berücksichtigt wurden.
Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass die Richtlinie einen EU-Mitgliedstaat, der auf dem transeuropäischen Strassennetz Mautgebühren einführt oder beibehält, dazu verpflichtet, bei der Festsetzung der Gebühren ausschliesslich die Infrastrukturkosten der Strassen zu berücksichtigen. Das betrifft die Ausgaben für Bau sowie Betrieb, Instandhaltung und Ausbau. Polizeiliche Tätigkeiten fallen hingegen in die Verantwortung des Staats, der dabei hoheitliche Befugnisse ausübt und nicht nur als Betreiber der Strasseninfrastruktur handelt. Die Kosten der Verkehrspolizei könnten daher nicht als Infrastrukturkosten für den Betrieb im Sinne der Richtlinie über die Erhebung von Gebühren angesehen werden. Den Antrag Deutschlands, die Wirkung des Urteils zeitlich zu beschränken, wies der EuGH zurück. Das Urteil gilt als Präzedenzfall für etliche Erstattungsklagen von Spediteuren.
Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 28.10.2020, BY und CZ c. Bundesrepublik Deutschland, C‑321/19, ECLI:EU:C:2020:866