Gerichtshof kritisiert Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts
Das deutsche Bundesverfassungsgericht entschied am 5. Mai 2020, der Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) verstosse teilweise gegen das Grundgesetz. Dabei geht es um das 2015 gestartete Programm der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen aus Euroländern. Dieses Programm beschäftigte die Karlsruher Richter schon länger. Im Jahr 2017 leiteten sie Klagen gegen das EZB-Programm dem EuGH zur Vorabentscheidung weiter und machten dabei ihre Zweifel an der Rechtmässigkeit des Programms deutlich. Ende 2018 befand der EuGH, dass die Anleihenkäufe zulässig sind. Mit dem aktuellen Urteil setzte sich das Bundesverfassungsgericht über die Vorentscheidung des EuGH hinweg. Die EZB habe kompetenzwidrig gehandelt. Insbesondere sei auch die Kontrolle der Verhältnismässigkeit durch den EuGH nicht mehr nachvollziehbar.
Aufgrund der vielen Fragen, welche das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auslöste, veröffentlichte die Direktion Kommunikation des EuGH eine Stellungnahme. Darin wies sie auf die ständige Rechtsprechung hin, wonach ein Urteil des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren für das vorliegende nationale Gericht bindend ist. Nur der EuGH sei zur Feststellung befugt, ob die Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstösst. Meinungsverschiedenheiten der mitgliedstaatlichen Gerichte über die Gültigkeit solcher Handlungen seien geeignet, die Einheit des Unionsrechts aufs Spiel zu setzen und die Rechtssicherheit zu beeinträchtigen. Ferner unterstrich die Direktion, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte wie andere Träger öffentlicher Gewalt verpflichtet seien, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu garantieren.
Solche Pressemitteilungen aus Luxemburg sind selten und zeigen die Sprengkraft des deutschen Urteils. Auch wenn die Stellungnahme der Direktion Kommunikation explizit darauf hinweist, dass Dienststellen des EuGH keine Urteile von nationalen Gerichten kommentieren, so findet sie mit dem Verweis auf ältere Urteile des Gerichtshofs einen eleganten Weg, die Position Luxemburgs trotzdem klarzumachen.
Pressemitteilung Nr. 58/20 des Gerichtshofs vom 8.5.2020
Wolf auch ausserhalb des natürlichen Lebensraums geschützt
Gemäss EuGH schützt die Richtlinie 92/43 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Habitatrichtlinie) auch geschützte Tiere, die ihren natürlichen Lebensraum verlassen und in menschlichen Siedlungsgebieten auftauchen. Der Fall betrifft einen Wolf, der 2016 in einem rumänischen Dorf von einer Tierschutzvereinigung ohne Genehmigung gefangen und in ein Schutzgebiet transportiert wurde. Dem Wolf gelang jedoch die Flucht und es wurde eine Strafanzeige wegen Delikten im Zusammenhang mit dem Fang und dem Transport des Wolfs unter unangemessenen Bedingungen erstattet.
Im Strafverfahren fragte das zuständige Gericht den EuGH, ob die Schutzbestimmungen der Habitatrichtlinie auch für den Fang eines wildlebenden Wolfes in einem Siedlungsgebiet gilt. Art. 12 Abs. 1 lit. a der Habitatrichtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die notwendigen Massnahmen zu treffen haben, um ein strenges Schutzsystem für die geschützten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen. Das System soll alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung verbieten. Der Gerichtshof stellte fest, dass der räumliche Anwendungsbereich des Verbots weit gefasst ist. Das natürliche Verbreitungsgebiet müsse bei Tieren, die wie der Wolf grosse Lebensräume beanspruchen, mehr umfassen als den geografischen Raum, der für Leben und Fortpflanzung ausschlaggebende physische und biologische Elemente aufweise. Die Ausbreitung des Menschen habe zu einer Anpassung des Verhaltens von Wölfen geführt. Infrastrukturbauten, illegale Waldbewirtschaftung sowie landwirtschaftliche und industrielle Tätigkeiten übten Druck auf die Wolfpopulation aus. Ein wildlebender Wolf, der sich in der Nähe oder innerhalb eines Siedlungsgebiets befindet, ein solches Gebiet durchquert oder sich von Ressourcen ernährt, die der Mensch erzeugt, kann deswegen nicht als ein Tier angesehen werden, das sein natürliches Verbreitungsgebiet verlassen hat.
Der Gerichtshof erklärte, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, für Fälle, in denen ein geschütztes Tier mit Menschen oder ihrem Eigentum in Berührung kommt, einen vollständigen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der gemäss Art. 16 der Habitatrichtlinie Massnahmen zur Verhütung ernster Schäden umfassen kann. Der Fang und Transport eines Wolfes kann nur gerechtfertigt sein, wenn die zuständige nationale Behörde für sie eine Ausnahme auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Buchstaben b und c der Habitatrichtlinie erlassen hat, die beispielsweise auf Gründe der öffentlichen Sicherheit gestützt ist.
Urteil C‑88/19 des Gerichtshofs vom 11.6.2020, Alianta pentru combaterea abuzurilor c. TM, UN, Directia pentru Monitorizarea si Protectia Animalelor, ECLI:EU:C:2020:458
Abgabe von Gratismustern rezeptpflichtiger Arzneimittel an Apotheken unzulässig
Pharmazeutische Unternehmen dürfen Apotheken keine Gratismuster verschreibungspflichtiger Arzneimittel abgeben. Diese Medikamente dürfen in Anbetracht der mit ihrem Gebrauch verbundenen Gefahr oder der hinsichtlich ihrer Wirkungen bestehenden Unsicherheit nicht ohne ärztliche Überwachung verwendet werden. Nur Ärzte dürfen Gratismuster solcher Arzneimittel erhalten. Dagegen verbietet das Unionsrecht nicht, Gratismuster nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel an Apotheken abzugeben.
Urteil C-786/18 des Gerichtshofs vom 11.6.2020, Ratiopharm c. Novartis Consumer Health, ECLI:EU:C:2020:459