Polen, Ungarn und Tschechien verletzten die europäische Solidarität
Die drei Staaten Polen, Ungarn und Tschechien haben mit der Weigerung, in der Flüchtlingskrise 2015 Asylsuchende aufzunehmen, gegen EU-Recht verstossen. Die EU-Innenminister hatten damals beschlossen, die besonders betroffenen Mitgliedstaaten Italien und Griechenland zu entlasten. 160 000 in diesen Ländern gestrandete Asylsuchende sollten demnach in andere EU-Staaten verteilt werden. Der Beschluss wurde nicht einstimmig gefällt, sondern gegen die Stimmen der Slowakei, Polen, Ungarns und Tschechiens.
Die vier osteuropäischen Länder zogen damals vor den EuGH. Dieser entschied 2017, dass der Beschluss zur Umverteilung rechtens war und der Europäische Rat nicht verpflichtet, einstimmig zu entscheiden. Die Slowakei akzeptierte dieses Urteil, die anderen drei Staaten weigerten sich, dem Beschluss Folge zu leisten. Ungarn hätte etwa 1200 Flüchtlinge aufnehmen sollen, Tschechien knapp 2600 und Polen gut 6200. Die Kommission klagte deshalb gegen die drei Länder wegen Vertragsverletzung.
Polen und Ungarn machten insbesondere geltend, dass sie aufgrund ihrer Zuständigkeit für den Schutz der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit gemäss Art. 72 AEUV berechtigt seien, den Beschluss zur Umverteilung von Flüchtlingen nicht anzuwenden. Der EuGH entschied jedoch, dass sich ein Mitgliedstaat nicht kategorisch zur Generalprävention und ohne Nachweis eines unmittelbaren Zusammenhangs mit einem Einzelfall auf Art. 72 AEUV berufen kann, um eine Aussetzung oder Beendigung der Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Umverteilungsbeschluss zu rechtfertigen.
Tschechien berief sich in seiner Verteidigung auf die angebliche Ineffektivität des Beschlusses zur Umverteilung. Der EuGH stellte aber fest, dass es das inhärente Ziel der Solidarität sowie den verbindlichen Charakter des Beschlusses beeinträchtigen würde, wenn sich ein Mitgliedstaat aufgrund seiner einseitigen Beurteilung der Umverteilungsverpflichtung entziehen könnte.
Welche Folgen das Urteil unmittelbar hat, ist noch unklar. Ein Strafmass benannte der EuGH noch nicht. Finanzielle Sanktionen sind denkbar, müssen aber zuerst von der Kommission beantragt werden. Der EuGH verteidigte in diesem Urteil rechtsstaatliche Grundsätze und das Prinzip der europäischen Solidarität. Auch wenn Polen, Ungarn und Tschechien juristisch verloren haben, werden sie sich realpolitisch wohl durchsetzen. Die neuen Vorschläge zur Asylreform enthalten keine Zwangsquoten. Vielmehr fordern sie von den EU- Mitgliedern eine «verbindliche Solidarität», die jedoch auch anders geleistet werden kann als durch die Aufnahme von Flüchtlingen.
Urteile C-715/17, C-718/17 und C-719/17 des Gerichtshofs vom 2.4.2020, Kommission / Polen, Ungarn und Tschechische Republik, ECLI:EU:C:2020:257
Keine direkte Auslieferung von Angehörigen der EWR-Staaten
Im Urteil Ruska Federacija entschied der EuGH, dass Kroatien einen isländischen Staatsangehörigen nicht an Russland ausliefern darf, ohne zuvor die isländischen Behörden zu informieren, damit diese ein Ersuchen auf Übergabe zur eigenen Strafverfolgung stellen können. Der Fall betrifft einen Mann mit russischer Staatsangehörigkeit, der 2015 von Russland zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Der Betroffene war in Island als Flüchtling anerkannt worden und hatte dort auch die Staatsangehörigkeit erlangt. Als er 2019 in Kroatien Urlaub machte, wurde er festgenommen. In der Folge stellte Russland ein Auslieferungsersuchen, welches das zuständige kroatische Gericht guthiess.
Der Betroffene beantragte beim Obersten Gerichtshof von Kroatien die Aufhebung dieser Entscheidung. Er berief sich auf das Risiko, bei einer Auslieferung an Russland unmenschlicher und erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Er betonte, dass Island ihm gerade wegen seiner Verfolgung in Russland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hatte. Insbesondere rügte er einen Verstoss gegen das Urteil Petruhhin von 2016. In diesem Urteil hatte der EuGH entschieden, dass ein Mitgliedstaat, an den ein Auslieferungsersuchen für eine Person gerichtet wird, die über die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates verfügt, diesen anderen Mitgliedstaat über das Auslieferungsersuchen zu informieren hat und ihm den betreffenden Unionsbürger auf Verlangen übergeben muss. Der Oberste Gerichtshof von Kroatien legte den Fall dem EuGH vor. In Frage steht, ob das Urteil Petruhhin auch dann einschlägig ist, wenn die Auslieferung keinen Unionsbürger, sondern einen isländischen Staatsangehörigen betrifft.
Als Erstes prüfte der EuGH die Anwendbarkeit des Unionsrechts. Dabei stellte er fest, dass die im Urteil Petruhhin ausgelegten Art. 18 AEUV (Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit) und Art. 21 AEUV (Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit von Unionsbürgern) in diesem Fall nicht anwendbar sind, weil es sich nicht um einen Unionsbürger handelt. Trotzdem entschied der EuGH, dass der Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, weil das EWR-Abkommen integraler Bestandteil der Rechtsordnung der Union ist. Der EuGH unterstrich dabei die privilegierten Beziehungen zwischen Island und der EU.
Es sei Sache des EuGH, darüber zu wachen, dass die Vorschriften des EWR-Abkommens, die im Wesentlichen mit denen des AEUV identisch sind, innerhalb der Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden. Der betroffene isländische Staatsangehörige verbrachte seinen Urlaub in Kroatien und nahm dort touristische Dienstleistungen in Anspruch. Der EuGH zeigte, dass der freie Dienstleistungsverkehr in Art. 56 AEUV die Freiheit von Leistungsempfängern einschliesst, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Die gleiche Auslegung sei auch im Hinblick auf den durch Art. 36 EWR-Abkommen gewährleisteten freien Dienstleistungsverkehr geboten.
Weil der Sachverhalt damit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, präzisierte der EuGH als Zweites den Schutz in Art. 19 Abs. 2 Charta der Grundrechte. Nach dieser Bestimmung darf niemand in einen Staat ausgeliefert werden, in dem das ernsthafte Risiko der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. So entschied der EuGH, dass Kroatien vor einer etwaigen Auslieferung prüfen muss, ob dieser Schutz beeinträchtigt wird.
Sollte Kroatien der Auffassung sein, dass die Charta der Auslieferung nicht entgegenstehe, wies der EuGH als Drittes darauf hin, dass nationale Vorschriften, die eine Auslieferung eigener Staatsangehöriger verbieten – wie dies in Kroatien der Fall ist – eine Ungleichbehandlung zwischen eigenen und Staatsangehörigen von EWR/Efta-Staaten schaffen. Mit dieser Ungleichbehandlung würde der freie Dienstleistungsverkehr beschränkt. Im Rahmen der Verhältnismässigkeit stellte der EuGH zwar fest, dass die Verhinderung von Straflosigkeit ein legitimes Ziel ist und die Auslieferung an einen Drittstaat zur Erreichung dieses Ziels geeignet erscheint, jedoch eine alternative Massnahme existiert, die weniger stark in das Recht auf Freizügigkeit eingreift als die Auslieferung an einen Drittstaat. So hat der EuGH analog zum Urteil Petruhhin entschieden, dass dem Informationsaustausch mit Island Vorzug zu geben sei. Damit haben die isländischen Behörden, sofern sie nach isländischem Recht für die Verfolgung des Betroffenen wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig sind, Gelegenheit, ein Ersuchen auf Übergabe des Betroffenen zu stellen.
Obwohl der einschlägige Rahmenbeschluss 2002/584 zum Übergabeverfahren für Island als EWR/Efta-Staat nicht gilt, habe Island – wie auch Norwegen – mit der EU ein Übereinkommen über das Übergabeverfahren geschlossen. Darin hätten die Parteien das gegenseitige Vertrauen auf die Struktur und die Funktionsweise ihrer Rechtssysteme und ihre Fähigkeit, ein faires Verfahren zu gewährleisten, zum Ausdruck gebracht. Überdies seien die Bestimmungen des Übereinkommens über das Übergabeverfahren den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 sehr ähnlich.
Es ist eine offene Frage, ob der EuGH in einem Fall mit einem Schweizer Staatsangehörigen analog entscheiden würde. Obwohl die passive Dienstleistungsfreiheit auch in Art. 5 Abs. 3 des Freizügigkeitsabkommens (FZA) angelegt ist, sehen die bilateralen Abkommen eine deutlich weniger tiefe Integration in den Binnenmarkt vor als das EWR-Abkommen. So besteht in Art. 5 Abs. 3 FZA auch kein umfassendes Recht auf Nichtdiskriminierung. Zudem hat die Schweiz kein vergleichbares Übereinkommen über das Übergabeverfahren mit der EU abgeschlossen. Damit fällt eine alternative Massnahme weg, die weniger stark in das Recht auf Freizügigkeit eingreifen würde.
Urteil C‑897/19 PPU des Gerichtshofs (Grosse Kammer) vom 2.4.2020, Ruska Federacija, ECLI:EU:C:2020:262