Werbesteuer in Ungarn verstösst gegen die Dienstleistungsfreiheit
Im Juni 2014 führte Ungarn eine Sondersteuer auf die Veröffentlichung von Werbung ein. Anlass zu dieser Sondersteuer gaben insbesondere die grossen Internetunternehmen, die in Ungarn Einnahmen generieren, ohne dort registriert zu sein. Die Steuer ist progressiv gestaltet. Bei hohen Umsätzen fällt sie prozentual höher aus als bei geringen Umsätzen. Unternehmen, die entsprechende Werbeeinnahmen haben, müssen sich innerhalb von 15 Tagen bei der ungarischen Steuerbehörde anmelden. Google kam dieser Anmeldepflicht nicht nach, obwohl das US-Unternehmen mit Sitz in Irland eine werbesteuerpflichtige Tätigkeit in Ungarn ausübt. Die Steuerbehörde verhängte gegen Google eine Busse von zunächst rund 31 000 Euro und nach wenigen Tagen eine Busse von rund 3,1 Millionen Euro aufgrund einer Verdreifachung des Bussgelds nach jeder Feststellung, dass die Anmeldepflicht nicht erfüllt wurde.
Google erhob gegen die Entscheidungen der ungarischen Steuerbehörde Klage und beantragte deren Aufhebung. Die Bussen seien deutlich (nämlich bis zu 2000 Mal) höher als bei inländischen Unternehmen. Ausserdem erfolge eine Anmeldung bei inländischen Unternehmen automatisch mit der Eintragung in das Firmenregister, sodass nur ausländische Unternehmen überhaupt von den Sanktionen erfasst würden. Das zuständige ungarische Gericht wandte sich daraufhin an den Europäischen Gerichtshof. Im Zentrum des Vorabentscheidungsverfahrens stand ein potenzieller Verstoss gegen die Dienstleistungsfreiheit.
Die Grosse Kammer befand mit Bezug auf die automatische Anmeldung von inländischen Unternehmen, dass damit unnötige Formalitäten vermieden werden und dies keine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt. Im Zusammenhang mit dem Sanktionssystem unterstrich die Grosse Kammer, dass die Sanktionen im Werbesteuergesetz formal gesehen unterschiedslos gelten. Jedoch würden nur Unternehmen, die nicht in Ungarn steuerlich ansässig sind, tatsächlich Gefahr laufen, nach dem Werbesteuergesetz sanktioniert zu werden. Die inländischen Unternehmen seien aufgrund der automatischen Anmeldung von der Anmeldepflicht befreit. Zwar können auch inländische Unternehmen sanktioniert werden, wenn sie ähnliche Pflichten nicht erfüllen, denen sie nach den allgemeinen Vorschriften des nationalen Steuerrechts unterliegen. Allerdings ermögliche das Werbesteuergesetz wesentlich höhere Bussen und eine Vervielfachung der Busse in extrem kurzen Fristen. Darin fand die Grosse Kammer eine unverhältnismässige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs.
Der EuGH wird sich noch einmal mit der Werbesteuer in Ungarn beschäftigen müssen. Die Europäische Kommission beschloss 2016, dass die Progression der Steuer eine unzulässige Beihilfe für Kleinunternehmen darstellt. Das Gericht der Europäischen Union verneinte dies, nachdem Ungarn eine Klage auf Nichtigerklärung des Kommissionsbeschlusses erhoben hatte. Gegen den Entscheid des Gerichts legte die Kommission ein Rechtsmittel ein.
Urteil C‑482/18 der Grossen Kammer des Gerichtshofs vom 3.3.2020, Google Ireland c. Nemzeti Adó- és Vámhivatal Kiemelt Adó- és Vámigazgatósága, ECLI:EU:C:2020:141
Fack Ju Göhte verstösst als Unionsmarke nicht gegen die guten Sitten
Die von Constantin Film produzierte Filmkomödie «Fack Ju Göhte» und ihre Sequels zählen zu den erfolgreichsten deutschen Kinofilmen. Im Jahr 2015 meldete Constantin Film beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) das Wortzeichen Fack Ju Göhte als Unionsmarke an. Das EUIPO lehnte es ab, diesem Zeichen Markenschutz zu gewähren, weil es gegen die guten Sitten verstosse. Die deutschsprachigen Verkehrskreise würden in den Wörtern Fack Ju den entsprechenden vulgären englischen Ausdruck erkennen. Durch Hinzufügung des Elements Göhte könne die Wahrnehmung der Beleidigung nicht wesentlich abgeändert werden. Das Gericht der Europäischen Union wies eine Klage von Constantin Film gegen diesen Entscheid ab.
Der EuGH hingegen sah dies anders. Nach Auffassung des EuGHs haben das Gericht und das EUIPO nicht hinreichend berücksichtigt, dass verschiedene Begleitumstände übereinstimmend darauf hinweisen, dass der Titel der Filmkomödie von der deutschsprachigen breiten Öffentlichkeit nicht als moralisch verwerflich wahrgenommen wird.
Urteil C‑240/18 P des Gerichtshofs vom 27.2.2020, Constantin Film Produktion / EUIPO, ECLI:EU:C:2020:118
Beim Europäischen Haftbefehl zählt die verhängte Strafe
Der mallorquinische Rapper Valtònyc wurde 2017 in Spanien wegen «Verherrlichung des Terrorismus» zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das entsprach der Maximalstrafe für den Tatbestand zum relevanten Zeitpunkt. In Liedertexten von 2012 bis 2013 rief Valtònyc beispielsweise zur bewaffneten Besetzung des Marivent-Palastes in Palma de Mallorca auf, in dem die Königsfamilie jeweils ihren Sommerurlaub verbringt. Vor Haftantritt floh der Rapper nach Belgien. Spanien stellte einen Europäischen Haftbefehl aus und beantragte die Auslieferung von Valtònyc. Ein belgisches Gericht entschied daraufhin, dass der Rapper nicht ausgeliefert werden dürfe, weil das in Spanien geahndete Delikt in Belgien so nicht strafbar sei. Das von der belgischen Staatsanwaltschaft angefochtene Urteil gelangte auf dem Weg des Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH.
Die Grosse Kammer musste klären, welche Fassung des spanischen Strafgesetzbuches heranzuziehen ist. 2015 erhöhte Spanien nämlich die Maximalstrafe für den Tatbestand der Verherrlichung des Terrorismus auf drei Jahre Haft. Mit dieser Erhöhung fällt die Straftat unter den Mechanismus des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl, welcher die Auslieferung ohne Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit vorsieht.
Die Grosse Kammer entschied jedoch, dass sich der Rahmenbeschluss auf die verhängte Strafe bezieht und damit das für die abgeurteilte Tat geltende Recht einschlägig ist. Somit ist das Kriterium der beiderseitigen Strafbarkeit zu prüfen.
Urteil C‑717/18 des Gerichtshofs (Grosse Kammer) vom 3.3.2020, ECLI:EU:C:2020:142