Helen Keller, ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR), wählte einen provokativen Titel für ihren Vortrag an der Universität Zürich im letzten Oktober: «Effizienzsteigerung auf Kosten des Menschenrechtsschutzes? – Der EGMR als ausgepresste Zitrone».
Mit Zahlen und Statistiken zeigte die Professorin die Massnahmen auf, die der EGMR im vergangenen Jahrzehnt ergriff, um den riesigen Pendenzenberg von knapp 70'000 offenen Fällen zu bewältigen. Dazu gehört zum Beispiel die Schaffung einer Einzelrichterbesetzung im Jahr 2010.
90 Prozent der Beschwerden werden abgelehnt
Die Einzelrichter entscheiden, ob eingereichte Beschwerden die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllen. Rund 90 Prozent aller Beschwerden qualifiziert der Gerichtshof als unzulässig. Rechtsuchende, ihre Anwälte und die Lehre kritisieren die Einzelrichterbesetzung seit ihrer Einführung wegen fehlender Transparenz der Entscheidungen.
Beschwerdeführer erhielten zu Beginn als Begründung meist nur einen Einzeiler, wonach die «in den Artikeln 34 und 35 der Konvention genannten Zulässigkeitskriterien nicht erfüllt» sind.
Vor rund sieben Jahren einigten sich die Staaten dann darauf, dass der Gerichtshof seine Einzelrichterurteile ausführlicher zu begründen habe. Seither gibt er an, welche Zulässigkeitsvoraussetzung im Einzelfall fehlt. Beispiele: Die Beschwerde sei «offensichtlich unbegründet», der innerstaatliche Instanzenzug sei nicht ausgeschöpft, der Gerichtshof sei nicht zuständig oder die Beschwerdefrist nicht eingehalten worden. Dennoch erschliesst sich für die Rechtsvertreter nicht immer, aus welchen konkreten Gründen der Gerichtshof im einzelnen Fall die Beschwerde als unzulässig qualifizierte.
Das gilt vor allem für das Argument der «offensichtlichen Unbegründetheit». Laut Thibaut Larrouturou, einem ehmaligen juristischen Mitarbeiter Frankreichs am EGMR, ist ein solcher Entscheid oft das Resultat einer Verhältnismässigkeitsprüfung. Doch diese Erwägungen fehlen in der Begründung des Entscheids. Die blosse Nennung der «offensichtlichen Unbegründetheit» sage somit nur wenig über den tatsächlichen Grund für das Nichteintreten aus.
Diese Problematik bestätigt auch Fanny de Weck, Anwältin im Straf- und Migrationsbereich, die im Rahmen ihrer Tätigkeit oft mit Beschwerden an den Gerichtshof gelangt. Sie habe zwar Verständnis für die Effizienzsteigerung aufgrund der grossen Arbeitslast. Das Vertrauen leide, wenn der Gerichtshof im Grossteil der Fälle keine Begründung für die Ablehnung liefere.
«Ermessensausübung nach undurchsichtigen Kriterien»
De Weck erwähnt ein Beispiel aus ihrer Praxis: «Die in der Konvention oder ihren Protokollen enthaltenen Rechte und Freiheiten sind nicht verletzt worden. Daraus folgt, dass diese Behauptungen im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 der Konvention offensichtlich unbegründet sind.» De Weck konnte sich das Nichteintreten nicht erklären, insbesondere weil der Gerichtshof in einem vergleichbaren Fall anders entschieden habe. Das Argument der fehlenden Begründung ist für sie deshalb nichts anderes als eine «Ermessensausübung des Gerichtshofs nach undurchsichtigen Kriterien».
Beschwerdefrist von sechs auf vier Monate verkürzt
Diese Intransparenz rüttelt an der Legitimität des Gerichtshofs. Denn so entsteht der Eindruck, dass die sehr hohe Nichteintretensrate nicht das Ergebnis einer genauen Prüfung der Beschwerden ist, sondern bloss dem Abarbeiten der Pendenzen dient. Die Quote der Nichteintretensentscheide ist mit 90 Prozent extrem hoch. Das zeigt der Vergleich mit dem Schweizer Bundesgericht: Dieses trat letztes Jahr in gut 50 Prozent der Fälle auf die Beschwerden ein.
Keller erwähnt an ihrem Vortrag an der Uni Zürich weitere Massnahmen des Gerichtshofs, die den Zugang erschweren. So wurde etwa die Beschwerdefrist 2022 von sechs auf vier Monate gekürzt. Zudem gebe es formale Hürden: Wenn zum Beispiel unklar sei, gegen welches Land sich die Beschwerde richte, weil das entsprechende Kästchen auf dem Einreicheformular nicht angekreuzt sei, erfolge eine Abschreibung wegen formaler Gründe.
Immerhin kann man die Beschwerde bei einem formalen Fehler korrigieren und noch einmal einreichen. Dies aber nur, solange die Beschwerdefrist noch läuft.
De Weck empfiehlt, die Beschwerden so früh wie möglich einzureichen. Denn es könne Wochen dauern, bis der Gerichtshof über einen formalen Fehler via Postweg informiert. Keller wie de Weck teilen die Kritik, dass der Gerichtshof die Staaten oft wegen überspitzten Formalismus rügt, selbst aber auch so vorgeht.
Nationale Gerichte sind gefordert
Der heute 91-jährige Anwalt Ludwig A. Minelli reichte 1976 in Strassburg die erste Beschwerde gegen die Schweiz ein. Er lobt die innovative Arbeit des EGMR wie etwa im Fall der Klimaseniorinnen. Der Gerichtshof sei aber seit Jahrzehnten überlastet.
Minelli hat Verständnis für die Massnahmen des Gerichtshofs, doch die «Gefahr eines überspitzten Formalismus» sei ernst zu nehmen. Er sieht die nationalen Gerichte in der Verantwortung, welche die Menschenrechte schon im vorherigen Verfahren zu schützen haben. Auch Helen Keller sieht die Lösung der Überlastung in einer Stärkung der nationalen Gerichte.