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Plädoyer 2/11
04.04.2011
Letzte Aktualisierung:
04.10.2013
Christof Brassel
Mit seinem kürzlich gefällten Schleudertrauma-Urteil hat das ehrwürdige Bundesgericht eine stahlharte Abrissbirne gegen die Säulen der sozialen Sicherheit geschleudert: Wer Schleudertrauma-Schmerzen hat, die man wissenschaftlich nicht feststellen kann, gilt von nun an als Simulant, auch wenn er sich krümmt vor Schmerzen. Er soll sich halt bei der Arbeit etwas zusammenreissen. Mit etwas Willensanstrengung kann man nämlich nach Ansicht von Bundesrichter Ulrich...
Mit seinem kürzlich gefällten Schleudertrauma-Urteil hat das ehrwürdige Bundesgericht eine stahlharte Abrissbirne gegen die Säulen der sozialen Sicherheit geschleudert: Wer Schleudertrauma-Schmerzen hat, die man wissenschaftlich nicht feststellen kann, gilt von nun an als Simulant, auch wenn er sich krümmt vor Schmerzen. Er soll sich halt bei der Arbeit etwas zusammenreissen. Mit etwas Willensanstrengung kann man nämlich nach Ansicht von Bundesrichter Ulrich Meyer, dem Präsidenten der II. sozialrechtlichen Abtei-lung, solche unwissenschaftlichen Schmerzen problemlos überwinden. Bald wird der Triumph des Willens die Schweiz sowohl rechtlich wie auch medizynisch grundlegend revolutionieren.
Mit etwas Willenseffort und Euphorie-Doping verschwindet jede Depression ersatzlos von der Bildfläche, und mit der nötigen Willenskraft bringen Behinderte locker jeden Arbeitgeber dazu, sie einzustellen. Mit etwas Willenskraft kann auch jeder Farbenblinde als Taxifahrer und jeder Stotterer leicht als Nachrichtensprecher arbeiten.
Willenskraft ist das Zauberwort. Es verschafft dem Lebenstüchtigen endlich freie Bahn und befreit die Versicherungsbranche von gewinnbremsenden menschlichen Altlasten. Denn ein tüchtiger Versicherungsanalyst weiss schon längst, dass die meisten Unfälle Scheinunfälle sind, mit Scheinverletzten und Scheintoten.
Jene, die es dann doch erwischt, sind im Grunde genommen selber schuld, weil sie nicht die nötige Willenskraft aufgebracht haben, sich einen genügend gepanzerten Offroader anzuschaffen. Dank Giezendanner & Co. wird es bald auch vorbei sein mit den Kuschelstrassen in unserem Lande. Radarkästen sollen verschwinden, und bei Tempolimiten soll nur noch gebüsst werden, wer sie unterschreitet.
Eine Willensnation von Willisau bis Seldwilla
Wenn dann im ganzen Rechtssystem generell nur noch das Recht des Stärkeren gilt, hat sich auch das Problem des Rechtsmissbrauchs erledigt. Wer nicht stark genug ist, hat keine Rechte, und wer stark genug ist, braucht keine Rechte.
Mit etwas Willensanstrengung sind wir Schweizer endlich eine wahre Willensnation, von Seldwilla über Willisau bis Willchingen. Als Willensnation brauchen wir weder Kuscheldemokratie noch Kuschelrechtsstaat, entscheidend ist einzig der Volkswille, welcher bekanntlich in den Willenvierteln von Herrgiswill bis Wollerau ausgebrütet wird.
Mit ihrem Urteil zum Schleudertrauma hat die Sozialversickerungs-Abteilung des Bundesgerichts einen Meilenstein gesetzt. Die Willenskraft wird zum ultimativen Hieb- und Stichwort im Kampf ums Dasein. Die Wohlfahrt wird ersetzt durch die Vollfahrt, die Philosophie durch eine eiserne Willosophie - bis der fortschreitende Triumph des Willens die überregulierten Kuschelgrundrechte schwungvoll zugunsten einer gesunden Willkür zurückgeschleudert hat.