Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg arbeiten über 600 Personen: 47 Richter, 300 Gerichtsschreiber sowie 300 Assistenten. Ende August beendet dort ein Schweizer Jurist seine Karriere, der über 30 Jahre in Strassburg tätig war und den Gerichtshof mitgeprägt hat: der 65-jährige Völker- und Menschenrechtler Mark Villiger.
Villigers schwarze Richterrobe hängt gleich neben dem Eingang. Das Büro ist hell, angereichert mit Skulpturen aus aller Welt, Souvenirs von Reisen. An den Wänden hängen Bilder, Auszeichnungen und Familienfotos. Villigers grosses Büro zeigt seine hierarchische Stellung. Er ist Sektionspräsident der fünften Kammer. Das Büro zählt fünf Fenster. Normale Richter haben Anspruch auf vier, Gerichtsschreiber auf drei.
Der grossgewachsene, grauhaarige Jurist kommt im Gespräch gleich auf den Punkt: «Alle zwei Minuten wird irgendwo in Europa ein Brief an den Gerichtshof geschrieben, alle zehn Minuten eine Beschwerde verfasst.» Für viele Bürger in Europa sei das Gericht in Strassburg die letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit. Und für diese Leute arbeitet er gerne auch bis spät in die Nacht hinein. Weit über 8000 Urteile hat er als Einzelrichter entschieden. Und in der Grossen Kammer sowie in seiner Sektion bei über 1300 Urteilen mitgewirkt.
Der ehemalige EGMR-Präsident Luzius Wildhaber hat nur beste Erinnerungen an Villiger. «Er kennt die Rechtsprechung aussergewöhnlich gut.» Er argumentiere stets realistisch und konsensorientiert, sei nicht weltfremd und pflege mit allen freundschaftliche Beziehungen. «Mit diesen Eigenschaften hat er viel zu einer ausgewogenen Entwicklung der Rechtsprechung beigetragen.»
Die Fähigkeiten und Stellung Villigers haben Spuren in seiner Familie hinterlassen: Weder sein Sohn noch seine Tochter wollten in der Justiz tätig werden und entschieden sich für eine Karriere in der Wirtschaft. «Wahrscheinlich habe ich ihnen in jungen Jahren zu viel über Folter und andere schreckliche Dinge erzählt, die den Menschen widerfahren», meint Villiger. Sohn Patrick sagt: «Mein Vater ist ein Koloss in der Jurisprudenz. Ich habe meinen eigenen Weg eingeschlagen.»
Ursprünglich wollte Mark Villiger Archäologie, Latein und Geschichte studieren. Der Vater empfahl ihm aber ein Jus-Studium. Während der Lizentiatszeit habe er eher lustlos studiert. «Auch weil die damaligen Dozenten nicht so toll waren», erinnert sich Villiger. Vor der Doktorprüfung kam dann die Wende. Er entdeckte das Völkerrecht: «Das hat mein Leben verändert. Ich wollte nur noch Völkerrechtler werden.» Da er sehr gerne unterrichtet habe, wäre er gerne Völkerrechtsprofessor geworden. Das Schicksal habe ihn zum Richter gemacht. Daneben ist er noch Titularprofessor an der Uni Zürich. «Eine Traumkombination», sagt Villiger.
Mit fremden Kulturen eng verbunden
Mark Villiger kam schon früh mit andern Ländern und Kulturen in Kontakt. Die Primarschule absolvierte Villiger in Moçambique und Südafrika, das Gymnasium in Österreich. Von 1971 bis 1976 studierte er Rechtswissenschaften in Zürich. 1978 erhielt er für seine Dissertation «Swiss Expatriates and Swiss International Jurisdiction» die Höchstnote summa cum laude. Nach einem Aufenthalt an der Universität Cambridge fing Villiger 1983 als Mitarbeiter im Sekretariat der Europäischen Menschenrechtskommission an. 1991 war er Abteilungsleiter. Zehn Jahre später stellvertretender Kammerkanzler am EGMR. Seit September 2006 ist er vom Fürstentum Liechtenstein gewählter Richter.
Lange Zeit war die Überbelastung des Gerichtshofs ein Thema. Heute nicht mehr, so Villiger. Einst seien 160 000 Beschwerden hängig gewesen, heute noch 70 000. «Bei den Einzelrichterfällen erledigen wir pro Jahr so viele, wie hereinkommen.» Das sei möglich geworden, weil die europäischen Staaten im 14. Zusatzprotokoll am Gerichtshof den Einzelrichter einführten, der klar unzulässige Fälle abweisen kann.
“Der Gerichtshof arbeitet sehr effizient”
Der EGMR als grösstes internationales Gericht bemühe sich aber weiter laufend um die Steigerung seiner Effizienz, bekräftigt Villiger. Vor kurzem wurde der Gerichtshof zum vierten Mal einem Audit unterzogen, diesmal vom französischen Cour des Comptes. Mit sehr gutem Ergebnis: «Der Rechnungshof attestierte uns, dass er noch nie eine Institution überprüft hatte, die derart effizient arbeitet.»
In der Schweiz wird der Gerichtshof neuerdings heftig kritisiert. Er mische sich zu sehr in die nationale Gesetzgebung ein. Villiger weist dies zurück: «Kritisiert wird die Rechtsprechung über die Ausweisung von Ausländern und ihr Anspruch auf Achtung des Familienlebens. Diese Rechtsprechung besteht aber seit den sechziger Jahren.» Zudem gewähre der Gerichtshof in den Bereichen von Art. 8 bis 11 (Recht auf Privatsphäre und Familienleben, Religions-, Meinungs-, und Versammlungsfreiheit) in jedem Fall dem betroffenen Staat einen Ermessensbereich. Und über 95 Prozent der Beschwerden weise der Gerichtshof ab. Villiger: «Unter den Fällen, die zurückbehalten werden, finden sich viele, die mit überlanger Verfahrensdauer zu tun haben. Und das soll eine übergrosse Einmischung sein?»
Villiger zeigt sich besorgt über die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Europa und die Forderungen rechtskonservativer Parteien, die EMRK zu kündigen. Für eine kleine Nation wie die Schweiz, die so stark in die globale Welt verwoben sei, wäre es laut Villiger leichtsinnig, das Völkerrecht aufs Spiel zu setzen. Er verweist auf die vielen internationalen Verträge, welche die Schweiz abschloss: «Sollen sie nun dem Landesrecht unterstellt werden? Das untergräbt doch das Vertrauen der anderen Staaten zur Schweiz. Die internationalen Beziehungen der Schweiz würden so enorm geschwächt.»
Was will Villiger in Zukunft tun? Er freue sich auf etwas mehr Zeit für sich selbst: «Ich bin begeisterter Schwimmer. In meinem Leben schwamm ich rund 15 000 Kilometer.» Villiger hat also den Atlantik durchquert und ist nun in der zweiten Hälfte des Pazifik.
Ganz wird Villiger von der Justiz nicht Abstand nehmen: Ein EMRK-Kommentar auf Englisch brenne ihm schon seit längerem unter den Nägeln. So werden auch künftige Generationen von Juristen von seiner grossen Erfahrung im Völkerrecht und seinem Einsatz für die Anerkennung fundamentaler Menschenrechte profitieren können.