Das kantonale Versicherungsgericht St. Gallen ist so fest in Frauenhand wie kein anderes Schweizer Gericht. Von neun Richtern sind sieben Frauen. Und mit Marie Löhrer hält seit Juni 2019 zum zweiten Mal eine Frau das Zepter in der Hand. Fragt man in der Gallusstadt Juristen nach Löhrer, fällt der Satz, sie habe «einen markanten Sinn für Gerechtigkeit». Oder sie wird mit einem Adjektiv charakterisiert: «Willensstark».
Diese Tugend braucht die 57-jährige Präsidentin des St. Galler Versicherungsgerichts, die seit acht Jahren in einer eingetragenen Partnerschaft lebt, heute mehr denn je. Der Grund: Ihre Kollegen am Gericht richten nicht immer gestützt auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts. Vor allem die zweite Abteilung des Versicherungsgerichts, die Fälle rund um die Invalidenversicherung und Ergänzungsleistungen behandelt, kritisierte die Praxis des Bundesgerichts zum Einholen von Gerichtsgutachten wiederholt. Löhrer stellt klar: «Es handelt sich hier nicht um eine Praxis des Versicherungsgerichts.» Jede Abteilung sei in der Urteilsfindung unabhängig. «Dies muss erlaubt sein. So funktioniert Rechtsprechung.» Die Auslegung des Rechts benötige eine permanente Überprüfung. Dazu seien auch die kantonalen Gerichte da. Löhrer ist überzeugt: «Rechtsentwicklung beginnt bei den erstinstanzlichen Gerichten.»
Das Bundesgericht will St. Gallen auf Kurs bringen
Ein Kenner der Sozialversicherungsjustiz sieht das gleich: Der St. Galler Professor Ueli Kieser meint, auf Löhrer angesprochen: Die Justiz brauche eigenständige Gerichte, die von Querdenkern geprägt seien und «sich nicht scheuen, unorthodoxe Ansichten zu vertreten und zu begründen». Damit würden sie die Justiz zwingen, eigene Positionen immer wieder zu überdenken.
Doch die sozialrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts in Luzern wollen davon nichts wissen. Beispiel: Löhrer präsidiert in St. Gallen die erste Abteilung des Versicherungsgerichts, die Fälle der AHV, der ALV und der IV behandelt. In einem Fall wollte das Gericht ein Gutachten einholen. Grund: «Dem Gericht fiel auf, dass von der IV-Stelle oft ein bestimmter Gutachter beauftragt wurde. Wir zweifelten an seiner Unabhängigkeit und nannten im Entscheid diverse weitere Gründe, weshalb uns das Gutachten nicht überzeugte.» Die IV-Stelle zog dagegen ans Bundesgericht. Und was machte Luzern? «Sie schauten nicht einmal die Akten an, noch wurden wir als Vorinstanz, noch die versicherte Person angehört.» Das Bundesgericht habe allein gestützt auf die Ausführungen der IV-Stelle die Begutachtung aufgehoben und dem Kanton die Kosten auferlegt (9C_824/2019).
«Ich war fassungslos», sagt Löhrer sichtlich betroffen. «Luzern zieht nun alle Register, um St. Gallen auf Kurs zu bringen. Sie erheben mittlerweile bei uns Gerichtsgebühren bis zu 2500 Franken, wenn wir nicht in ihrem Sinn urteilen.» Mit dem Hinweis, sie könnten auch auf 10 000 Franken erhöhen. Das sei unverständlich.
Und es hat Folgen. Kaum als Präsidentin im Amt, kündigte die Rechtspflegekommission des Kantonsparlaments eine Visitation an. Thema: Die Meinungsverschiedenheiten mit dem Bundesgericht und die vielen Kostenauflagen. Löhrers Beharren auf dem Standpunkt, die Justiz müsse unabhängig und eine Rechtsfortbildung zulässig bleiben, fruchteten. Auch der kantonale Justizdirektor Fredy Fässler hielt in einer Stellungnahme gegenüber der Rechtspflegekommission klar fest, dass die richterliche Unabhängigkeit für die Regierung unantastbar sei.
Löhrer will als Richterin immer «grundsätzlich den Menschen ins Zentrum stellen». Das habe ihr als Praktikantin am Bezirksgericht St. Gallen der damalige Gerichtspräsident Werner Baldegger vorgelebt. Nach dem Praktikum machte sie 1989 das Anwaltspatent und war mit 26 Jahren die jüngste Anwältin im Kanton. Ein Jahr später gründete sie mit Franciska Hildebrand eine Kanzlei. «Zu dieser Zeit war ein reines Frauenbüro etwas Spezielles», meint Löhrer lachend.
Ihre Schwerpunkte waren Familienrecht, Scheidungsrecht und Vertretungen von Opfern von Straftaten. In dieser Zeit gründete Löhrer mit Kolleginnen auch den Verein «Feministische Juristinnen Ostschweiz». «Bis heute ein wichtiges Netzwerk für mich», so Löhrer. Einmal im Monat werde bei einem Treffen ein bestimmtes Thema behandelt. In der nächsten Sitzung referiert eine Sozialarbeiterin der Jugendanwaltschaft über die Mediation im Jugendstrafverfahren. «So sehe ich auch in andere Rechtsgebiete rein.»
Grund für eine Beschwerde im Kern erfassen
Feministische Themen brachte die Mutter von Löhrer schon in Jugendzeiten auf den Tisch. Die Eltern hatten sich in Kopenhagen kennengelernt. Die Richterin erinnert sich: «Als meine Mutter 1964 in die Schweiz kam, war sie schockiert, dass sie kein Stimmrecht mehr hatte.» Löhrer beschreibt ihren Vater als überzeugten CVP-Wähler: «Der politische Diskurs wurde schon zu Hause sehr gefördert.»
Auch nach 20 Jahren am Gericht lässt sie sich trotz der professionellen Distanz von einzelnen Schicksalen berühren. «Das ist mir wichtig, sonst könnte ich diese Arbeit nicht machen, die hauptsächlich aus schriftlichen Verfahren besteht.» Insbesondere die Bedeutung des rechtlichen Gehörs dürfe man nicht aus den Augen verlieren. Das ist ihr eindringlichster Appell an die Praktikanten, die Löhrer auch als Präsidentin selbst ausbildet. «Die Leute kommen aus einem ganz spezifischen Grund zu uns. Diesen Grund müssen wir im Kern erfassen.» Vielleicht bekämen sie am Ende nicht recht. «Sie sollen aber immer das Gefühl haben, dass ihr Standpunkt angehört und sie ernst genommen werden.» Die Richterin schreibt Leute auch mal direkt an, gerade wenn eine Partei anwaltlich nicht vertreten und ihre Beschwerde aussichtslos ist. Sie erkläre dann, wie die rechtliche Situation aussehe. «Das bringt einer rechtsuchenden Person meistens mehr als ein zehnseitiges Urteil.»
Löhrer ist aus Überzeugung der SP beigetreten. «Wir haben auf der einen Seite die einzelne Person und auf der anderen Seite die Verwaltung mit ihrem ganzen Wissen und ihrer Macht.» Ihr gehe es darum, hier einen Ausgleich zu schaffen. «Es ist die Aufgabe des Gerichts, das Machtverhältnis auszugleichen. Natürlich nicht willkürlich, sondern um Rechtsgleichheit zu schaffen.» Löhrer hat vor dem geistigen Auge die Figur der Justitia mit der Waage in der Hand. «Die Waage soll ja einen Ausgleich schaffen.»