Welche Tatsachen werden im schweizerischen Strafverfahren gesucht? Im Gesetzgebungsprozess zur 2011 in Kraft getretenen eidgenössischen Strafprozessordnung ging man davon aus, dass die Rekonstruktion der materiellen Wahrheit, also der historischen Wahrheit, das prinzipielle Ziel des Strafverfahrens sei. Diese Wahrheitssuche hat im Rahmen eines rechtsförmigen Verfahrens zu erfolgen, welches sie kanalisiert. Indessen fehlte es an einer konsistenten Vermessung strafprozessrechtlicher Grundlagen.
Das schweizerische Strafprozessrecht basiert damit, sowohl mit Blick auf seinen Wahrheitsbegriff und seine Wahrheitssuche als auch auf das Verhältnis seiner Institute zueinander, nicht auf einer theoretisch fundierten Konzeption. Es ist vielmehr das Ergebnis eines pragmatischen Gesetzgebungsvorgangs und einer ebenso pragmatischen Rechtsanwendung seit 2011.
Dieser Pragmatismus hat Pferdefüsse. Die Strafprozessordnung zerfällt in verschiedene Substrafprozessordnungen. Eine zwingende Prozessstruktur mit einem Vorverfahren und einem öffentlichen Hauptverfahren für alle Strafprozesse besteht nicht, obwohl die Strafprozessordnung prima vista so eingerichtet erscheint.
Der grösste Teil der Fälle wird am Ende des Vorverfahrens mit Einstellungsverfügung oder Strafbefehl erledigt. Dabei geht es regelmässig auch um Strafverfahren von erheblicher Tragweite. Es ist nicht abschliessend geklärt, inwiefern das Prozessziel der materiellen Wahrheit beim Strafbefehlsverfahren normativ und faktisch wegleitend ist.
Von den wenigen verbliebenen Hauptverfahren wird eine stattliche Anzahl in abgekürzten Verfahren erledigt. Das Entscheidende geschieht dabei im Aushandlungsprozess zwischen Staatsanwaltschaft und beschuldigter Person respektive ihrer Verteidigung im Vorverfahren. Damit wurde ein konsensual orientiertes Verfahren mit einem formellen Wahrheitsbegriff eingeführt. Es steht als Fremdkörper neben dem auf Wahrheitsuntersuchung orientierten Normalverfahren und ist mit diesem inkompatibel.
Der teilweise Umbau des Strafrechts in ein pönales Präventionsrecht zeitigt ebenfalls Wirkung auf die strafprozessrechtliche Wahrheitssuche. Den Sachverständigen kommt in Strafverfahren betreffend Massnahmen nach Artikel 56 ff. StGB ein geradezu determinierendes Gewicht zu. Dies geht zulasten der kontradiktorischen Verfahrensanlage. Oft wird das Verfahren bei Anordnung von Massnahmen nicht mehr in einem gerichtlichen Hauptverfahren rechtskräftig abgeschlossen, sondern in einem Nachverfahren fortgesetzt. Dort erhalten in einem verwaltungsrechtlichen Vollzugsverfahren erhobene Beweise entscheidendes Gewicht.
Kein eindeutiger Wahrheitsbegriff
Dem heutigen Strafprozess liegt somit kein durchgehend konzipierter Wahrheitsbegriff und keine für alle Verfahren einheitliche Wahrheitssuche zugrunde. Dieser Umstand ist bereits in der Gesetzgebung angelegt und wird durch die Praxis akzentuiert. Es fehlt eine eindeutige, die ganze Prozessordnung umfassende Konzeption, wie die strafprozessrechtlichen Institute zusammenspielen sollten, um eine strafprozessuale Wahrheitssuche mit einem einzigen strafprozessualen Wahrheitsbegriff zu befördern.
Das Strafprozessrecht gibt die Vorstellung der materiellen Wahrheit zwar (noch) nicht preis. Der Gesetzgebung liegt die materielle Wahrheit als Verfahrensziel zugrunde und auch die strafprozessuale Literatur hält daran fest. Der Versuch wäre allerdings verfehlt, aus der Zielgrösse der materiellen Wahrheit direkt Lösungen für dogmatische Probleme abzuleiten.
Dies scheitert aus gleich mehreren Gründen. Der Begriff der materiellen Wahrheit bleibt im Strafprozess ungeklärt und auch andere Wissenschaften halten keine konsistenten Lösungen bereit, die sich in das Strafprozessrecht inkorporieren liessen.
Die Leitidee einer Rekonstruktion der materiellen Wahrheit ungeachtet des Ressourcenbedarfs wird sich mit Sicherheit beim abgekürzten Verfahren, wohl aber auch beim Strafbefehlsverfahren bereits in der normativen Anlage nicht verwirklichen lassen. Überdies führt der Zerfall der Strafprozessordnungen in mehrere Subprozessordnungen insgesamt zu einer schwindenden Konsistenz des Prozessrechts und damit einhergehend der strafprozessualen Wahrheitssuche und des strafprozessualen Wahrheitsbegriffs.
Die strafprozessuale Wahrheitssuche ist überdies im Vergleich zu einer historischen Wahrheitssuche zusätzlichen Einflussfaktoren ausgesetzt. Zu denken ist an das selektive, auf einen Tatverdacht ausgerichtete Erkenntnisinteresse und an den Erkenntnisvorgang strukturierende prozessuale Normen, die eine strafrechtliche Rekonstruktion der Vergangenheit prinzipiell anders prägen als bei einem geschichtswissenschaftlichen Forschungsvorhaben. Dazu kommen faktische Einflüsse wie das Interesse der beteiligten Parteien am Verfahrensausgang, die dominante hybride Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafprozess und kognitive Verzerrungen vor Gericht.
Die Bedeutung der materiellen Wahrheit als sinnvolle strafprozessrechtliche Orientierungsgrösse verliert deshalb an Relevanz. Der Begriff materielle Wahrheit ist als strafprozessuale Zielsetzung zwar weiterhin vorhanden und geistert durch das Strafprozessrecht. Zugleich ist die materielle Wahrheit aber – einer Fata Morgana gleich – weder erreichbar noch greifbar.
Bei Lichte betrachtet handelt es sich deshalb bei der Bezugnahme auf materielle Wahrheit in aller Regel eher um einen rhetorischen Kampfbegriff als um ein sachliches Argument zur Lösung einer dogmatischen Einzelfrage. Denn die strafprozessuale Verpflichtung auf die materielle Wahrheit wird meist gegen Formvorschriften, Beschuldigtenrechte oder Elemente der kontradiktorischen Wahrheitssuche ins Feld geführt.
Es ist deshalb problematisch, wenn formale Regeln als Gegenspieler zur Verpflichtung auf eine strafprozessuale Wahrheitsfindung aufgefasst werden. Damit wird verkannt, dass die Rechtsform des Verfahrens einen zentralen Wert an sich darstellt, bereits in der EMRK und im Verfassungsrecht verankert und damit tief in die Rechtsordnung eingeschrieben ist und deshalb entscheidend zur Legitimität jeder strafprozessualen Wahrheitssuche beiträgt.
Wahr ist, was im Prozess als wahr festgestellt wird
Die innere Verbindung von prozeduraler und materieller Gerechtigkeit ist letztlich auf die Überlegung zurückzuführen, dass ein kontradiktorisches Ringen um die am besten vertretbare Lösung die Chance auf eine auch inhaltlich «richtige» Lösung erhöht. Wahrheitssuche hat im Einklang mit den Ergebnissen der Erkenntnistheorie auch im Strafprozessrecht wegen der Standortgebundenheit jedes Wahrheitssuchenden und der fehlenden absoluten Bestimmbarkeit von Wahrheit stets im Widerstreit zu erfolgen.
Wegen dieser grundlegenden Vorbehalte wäre zur Sicherstellung einer einheitlichen strafprozessualen Wahrheitssuche zu begrüssen, wenn die normative gesetzliche Anlage im Strafprozessrecht künftig kohärenter würde. Der Zerfall der Strafprozessordnung in mehrere Subprozessordnungen mit jeweils unterschiedlicher Eigenlogik ist einer einheitlichen strafrechtlichen Rechtsanwendung abträglich.
Die materielle Wahrheit bleibt insgesamt weiterhin ein grundsätzliches, wenn auch nicht konsequent durchgehaltenes Ziel des Strafprozesses. Suggeriert wird damit, dass im Strafprozess einer Korrespondenztheorie der Wahrheit nachgelebt wird. Effektiv sind aber strafprozessuale Wahrheitssuche und Wahrheitsrekonstruktion pragmatisch und konkret auf die jeweils im Einzelfall angewandte Verfahrensart bezogen.
Strafprozessual wahr ist am Ende eines konkreten Verfahrens, was rechtskräftig als wahr festgestellt wird. Wenn überhaupt die Einordnung der strafprozessualen Wahrheitssuche in philosophische Kategorien sinnvoll ist, so käme sie der Vorstellung pragmatischer Wahrheitstheorien am nächsten. Und von dieser Erkenntnis ist der Weg zu der folgenden, pointierten Bestandsaufnahme des Rechts nicht mehr weit: «Denn dem Recht – das wissen Juristen genau – geht es letztlich nicht um Gerechtigkeit. Und schon gar nicht um Wahrheit», schreibt der italienische Philosoph Giorgio Agamben. «Dem Recht geht es ausschliesslich um das Urteil, unabhängig von Wahrheit und Gerechtigkeit.» 2
1 Dieser Beitrag basiert auf der Dissertation des Autors: «Die Funktion der Verteidigung bei der strafprozessualen Wahrheitssuche», Basel 2023.
2 Giorgio Agamben, «Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge» (Homo sacer III), Frankfurt/Main 2003, S. 15 f.