Dass die Abnahme von Fingerabdrücken nur Kriminellen drohe, gehört zu den am weitesten verbreiteten Irrtümern schlechter Krimis. Seit 1984 betreibt das schweizerische Bundesamt für Polizei ein Automatisiertes Fingerabdruck-Identifizierungssystem (AFIS). Seit Inkrafttreten der zweiten Asylgesetzrevision im Jahr 1988 werden in diesem System auch die Fingerabdruckdaten von sämtlichen Personen gespeichert, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen.
Zweckbindung der Daten nicht mehr eingehalten
Mit der ständigen Warnung vor dem «Asylmissbrauch» liess sich aber nicht nur die flächendeckende erkennungsdienstliche Behandlung und Erfassung von Asylsuchenden durchsetzen. Auch der Grundsatz der Zweckbindung – dass Daten nur zu dem Zweck bearbeitet werden dürfen, zu dem sie erhoben wurden – sollte für sie nicht gelten: Die im AFIS gespeicherten Fingerabdrücke werden wie selbstverständlich nicht nur für das Asylverfahren genutzt, sondern standen von Anfang an auch den Polizeibehörden für ihre Zwecke zur Verfügung (heute Artikel 99 Absatz 3 und 4 AsylG).
Auch auf EU-Ebene hielt sich die Zweckbindung nicht lange: In Eurodac werden seit 2003 die Fingerabdruckdaten aller Asylsuchenden erfasst, die in der EU um Schutz ersuchen. Die Mitgliedstaaten können zudem die Abdrücke von Personen speichern, die beim illegalen Grenzübertritt angetroffen werden. Der Abgleich der Daten soll Doppel- oder Nachfolgegesuche – ein sogenanntes «Asylshopping» – verhindern. Bei der Neufassung der Eurodac-Verordnung im Jahre 2013 einigten sich die EU-Gremien gegen die Empfehlung des EU-Datenschutzbeauftragten und gegen einigen Widerstand aus dem EU-Parlament darauf, den Polizei- und Staatsschutzdiensten der Mitgliedstaaten den Zugriff auf die gespeicherten Fingerabdruckdaten zu eröffnen, und zwar «zur Verhütung, Aufdeckung oder Untersuchung terroristischer oder sonstiger schwerer Straftaten».
Das Modell dafür hatte die EU bereits 2008 mit dem Beschluss über das Visa-Informationssystem (VIS) geliefert, das die «für Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zuständigen Behörden» über nationale Zugangsstellen abfragen können, nachdem eine nationale «Prüfstelle» die Abfrage genehmigt hat. Prüf- und Zugangsstellen sind im Regelfall bei denselben Behörden, nämlich den polizeilichen Zentralstellen, angesiedelt. Immerhin hat es das EU-Parlament geschafft, bei Eurodac einige Voraussetzungen zu formulieren, die im VIS-Beschluss nicht enthalten sind: Die polizeiliche Abfrage in Eurodac ist nur zulässig, wenn zuvor eine Suche im jeweiligen nationalen AFIS und im europäischen AFIS-Verbund, der nach dem sogenannten Prüm-Beschluss des Rates geschaffenen worden ist, sowie im VIS erfolglos geblieben sind.
Massenabgleiche und Tausende von Suchläufen
Vom Inkrafttreten der Verordnung im Juli 2015 bis Ende 2019 haben sich Polizeibehörden der Mitgliedstaaten 1716 Mal in Eurodac bedient. Hinzu kommen die Zugriffe von Europol: 2017 ein Massenabgleich mit 105 Datensätzen, die das EU-Polizeiamt vom FBI erhalten hatte, und zehn weitere Abfragen im Jahre 2018. Unter den 13 Mitgliedstaaten, die diese Möglichkeit bisher genutzt haben, ist Deutschland mit rund 60 Prozent der Suchläufe Spitzenreiter.
Die vier Dublin-assoziierten Nicht-EU-Staaten – Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz – waren bisher vom polizeilichen Abgleich ausgeschlossen, weil sie als Nicht-EU-Staaten auch nicht an den Prüm-Verbund angeschlossen waren und damit eine zentrale Voraussetzung für die Abfrage nicht erfüllen konnten. Für die Schweiz soll sich beides nun ändern: durch ein Zusatzprotokoll zu Eurodac und ein Abkommen zur Beteiligung an Prüm.
EU-Staaten vor vollendete Tatsachen gestellt
Prüm ist ein Städtchen mit etwas über 5000 Einwohnern im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz, in der Eifel unweit der Grenze zu Belgien und Luxemburg. Am 27. Mai 2005 unterzeichneten hier die Justiz- und Innenminister von sieben EU-Staaten – den drei Beneluxstaaten sowie Deutschland, Frankreich, Österreich und Spanien – einen «Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration». Der Vergleich mit Schengen drängt sich auf. Wie im Schengener Fall handelte es sich auch hier um das Vorpreschen eines Teils der EU-Staaten, eines «Kerneuropas», ausserhalb des EU-Rahmens mit dem Ziel, die EU insgesamt vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Im Dezember 2004 hatte sich die EU auf ihr Haager Programm geeinigt, eine Art Fünfjahresplan für den Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Postuliert wurde darin der «Grundsatz der Verfügbarkeit», der besagt, «dass unionsweit ein Strafverfolgungsbeamter in einem Mitgliedstaat, der für die Erfüllung seiner Aufgaben Informationen benötigt, diese aus einem anderen Mitgliedstaat erhalten kann und dass die Strafverfolgungsbehörde in dem anderen Mitgliedstaat, die über diese Informationen verfügt, sie für den erklärten Zweck bereitstellt».
Die sieben Prüm-Staaten, allen voran Deutschland und Österreich, warteten jedoch beim Aufbau des grenzenlosen Binnenmarkts für Polizeidaten nicht auf die Vorschläge der Kommission. Man wolle eine «Vorreiterrolle» einnehmen, heisst es in der Präambel des Vertrags. Bis 2007 waren weitere zehn Mitgliedstaaten dem Vertrag beigetreten. 2008 erfolgte mit dem Prüm-Beschluss 2008/615/JI und einem Durchführungsbeschluss 2008/616/JI die Überführung in den Rechtsrahmen der EU.
“Spontaner” Austausch von Daten
Sowohl der Vertrag als auch der Prüm-Beschluss enthalten einen Artikel zum «spontanen» Austausch von Daten über «terroristische Straftaten» und Regelungen zu grenzüberschreitenden Polizeieinsätzen. Kern des Vertrags und des Beschlusses ist jedoch der gegenseitige automatische Zugriff auf DNA-Profil- sowie Fingerabdruckdatenbanken und Fahrzeugregister. In den ersten beiden Fällen erhalten die Anfragenden jeweils nur Zugriff auf die DNA-Profile und die Fingerabdrücke. DNA-Profil-Datenbanken können zur Verfolgung von Straftaten, Fingerabdrucksysteme auch zu deren Verhinderung abgefragt werden. Ergibt sich dabei ein Treffer, können mit den Fundstellendaten bei der betreffenden nationalen Kontaktstelle weitere Informationen – Personalien, Fallinformationen etc. – nachgefragt werden. Deren Übermittlung richtet sich nach dem jeweiligen nationalen Recht. Im Allgemeinen sind jedoch die kriminalpolizeilichen Zentralstellen selbst zuständig für die Weitergabe von Informationen.
Aus Fahrzeugregistern können sowohl Daten über die Fahrzeuge als auch über die Halter direkt abgefragt werden – und zwar auch zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und zur Gefahrenabwehr.
Das in Artikel 36 vorgegebene Ziel, den Beschluss bis 2011 umzusetzen, erwies sich als illusorisch. Ging es doch nicht nur um die üblichen Anpassungen des jeweiligen nationalen Rechts, sondern um komplizierte technische Arrangements. In einigen Staaten mussten überhaupt erst DNA-Profildatenbanken aufgebaut werden. 2018 hatten 24 der heute 27 Mitgliedstaaten die Abfrage ihrer DNA-Datenbanken und 23 die ihrer Fingerabdrucksysteme ermöglicht. In 24 Staaten konnten die Fahrzeugregister konsultiert werden. Bis heute ist der Prüm-Verbund ein «Netz mit Webfehlern», wie Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte in einer Analyse für die Zeitschrift «Vorgänge» festhielt.
Vorbild für das Abkommen mit den USA
Die vom Rat der EU erstellten Statistiken zeigten zwar «deutliche Inkonsistenzen», seien aber dennoch ein «Indikator für Grössenordnung und Muster des Datenaustauschs». 2015 sind 1,3 Millionen DNA-Profile zum Abgleich in einen anderen EU-Staat übermittelt worden, 2018 war man bei 1,5 Mio. angekommen. Der Löwenanteil dieser Abfragen – rund zwei Drittel im Jahr 2015, über drei Viertel 2018 – stammten aus Deutschland und Österreich. Die meisten Treffer wurden jedoch in den osteuropäischen Staaten erzielt.
Auch bei den Abfragen in den Fingerabdrucksystemen liegen Deutschland und Österreich weit vorn – und zwar sowohl bei den Abfragen anhand von 10-Fingerabdruck-Datensätzen als auch bei den Abgleichen anhand von Tatortspuren. Deutschland ist mit über 6 Millionen Abfragen 2018 auch Spitzenreiter bei den Zugriffen auf die Autoschilderregister der anderen Mitgliedstaaten.
Prüm ist auch das Muster, dem die Abkommen «über die Vertiefung der Zusammenarbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung schwerer Straftaten» folgen, die mehrere EU-Staaten und die Schweiz mit den USA abschlossen. Sie enthalten nicht nur den gegenseitigen Zugriff auf DNA- und Fingerabdruck-Datenbanken via nationale Kontaktstellen, sondern auch den «spontanen» Informationsaustausch über terroristische Straftaten. Der Umfang des Datenaustauschs dürfte jedoch geringer ausfallen als im Prümer Rahmen. Zum einen, weil der Datenabgleich an einen Deliktkatalog gebunden ist, und zum anderen aufgrund der geografischen Distanz. Dennoch erlaubt das Abkommen den US-Behörden den Zugriff auf die Schweizer DNA-Datenbank bereits für nicht schwere Delikte wie Einbruchdiebstahl oder einfachen Drogenhandel.
Bei der Umsetzung dieses Pakets an vertraglichen Vereinbarungen steht das Bundesamt für Polizei im Mittelpunkt. Es ist sowohl Zugangs- und Prüfstelle für schweizerische Abfragen in Eurodac als auch Kontaktstelle für den Prümer und den Datenaustausch mit den USA. Über die Bundespolizei laufen daher auch die Anfragen der kantonalen Polizeien und Staatsanwaltschaften, der Bundesanwaltschaft sowie des Nachrichtendienstes des Bundes.
Umgekehrt führt das Bundesamt das AFIS und die DNA-Datei und ist auch zuständig für die Lieferung von Zusatzinformationen nach einem Prüm- oder US-Treffer in einer der Dateien. Mit der Internationalisierung des Datenaustauschs erhält das Amt also einen gehörigen Machtzuwachs.