Die Stossrichtung der Reform des Studiums an der Universität Zürich ist klar: näher an die Praxis – und Pflicht statt Kür im Master. Laut Alain Griffel, Prodekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, werden die verlangten Fächer generell etwas weniger Breite, dafür mehr Tiefe aufweisen. Das heisst: «Die praxisrelevanten Fächer erhalten mehr Raum.» Damit sind das Zivilgesetzbuch und das Obligationenrecht angesprochen.
Zudem will die Uni Zürich die Juristenausbildung «nachhaltiger» gestalten, so Griffel: «Anstelle des sogenannten ‹Bulimie-Lernens› soll die Förderung von zentralen Kompetenzen mehr Gewicht erhalten.» Dazu zählt Griffel die Fähigkeit zur Textanalyse, die Schreibkompetenz, das logische Denken und Schreiben oder die Anwendung der juristischen Methodik. Auch das vernetzte Denken will die Studienreform Bologna 2021 fördern. Der erste Bachelorstudiengang nach den neuen Vorgaben soll im Herbstsemester 2021 starten. Mit dem für das «Bologna»-Studium typischen Bulimie-Lernen ist gemeint: «reinfuttern, rauskotzen, vergessen». So charakterisierte der verstorbene Zürcher Soziologieprofessor Kurt Imhof das kurzatmige Büffeln zwecks Punktesammeln an den Prüfungen.
Neu gibt es Pflichtfächer im Masterstudium
Die zurzeit bekannten Eckpunkte der Studienreform zeigen: Das Bachelor- und das Masterstudium werden stärker als Einheit konzipiert. Verschiedene Fächer werden aus dem dritten bis sechsten Bachelorsemester in den Master verschoben. Das betrifft unter anderem das Zivilprozessrecht, das Wettbewerbsrecht, das Immaterialgüterrecht, das Steuerrecht und Aspekte des Wirtschaftsrechts. Mit 30 ECTS-Kreditpunkten macht dieses Paket einen Drittel des Masterstudiums aus. Zum Pflichtblock gehört auch ein Vertiefungskurs im Straf- und Strafprozessrecht. Pflichtfächer gab es im Master bisher nicht.
Der vollgepfropfte Bachelorstudiengang wird somit entlastet. Zusätzlich soll auch eine veränderte Abfolge des Stoffs das Bulimie-Lernen eindämmen. Das Römische Privatrecht wird in die ersten beiden Semester vorverlegt. Dafür rückt der Allgemeine Teil des Obligationenrechts inklusive Haftpflichtrecht nach hinten. «Die Studienanfängerinnen und -anfänger sollen auf diese Weise aus einer breiten historischen Perspektive an den Privatrechtsstoff herangeführt werden», erläutert Griffel. Das Beispiel zeigt auch: Die Grundlagenfächer, die Zusammenhänge vermitteln und das Reflexionsvermögen stärken, mussten bei der Reform keine Haare lassen. Die Rechtsgeschichte wird wie das Römische Privatrecht in den ersten beiden Semestern gelesen. Auf Masterstufe bleiben Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte im Wahlpflichtpool Grundlagen erhalten. Im Masterstudiengang werden aber Fächer gestrichen. Welche, ist noch offen. Diese Frage soll laut Griffel «in den nächsten Monaten» diskutiert werden.
Schon entschieden ist, dass das Gesamtprogramm abgespeckt wird. Die drei spezialisierten Master – Rechtspraxis, Wirtschaftsrecht und Öffentliches Recht – fallen weg. Das Interesse war zu gering. Im Herbstsemester 2018 schrieben sich in Zürich nur 55 von 653 Studentinnen und Studenten für einen spezialisierten Master ein. Was bleibt, ist der allgemeine Master of Law. Neu hinzukommen soll ein englischsprachiger Master in International and Comparative Law.
Auch St. Gallen will die Kernfächer stärken
Die Universität St. Gallen arbeitet ebenfalls an einer Reform des Jus-Studiums. Der Umstieg aufs Bologna-System erfolgte dort schon 2002, also vier Jahre vor Zürich. Benjamin Schindler, Vorsteher der Rechtswissenschaftlichen Abteilung: «Nach 18 Jahren besteht das Bedürfnis, die Inhalte und Strukturen grundlegend zu überdenken und den aktuellen Bedürfnissen anzupassen.» Die Studentinnen und Studenten im Masterstudium würden nach den heutigen Erfahrungen viel vom im Bachelor erlernten Basiswissen wieder verlieren. Das sei mit Blick auf die Praxis nicht ideal.
Bisher wurden im Bachelorstudium vor allem die Kernfächer wie Obligationenrecht, Zivilgesetzbuch, Strafgesetzbuch, Verwaltungsrecht und Verfahrensrecht als Pflichtfächer verankert. Nun plant die Uni laut Schindler für Bachelor und Master eine Studienreform, in der es darum gehe, «die Kernfächer und das Verfahrensrecht zusätzlich zu stärken, auch auf der Masterstufe». Das soll einen Grundstock an Basiswissen generieren, ohne die Programme zu sehr zu verschulen.
Wie St. Gallen hat auch Zürich bei der Reform die Berufspraxis im Auge. Zum Auftakt des Reformprozesses führte die Bologna-Kommission im Februar 2018 laut Griffel «eine Gesprächsrunde mit hochrangingen Vertretern aus der Praxis». Dazu gehörten Gerichtspräsidenten und Anwälte. In dieser Runde seien «die Stärken und die Schwächen» der Studienabgänger eruiert worden.
Rufe aus der Wirtschaft forderten mehr Praxisnähe
Das Treffen fand in medial aufgeheizter Atmosphäre statt. Kurz davor hatte die «Sonntags-Zeitung» den Fall eines 24-jährigen Masterstudenten aufgegriffen. Er erwarb in nur einem Semester in 15 Mastermodulen 85 ECTS-Punkte – eine Riesenleistung, für die andere drei bis vier Semester brauchen. Die Zeitung nahm «Turbo-Student Rico» aber zum Anlass, eine zu «grosse Freiheit» im Studium zu monieren. Der Bericht kolportiere Klagen «über Schmalspur-Juristen mit leichtem Schulrucksack» aus Anwaltskanzleien und Gerichten und zitierte die Präsidentinnen der Berner und Aargauer Anwaltsprüfungskommission, die bei Kandidaten ein sinkendes Niveau orteten und «zunehmend Schwierigkeiten, praktische Fälle sachgerecht zu lösen».
Professor Martino Mona findet solche Kritik «unpassend». Sie zeuge von einer falschen Sicht von Studium und Rechtswissenschaft, sagt der Leiter des Departments Grundlagenfächer an der Uni Bern. Es sei Aufgabe des Anwaltsverbands und der Gerichte, ihre Praktikanten auf die Anwaltsprüfung vorzubereiten. Doch vernünftige Kurse gebe es nicht. «Statt ihnen das Rüstzeug für die anwaltliche Tätigkeit zu vermitteln, missbrauchen sie die Studienabgänger zwei Jahre lang als billige Arbeitskräfte und verheizen sie dabei.» Während ein sinnvolles Praktikum fehle, wolle man einseitig die Universitäten dazu verpflichten, ihre Studienpläne auf die Anwaltspraxis auszurichten.
Universitäten sind laut Mona dazu da, Rechtswissenschafter und Juristen auszubilden, nicht Anwälte oder Richter. Auch der St. Galler Professor Benjamin Schindler ruft in einem Beitrag in der «Anwaltsrevue» vom März in Erinnerung, dass die Universität keine Anwaltsakademie ist: «Wir liefern keine ‹pfannenfertigen› Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Anwaltskanzleien.»
An der Uni Bern ist eine Studienreform kein Thema, wie Mediensprecher Ivo Schmucki mitteilt. Das Bolognastudium habe sich bewährt. Die Uni Basel sieht laut Patrick Ebnöther vom Studiendekanat beim Bachelor keine Notwendigkeit für Änderungen. Beim Master seien gewisse Anpassungen in den kommenden Jahren möglich, aber noch nicht spruchreif. Luzern stellte 2001 als erste Schweizer Rechtsfakultät auf Bologna um und startete 2017 mit einer Nachjustierung namens «Bologna 2.0» (plädoyer 3/2017). Hauptziel war, den Stoff der Kernfächer – Privatrecht, öffentliches Recht, Strafrecht – vorlesungsübergreifend zu vermitteln. Wie sich das neue System bewährt, zeigt sich 2021, wenn der erste Jahrgang den Bachelorabschluss erreicht.