Als Verband obliegt es den Demokratischen Juristinnen und Juristen aufgrund der statutarischen Zielsetzung, künftig politisch noch dezidierter für die Grundrechte von Beschuldigten in Sexualstrafsachen und von verurteilten Sexualstraftätern einzustehen – gerade weil solche Anliegen nicht en vogue sind.
Auf der individuellen anwaltlichen Ebene präsentiert sich die Frage komplexer: Denn nach wie vor gibt es Anwaltsbüros, die im Gesellschaftsvertrag Verteidigungen in Sexualstrafsachen beziehungsweise Vertretungen von verurteilten Sexualstraftätern im Strafvollzug ausschliessen.
Hemmung vor Tabuverteidigungen
Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen diskutieren das Thema indessen nicht einmal offen, was meines Erachtens noch problematischer ist als ein Ausschluss von solchen Mandaten. Denn damit werden oft Berührungsängste gegen aussen nicht sichtbar oder nicht einmal sich selbst bewusst gemacht.
Eine Hemmung, sich in Tabuverteidigungen dezidiert zu engagieren und zu exponieren, ist bei vielen Anwälten spürbar – selbst bei solchen, die Strafrecht im Anwaltsverzeichnis als eines der bevorzugten Rechtsgebiete angeben. Jacob Stickelberger vertrat vor rund 15 Jahren in seinem Aufsatz «Tabuverteidigung» (in Baumgartner / Schuhmacher, «Ungeliebte Diener des Rechts», 1999, S. 64 ff.) sinngemäss die Ansicht, die professionelle Qualität eines Strafverteidigers bemesse sich an seiner Bereitschaft, in Tabuverteidigungen seinen Auftrag engagiert wahrzunehmen. Sonst habe er seinen Beruf verfehlt. Könne ein auf Strafrecht spezialisierter Anwalt dies nicht leisten, wende er sich besser einem anderen Gebiet zu, zum Beispiel dem Baurecht.
Ganz so apodiktisch sehe ich dies nicht: Gerade als Wirtschaftsstrafverteidiger kann jemand beruflich erfolgreich und in der Sache engagiert sein, ohne sich in Tabuverteidigungen zu exponieren. Indessen stellt sich, schliesst man solche Mandate aus, doch die Frage, ob man Strafverteidigung als Schwerpunkt pflegen will. Beispielsweise kann man sich dann nicht mehr guten Gewissens auf die Pikettliste setzen lassen. Denn das Risiko ist beträchtlich, dass man als Anwalt der ersten Stunde mit einer Sexualstrafverteidigung oder einem Gewaltdelikt konfrontiert wird.
«Für die Verteidigung gibt es kein moralisches Tabu»
Als Strafverteidiger bedarf es grundsätzlich einer Bereitschaft, sich für Beschuldigte zu engagieren, die keinerlei Lobby (mehr) haben und bei denen man bei der Mandatsführung auf Unverständnis breiter Kreise stösst – selbst im Wirtschaftsstrafrecht, wenn auch hier viel weniger ausgeprägt als im Sexual- oder Gewaltstrafrecht.
Daher: Auch wenn man die Sache nicht so kategorisch ansieht wie Stickelberger, gleicht meiner Ansicht nach der Strafverteidiger, der tief in seinem Innersten mit Tabuverteidigungen nichts zu tun haben und sich hier nicht gegen den gesellschaftlichen Mainstream exponieren will, einem Chirurgen, der kein Blut sehen oder einem Gärtner, der sich die Hände nicht schmutzig machen möchte. Oder um es mit der prägnanten Formulierung im Aufsatz von Barbara Hug «Moral und Verteidigung» im bereits erwähnten Buch auszudrücken: «Ob ‹liberales› oder repressives Strafrecht: Für die Verteidigung gibt es kein moralisches Tabu» (S. 63).
Dennoch: Wenn jemand aus persönlichen Gründen in Sexualstraffällen keine Beschuldigten oder Verurteilten vertreten will, ist dies zu respektieren. Es gibt zwar für einen Strafverteidiger kein moralisches Tabu, jemanden zu verteidigen – aber umgekehrt auch keine moralische Verpflichtung, als Anwalt irgend jemanden zu vertreten.
Wer jemanden contre cœur vertritt, hilft weder sich noch dem Mandanten. Auch wenn jemand dazu steht, solche Mandate aus Marketing- oder Prestigegründen oder Bequemlichkeit nicht zu führen, ist dies zwar nicht besonders mutig, zumindest aber ehrlich und reflektiert. Wenn aber aus dem Ausschluss von Sexualstrafverteidigungen ein ethisches oder politisches Prinzip gemacht wird, ist dies zum einen aus grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Überlegungen grundsätzlich sehr fragwürdig, zum anderen im heutigen gesellschaftlichen Umfeld auch in einer politischen Betrachtung nicht mehr fortschrittlich. Sondern – wenn man dies überhaupt politisch bewerten will – eher eine Unterstützung für ein umfassendes rechtsbürgerlich-neoliberales Disziplinierungsregime.
Die neoliberale Strategie im Strafrecht
Der französisch-amerikanische Soziologe Loïc Wacquant stellt in seinen Werken «Elend hinter Gittern» und vor allem in «Bestrafen der Armen» fest, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten ein Ausbau der rechten Hand des Staates (Polizei, Justiz) bei gleichzeitigem Abbau seiner linken Hand (Sozialstaat) stattgefunden hat. Und dass zwischen diesen beiden Entwicklungslinien ein funktionaler Zusammenhang und nicht blosse Zeitgleichheit besteht. Dieser Analyse ist zuzustimmen.
Disziplinierung der Unterprivilegierten
Der Leitstern dieser Strafrechtspolitik ist nicht mehr das Doppelgespann Verbrechen und Strafe, sondern die Regulierung der sozialen Unsicherheit und die strafrechtliche Disziplinierung der Unterprivilegierten. Eine wesentliche Zielgruppe dieser Politik sind in den USA das männliche, schwarze Subproletariat oder in Europa männliche Einwanderer vor allem aus sogenannten Drittstaaten – also Menschen, die nicht aus Europa stammen.
Ausserdem besteht ein wesentlicher Bestandteil dieser neoliberalen Strategie eben auch darin – so Wacquant wörtlich –, «Sexualstraftäter blosszustellen». Dieses Regime ist nun auch in der Schweiz mit der typisch helvetischen Verzögerung in der ganzen Schärfe angekommen.
Während früher rechtspolitisch allenfalls noch mit einer gewissen Berechtigung argumentiert werden konnte, der fortschrittliche Rechtsanwalt als Vertreter der «Schwächeren» solle sich primär als Privatklägervertreter für Geschädigte in Sexualstrafverfahren engagieren, müsste man heute wohl weit eher festhalten, die vornehmste Aufgabe von Anwälten als Vertretern der «Schwächeren» sei es, sich für den einer Sexualstraftat Beschuldigten oder Verurteilten im Vollzugsstadium einzusetzen. Dies gerade dann, wenn es sich dabei um einen Einwanderer aus einem Drittstaat handelt, dem man im herrschenden Diskurs eine solche Tat schon allein kraft seiner Herkunft besonders zutraut. Und / oder wenn sich der Mandant mit einem – drohenden oder bereits realisierten – sicherheitsgesellschaftlich geprägten Massnahmeregime konfrontiert sieht.
Deshalb: Sich im Sexualstrafrecht anwaltlich auf Seiten der Beschuldigten oder verurteilten Täter engagieren muss weiterhin niemand. Dies aber sich selbst und anderen aus ethischen oder politischen Gründen zu verbieten, ist im heutigen gesellschaftlichen Umfeld aus einer grundrechtsorientierten, linken oder liberalen Anwaltsperspektive überholt.