Wie geht die Stadtpolizei Zürich mit Beschwerden um? Wo hapert es in den Kantonen im Umgang mit Flüchtlingen? Können Menschen mit Behinderung in politischen Prozessen ausreichend mitreden? Und wie ist es in der Schweiz allgemein um die Menschenrechte bestellt? Das alles sind Fragen, denen sich in den letzten Jahren das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) angenommen hat – in Studien, Gutachten, Broschüren. Das SKMR ist ein Pilotprojekt des Bundes. Es hat die Aufgabe, die Umsetzung und Einhaltung der Menschenrechte in der Schweiz zu fördern und Behörden, Unternehmen und Organisationen zu beraten und zu unterstützen.
Dieses Jahr feiert das SKMR sein zehnjähriges Bestehen. Es ist ein Jubiläum, das es so eigentlich nicht geben sollte. Denn die Pilotphase des Projekts war ursprünglich lediglich auf fünf Jahre terminiert. Ab 2016, so die Idee, hätte es von einer ständigen Nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI) abgelöst werden sollen – ein Instrument, das über 120 Staaten etabliert haben, einige von ihnen seit Jahrzehnten.
In der Schweiz harzte es damit lange: Vor rund zwei Jahren wurde das Mandat für das SKMR noch einmal bis Ende 2022 verlängert. Gemäss Matthias Hui, Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz, hat die Verzögerung auch mit der Haltung zu tun, dass es in der Schweiz nicht unbedingt neue Institutionen zur Stärkung der Menschenrechte brauche. «Es gab eine verbreitete Grundstimmung, wonach es in der Schweiz sowieso keine Probleme mit Menschenrechten gibt», sagt er.
Umfassendes Mandat zum Schutz der Menschenrechte
Mittlerweile ist die Diskussion über die Schaffung einer ständigen nationalen Menschenrechtsinstitution zurück auf dem politischen Tapet. Mitte April hat die Aussenpolitische Kommission des Ständerats eine entsprechende Gesetzesvorlage mit 9 zu 1 Stimmen und 2 Enthaltungen angenommen. Das Geschäft geht nun in den Ständerat zur Beratung. Konkret geht es um einen neuen Abschnitt im Bundesgesetz über Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte. Dieser soll die NMRI gesetzlich verankern und ihre Grundzüge regeln.
Geschaffen werden soll eine Institution, die den sogenannten Pariser Prinzipien der Uno-Generalversammlung entspricht und von einem internationalen Dachverband mit dem begehrten «A-Status» zertifiziert werden soll. Zur Erlangung dieses Status muss sich eine nationale Menschenrechtsinstitution auf eine gesetzliche Grundlage stützen, über ein «umfassendes Mandat zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte» verfügen und gegenüber staatlichen Stellen unabhängig sein. Weitere Voraussetzungen: Die Institution bedarf einer «pluralistischen Zusammensetzung» und einer «ausreichenden Finanzierung».
Eine NMRI, die den Pariser Prinzipien entspricht, würde sich damit grundlegend vom heutigen Kompetenzzentrum in Bern unterscheiden: Das SKMR ist nämlich nicht in einem Gesetz, sondern nur in einem Rahmenvertrag geregelt, den der Bund mit der Universität Bern schloss. Sein Mandat ist nicht umfassend. Das Zentrum erbringt auf Auftragsbasis Dienstleistungen wie Studien oder Gutachten. Es wird von einem Lenkungsausschuss des Bundes kontrolliert und ist damit nicht unabhängig.
Die NMRI, die nun im Ständerat diskutiert wird, kann gemäss Matthias Hui im internationalen Vergleich grundsätzlich bestehen: «Man hat eine Vorlage auf dem Tisch, die mehr oder weniger den Pariser Prinzipien entspricht», sagt er. So wurde dem Erfordernis «gesetzliche Grundlage» mit der Verankerung der NMRI im Bundesgesetz über Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte Genüge getan – auch wenn diverse Menschenrechtsorganisationen bereits vor rund vier Jahren im Vernehmlassungsverfahren darauf gepocht hatten, dass für eine neue NMRI gleich ein eigenes Gesetz geschaffen werden soll. Dem Kriterium «Unabhängigkeit» wird Rechnung getragen, indem die NMRI als öffentlich-rechtliche Körperschaft mit eigener Mitgliederversammlung und eigenem Vorstand statuiert werden soll. Anders als heute das SKMR soll die NMRI auch von den Universitäten unabhängig sein.
Bundesrat: “Mehrwert gegenüber dem Status quo”
Ein zentrales Kriterium der Pariser Prinzipien sehen Hui und andere Vertreter von Menschenrechtsorganisationen aktuell aber nicht erfüllt: Die ausreichende Grundfinanzierung. Zwar werden im Gesetzesentwurf keine konkreten Zahlen genannt. Die bundesrätliche Botschaft von 2019 nannte jährliche Mittel von einer Million Franken – das entspricht dem Beitrag, den aktuell das SKMR vom Bund erhält. «Die Ausgangslage für die NMRI ist völlig anders», betont SKMR-Geschäftsführerin Evelyne Sturm. Denn anders als das SKMR müsste eine NMRI in den vier Landessprachen kommunizieren. «Und die Direktoriumsmitglieder müssten – anders als bei der SKMR heute – nicht von einer Universität, sondern von der Institution selbst entlöhnt werden.» Der Verein Humanrights.ch nennt in einem Merkblatt zum Thema den Betrag von jährlich 5,1 Millionen Franken, der erforderlich sei, damit die Institution ihren Auftrag glaubwürdig erfüllen kann.
Der Auftrag wäre für die ständige nationale Menschenrechtsinstitution viel breiter gefasst als für die SKMR – auch, um dem Erfordernis eines «umfassenden Mandats» im Sinne der Pariser Prinzipien zu entsprechen. Wie weit der Aufgabenbereich gehen soll, war in der aktuellen politischen Diskussion in der Ständeratskommission das heisse Eisen schlechthin.
Die politischen Präferenzen wurden im Vernehmlassungsverfahren schon 2017 sichtbar, als es um die Frage ging, ob es eine NMRI überhaupt braucht: Während linke Parteien und Organisationen die Schaffung einer ständigen Menschenrechtsinstitution begrüssten und diese im Vergleich zur damals präsentierten Vorlage stärken wollten, stiess das Projekt NMRI im bürgerlichen Lager auf Ablehnung. Als «vollkommen überflüssig» bezeichnete zum Beispiel die SVP Schweiz eine nationale Menschenrechtsinstitution, würden doch die Gerichte in der Schweiz «besser als weltweit in jedem anderen Land» über die Menschenrechte wachen.
Ähnlich äusserten sich die Freisinnigen: «Die geringe Anzahl von negativen Urteilen des EGMR gegen die Schweiz unterstreicht den hohen Menschenrechtsstandard in unserem Land. Eine nationale Menschenrechtsinstitution würde an der Menschenrechtslage im In- und Ausland nichts ändern.» Die bürgerlichen Bedenken, die auf kantonaler Ebene einzig vom Kanton Schwyz mitgetragen wurden, konnten sich damals nicht durchsetzen. Der Bundesrat bezeichnete in seiner Botschaft eine nationale Menschenrechtsinstitution als «Mehrwert» im Vergleich zum Status quo.
Die alten Diskussionen und Bedenken keimten nun in der aussenpolitischen Kommission des Ständerats (AKP-S) wieder auf: «Die Schweiz ist einer jener Staaten, die eine NMRI am wenigsten brauchen. Eine solche Institution könnte allenfalls ein Aushängeschild sein», sagt Ständerat Andrea Caroni (FDP), der in Herisau als Rechtsanwalt tätig ist. Ganz so ablehnend, wie es seine Partei noch im Vernehmlassungsverfahren tat, äussert er sich aber nicht. Er sei «ambivalent, ja gar sanft positiv», wenn es um den Nutzen einer NMRI geht. Für Caroni ist aber klar: «Wenn eine solche Institution geschaffen wird, sollte sie ihr Mandat zurückhaltend verstehen, nicht von der Kanzel herab predigen und verschiedene Meinungen zulassen.»
“Fall Carlos” zeigte: Schweiz nicht unfehlbar
Als klarer Befürworter einer starken Menschenrechtsinstitution positioniert sich der Zürcher Professor und Ständerat Daniel Jositsch (SP). Die Behauptung, die Schweiz habe schon einen gut funktionierenden Menschenrechtsschutz und brauche keine NMRI, kann er nicht nachvollziehen: «Das Ganze erinnert mich ein wenig an eine Diskussion über die Notwendigkeit eines Feuerlöschers. Bei mir zu Hause hat es 50 Jahre nicht gebrannt. Sollte es doch mal ein Feuer geben, bin ich froh, einen Feuerlöscher zu haben.» Auch treffe es nicht zu, dass es in der Schweiz so gut wie nie Probleme mit Menschenrechten gebe: «Wir betrachten uns in Sachen Menschenrechte gerne als Krone der Schöpfung – aber das sind wir nicht», so Jositsch. Das habe sich jüngst im «Fall Carlos» gezeigt, als das Zürcher Bezirksgericht zum Schluss kam, dass die Haftbedingungen der Zürcher Justizvollzugsbehörden gegenüber dem jungen Straftäter Brian alias «Carlos» gegen die Menschenrechte verstossen hätten.
Alle Menschenrechtsfragen kritisch kommentieren
Menschenrechtsexperte Matthias Hui glaubt derweil nicht, dass die Positionen bezüglich Aufgabenbereich der Institution effektiv so weit auseinanderliegen. Zwar hatte die aussenpolitische Kommission des Ständerats von der staatspolitischen Kommission einen Mitbericht zur Frage eingefordert, ob eine NMRI eine «Überwachungsfunktion» haben soll. Die staatspolitische Kommission verneinte und die aussenpolitische Kommission teilte diese Meinung. Hui bezeichnet diese Episode aber als «Sturm im Wasserglas»: «Unter der Mehrheit, welche die Schaffung einer Menschenrechtsinstitution grundsätzlich befürwortet, scheint es unbestritten, dass eine solche sämtliche Menschenrechtsfragen im Inland beobachten und auch kritisch kommentieren darf», sagt er. «Ebenfalls unbestritten ist aber, dass sie den Behörden nicht dreinreden und Anweisungen geben soll.»
Und wie soll sich die NMRI vor Abstimmungen verhalten? Hui meint, dass sie ihre Perspektive zu bestimmten Vorlagen durchaus darlegen könne, jedoch keine «finalen Parolen» abgeben soll. Eine Möglichkeit, wie der Preisüberwacher oder Datenschutzbeauftragte auf Beschwerde von Einzelpersonen tätig zu werden, sieht der Gesetzesentwurf für die NMRI ausdrücklich nicht vor. Auch eine Ombudsfunktion soll ihr nicht zukommen. Die NMRI soll jedoch gegen Entgelt Dienstleistungen erbringen können – sowohl für Behörden als auch für Private.
Dies tut weiterhin auch das SKMR – wenn es die Kapazitäten zulassen. Denn das Kompetenzzentrum arbeitet aktuell an seinem Schlussprojekt: Es will aufzeigen, wie der Menschenrechtsschutz in 16 verschiedenen Lebensbereichen verbessert werden könnte. Anfang 2023 soll dann dauerhaft die NMRI übernehmen.
Bestehende Institutionen in den Nachbarstaaten
Über 120 Staaten haben eine Nationale Menschenrechtsinstitution, davon fast alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zahlreiche Staaten Osteuropas. Beispiele:
In Deutschland ist das «Deutsche Institut für Menschenrechte» als Verein konstituiert. Ein Kuratorium aus 13 unabhängigen Vertretern der Zivilgesellschaft legt die inhaltlichen Richtlinien fest. Sein Mandat umfasst unter anderem die Information und Dokumentation sowie die Beratung von Politik und Wirtschaft.
Frankreich verfügt mit der «Commission nationale consultative des droits de l’homme» über eine unabhängige Verwaltungsbehörde, der 61 Vertreter, unter anderem von NGOs, Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften angehören. Ihr Mandat umfasst explizit auch öffentliche Stellungnahmen und die Sensibilisierung.
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