Bundesrichter sollen künftig die Möglichkeit haben, ihre Argumente auch dann zu publizieren, wenn sie in der Minderheit waren und von der Mehrheit der Kammer überstimmt wurden. Das schlägt der Bundesrat im Rahmen der Revision des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) vor. Die Publikation würde in Form eines Anhangs zum Urteil erfolgen. Solche Regelungen kennen bereits verschiedene Kantone: Aargau, Schaffhausen, die Waadt und Zürich. Im Kanton Zürich sind gestützt auf das Gerichtsorganisationsgesetz sogar die Gerichtsschreiber befugt, Minderheitsmeinungen abzugeben und den Urteilen anzufügen.
Die Berner Fürsprecherin Mirjam Baldegger untersuchte, wie oft in den Kantonen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, abweichende Beurteilungen zu veröffentlichen. Am Zürcher Verwaltungsgericht kommt dies jährlich rund zehn Mal vor, am Obergericht des Kantons Schaffhausen rund fünf Mal, am Obergericht des Kantons Aargau jährlich rund zwanzig Mal. Allerdings: Minderheitsmeinungen werden im Kanton Aargau nur ausnahmsweise publiziert (ZBl 3/2017). Die Umfrage fand Ende 2015 statt.
Die Autorin wägt die Vor- und Nachteile veröffentlichter Minderheitsmeinungen ab. Einen Nachteil sieht sie in der Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit. Denn Richter müssen sich mit Ausnahme des Kantons Freiburg überall regelmässig der Wiederwahl stellen. Da könnten sich publizierte abweichende Standpunkte nachteilig auswirken. Einen positiven Effekt haben sie laut Baldegger hingegen für die Rechtsfortbildung. Auch die Qualität der Urteile werde so verbessert und die innere Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter gestärkt.
Für unterliegende Parteien sind publizierte Minderheitsmeinungen ein Hinweis darauf, dass sich der Weiterzug eines Urteils an die nächste Instanz lohnen könnte. Immerhin müssen sie dann nicht mehr mit dem Vorwurf der Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels rechnen. Das ist dort wichtig, wo eine finanziell schwache Partei auf die unentgeltliche Prozessführung angewiesen ist. Diese kann nur beanspruchen, wer kein aussichtsloses Rechtsbegehren stellt.
Das Bundesgericht hatte kürzlich wieder Gelegenheit, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Das Zürcher Verwaltungsgericht bestätigte am 11. Januar 2017 die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung einer kurdischen Türkin. Die Frau sei eine Scheinehe eingegangen. Die Beschwerdeführerin war im Alter von 37 Jahren eingereist und hielt sich zum Zeitpunkt des Entscheids seit vier Jahren in der Schweiz auf. Die Gerichtsmehrheit verfügte auch die Wegweisung und wies das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab – wegen offensichtlicher Aussichtslosigkeit.
Verwaltungsgericht korrigierte den Entscheid
Zu diesem Punkt ist dem Urteil eine Minderheitsmeinung angefügt. Die unterliegende Richterin hält darin fest, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin nach der Abschiebung in die Türkei Repressionen ausgesetzt wäre und keinen hinreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung mehr hätte. Die Gerichtsmehrheit wie auch die Vorinstanz hätten die Zumutbarkeit der Wegweisung ausschliesslich anhand von Beurteilungen der Situation in der Türkei vor dem Putschversuch vom Juli 2016 vorgenommen. «Es ist vorliegend aber notwendig, dass die aktuelle Situation einbezogen wird», so die Gerichtsminderheit.
Gestützt darauf reichte die Türkin beim Bundesgericht Beschwerde ein. Sie unterlag weitgehend. Die konkrete persönliche Gefahr bei einer Abschiebung werde nicht in genügender Weise dargelegt. Hingegen gehe die Vorinstanz fehl, wenn sie von einem von vornherein chancenlosen Rechtsmittel ausgehe. Das Bundesgericht verweist auf seine Rechtsprechung. Wenn «innerhalb des vorinstanzlichen Spruchkörpers offensichtlich Uneinigkeit» herrschte, könne das Rechtsmittel nicht aussichtslos sein. Deshalb sei die Sache zur Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sowie Verbeiständung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Urteil 2C_192/2017 vom 9. Januar 2018).
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich fällte am 20. März 2018 den neuen Entscheid. Darin spricht der Einzelrichter der Beschwerdeführerin, wie vom Bundesgericht verlangt, die unentgeltliche Prozessführung zu – allerdings nicht für das ganze Verfahren, sondern nur für die Frage der Wegweisung. Der Richter entschädigt den Rechtsvertreter der Frau mit Fr. 503.30 für zwei Stunden Arbeit (inklusive Mehrwertsteuer). Das sei angemessen, habe der Anwalt eine angebliche Gefährdung der Klientin doch nur in pauschaler Weise behauptet (Urteil VB.2018.00044).
Der Richter kritisiert im Urteil die abweichende Minderheitsmeinung seiner Richterkollegin, was höchst ungewöhnlich ist. Mit Kritik spart er auch gegenüber dem Bundesgericht nicht, weil dieses bei einer protokollierten Minderheitsmeinung schematisch auf eine fehlende Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels schliesse.
Langjährige Praxis am Bundesgericht
Das Bundesgericht hat seine Praxis zur unengeltlichen Rechtspflege nach Minderheitsmeinungen im Mai bestätigt (2C_847/2017). Es hält fest: «Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege des bedürftigen Beschwerdeführers wird gutgeheissen, konnte doch die dem Bundesgericht eingereichte Beschwerde angesichts der abweichenden Meinung einer Minderheit der Gerichtspersonen der Vorinstanz nicht zum Vornherein als aussichtslos bezeichnet werden.»
Bundesrichter Andreas Zünd betont, dass diese Haltung bezüglich gerichtlicher Minderheitsmeinungen einer langjährigen Praxis entspricht. «Wenn einer von drei Richtern eine andere Meinung vertritt, kann das Rechtsmittel schon rein technisch gesehen nicht aussichtslos sein. Und einen Mitrichter durch Qualifizierung des Rechtsmittels als aussichtslos indirekt zu rügen, ist unkollegial. In unserer Abteilung machen wir das nicht.»