Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden. (Kierkegaard)
Noch nie war in der Schweizer Öffentlichkeit so viel von Völkerrecht die Rede wie heute. Bis vor nicht allzu langer Zeit befasste sich nur ein relativ kleiner «Club» von Spezialisten mit dieser Rechtsdisziplin: Diplomaten, internationale Funktionäre, einige Professoren und Journalisten.
Heute ist das Völkerrecht ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt – gerade in der Schweiz, wo die Partizipationsrechte der Bürger auch an der Treaty Making Power so weit gespannt sind wie sonst nirgendwo auf der Welt. Dazu beigetragen hat ein grundlegender Wandel der internationalen Beziehungen, dessen Wahrnehmung jedoch noch mit vielen Unsicherheiten, Missverständnissen und Fehleinschätzungen behaftet ist.
Was also verstehen wir unter dem zeitgenössischen Völkerrecht? Wir fragen zunächst nach dessen Umrissen. Dann wenden wir uns der Frage nach der Einwirkung des Völkerrechts auf die landesrechtliche Sphäre zu. Und schliesslich kommen wir auf einige Herausforderungen für die Schweiz zu sprechen.
Nach der lapidaren klassischen Definition ist Völkerrecht die Summe der zwischen den Staaten geltenden rechtlichen Normen öffentlich-rechtlicher Natur. Diese Rechtsnormen können aus drei Quellen hervorgehen: aus Verträgen, Gewohnheitsrecht und allgemeinen Rechtsprinzipien. Dies ist in Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs festgeschrieben.
Dabei lässt sich bei den Verträgen (Abkommen, Konventionen, Protokollen usw.) unterscheiden zwischen rechtsgeschäftlichen Verträgen (traités-contrats), z.B. Bereinigung von Grenzen, Kauf von Flugzeugen; rechtssetzenden Verträgen (traités-lois), z.B. Konventionen des humanitären Völkerrechts, EMRK, Seerechtskonvention, Pariser Klimaübereinkommen von 2015; und verfassungsrechtlichen Verträgen (traités-constitutionnels), z.B. Charta der Vereinten Nationen oder Satzung des Europarats.
Angesichts der modernen Entwicklungen muss dieses klassische Bild ergänzt werden: Neben den Staaten sind zunehmend auch nicht-staatliche Akteure («non-state actors») als Träger von völkerrechtlichen Rechten und Pflichten (etwa Internationale Organisationen oder Individuen) bzw. als treibende Kräfte der Völkerrechtsentwicklung Nichtregierungsorganisationen (NGOs) getreten. Und an die Seite streng völkerrechtlicher Bindungen sind – im Zwielicht von Recht, Politik und Moral – sogenannte «soft law»-Normen getreten.
Dass Grundfragen des Völkerrechts zu einem Thema des allgemeinen öffentlichen Diskurses geworden sind, hat mit der Ausdehnung seines Wirkungsbereiches und der allgemeinen Demokratisierung des staatlichen und internationalen Lebens zu tun. Ein Versuch einer aktuellen Standortbestimmung ist angezeigt. Die Auffassungen sind kontrovers.
Die Meinungen über die Natur des Völkerrechts, seine Funktionsweise und sein Verhältnis zum Landesrecht, die man – gerade auch von Juristen – zu Gehör bekommt, sind zum Teil bizarr, ja archaisch, zum Teil rein technisch-instrumental, der Bedeutung des Völkerrechts als Kern des zeitgenössischen «Rule of Law» nicht adäquat. Sie gehen oft an der Sache vorbei, sind oft realitätsblind.
So gibt es noch immer Leute – gerade Juristen –, die meinen und verkünden, Völkerrecht sei gar kein Recht. Das sind die «Völkerrechtsleugner». Und es gibt jene, die sagen, Völkerrecht sei nur – so hat das Hegel vor 200 Jahren gelehrt – eine Art «äusseres Staatsrecht», nach aussen reflektiertes staatliches Recht. Das sind die Anhänger der Lehre, wonach das Völkerrecht zwar Recht sei, dieses sich aber von der staatlichen Souveränität ableiten lasse. Vertreter solcher Denkrichtungen fechten doktrinäre Gefechte einer vergangenen Zeit. Sie gleichen jenen amerikanischen Christen, die noch immer Darwins Evolutionslehre aus dem Schulunterricht verbannen wollen, oder dem Gesetzgeber von Nebraska, der seinerzeit für die Schulen den Unterricht in Fremdsprachen verbieten wollte.
Die heutige Wirklichkeit, der heutige Stand der Zivilisation, die heutigen Rechtsauffassungen zeigen aber in eine andere Richtung. Die kollektive Vernunft von heute basiert auf der als selbstverständlich angenommenen Erkenntnis, dass kein Staat der Welt, der sich auch nur annähernd als Rechtsstaat versteht, davon ausgehen kann, dass elementare Fragen der Koexistenz souveräner Staaten ausschliesslich oder primär durch das Landesrecht entschieden werden können. «Kein Staat der Welt» – so haben es Jörg Paul Müller und ich unlängst in der «Zeitschrift für Schweizerisches Recht» umschrieben – «verfolgt eine solche archaische Linie… Welches Chaos würde einbrechen», fragten wir uns, «wenn jedem Staat freistünde, den Geltungsbereich seiner Rechtsordnung selbst zu bestimmen? Ein gutes Stück über Jahrhunderte mühsam erworbenes Völkerrecht, das selbst für den Kriegsfall weltweit elementare Normen vorsieht, würde», meinten wir, «gleichsam wieder der Willkür jeweiliger nationaler Rechtsansprüche überlassen.»
Realistischerweise ist vielmehr davon auszugehen, dass die Staaten in eine übergreifende rechtliche Ordnung eingebunden sind. Die Frage ist nur diejenige der adäquaten Erfassung der dynamischen Entwicklung beider Systeme, ihrer gegenseitigen Bezogenheit und ihres gegenseitigen Ineinandergreifens.
Tom Bingham, der 2010 verstorbene Lord Chief Justice of England and Wales und Senior Law Lord of the United Kingdom, schrieb in seinem berühmt gewordenen Buch «Rule of Law», er habe – wie es vielen von uns älteren Juristen auch erging – in sein Berufsleben das hehre Bild des Völkerrechts als «The Law of Nations» mitgebracht, das abgehoben vom rechtlichen Alltag der Menschen die Beziehungen zwischen Souveränitäten ordnete.
Gegen Ende seiner Karriere kam Bingham jedoch zum Schluss: «Obwohl Völkerrecht einen besonderen Körper des Rechts umfasst mit eigenen Regeln und Institutionen, stellt es einen Rechtskörper dar, der die nationalen Gesetze der einzelnen Staaten ergänzt und der dem nationalen Recht in keiner Weise entgegensteht. Völkerrecht beruht auf ähnlichen Prinzipien wie das nationale Recht, und es verfolgt ähnliche Ziele. Es ist kein abgesondertes Rechtsgebiet. Die Beachtung der ‹Rule of Law› ist genauso wichtig auf der internationalen Ebene wie auf der nationalen, ja vielleicht noch wichtiger.»
In den letzten Zeilen seines einflussreichen Buchs gelangte Bingham zum Schluss: «In einer Welt, die aufgespalten ist in verschiedene Nationalitäten und getrennt nach Rasse, Hautfarbe, Religion und Wohlstand, ist ‹Rule of Law› einer der grössten einigenden Faktoren, vielleicht der grösste, der Faktor, der einer universalen säkularen Religion am nächsten kommt. ‹Rule of Law› bleibt ein Ideal, aber ein Ideal, das anzustreben sich lohnt, im Interesse von ‹good government› und Frieden, zu Hause und in der weiten Welt.»
Als Kern einer modernen, weit gefassten internationalen «Rule of Law» verstanden, beschränkt sich Völkerrecht längst nicht mehr – wie noch in seiner klassischen Ausformung – auf Krieg und Frieden oder den diplomatischen und anderen Verkehr zwischen den Staaten. Es umfasst heute zentral auch den Schutz von Menschenrechten, die unabhängig von geografischen und politischen Grenzen jedem Menschen zukommen. Völkerrecht hat sich auch Aufgaben im Bereich von Welthandel und Klimawandel und unzähligen anderen Angelegenheiten angenommen, mit denen sich naturgemäss bloss die internationale Gemeinschaft bzw. regionale Gemeinschaften befassen können.
Insgesamt erscheint das Völkerrecht nicht mehr als Machwerk von Regierungsabkommen, sondern es versteht sich als demokratisch begründete Ordnung und schreibt den Staaten demokratische Ordnungsstrukturen vor.
Völkerrecht und Landesrecht also sind unterschiedliche, in sich geschlossene normative Systeme. Wie verhalten sie sich zueinander? Die Schweiz steht auf dem Boden der sogenannt monistischen Theorie, besser als Prinzip der Adoption bezeichnet. In diesem Sinn hatte das Bundesgericht schon in den ersten Jahren seiner Existenz mit intuitiver, staatsmännischer Sicherheit erkannt, dass die Bundesverfassung so zu verstehen sei, dass völkerrechtliche Verträge mit ihrem Inkrafttreten auf der internationalen Ebene auch innerstaatlich gelten und unmittelbar durch Gerichte und Verwaltung anwendbar sind, sofern die in Frage stehenden Normen hierzu geeignet sind. Es stellt sich die Folgefrage, ob es zur Regelung des Verhältnisses von Völkerrecht – das ja als solches innerstaatlich Geltung besitzt – und Landesrecht eine Rangordnung gibt, die bestimmt, wie das Völkerrecht in die Stufenordnung des Landesrechts einzufügen ist. Hier herrscht viel Unkenntnis und Zwist. Ich versuche, hierzu einige klärende Überlegungen anzubringen:
Angezeigt ist, als Ausgangspunkt, ein Blick in die Verfassung. Die total revidierte Bundesverfassung von 1999 enthält, gleich im 1. Titel über «Allgemeine Bestimmungen», eine wegweisende Bestimmung. In Art. 5 Abs. 4 BV heisst es: «Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.»
Diese lapidare Bestimmung wurde in Kommentaren und Lehrbüchern nach allen Seiten scharfsinnig akribisch gedeutet. Ich möchte hier, als Element einer subjektiven historischen Interpretation, nur einen Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Verfassungsartikels beitragen. Bei der Vorbereitung der Verfassungsreform in den späten 1990er-Jahren gehörte ich einer etwa zwölfköpfigen, von Bundesrat Arnold Koller eingesetzten Expertenkommission an, die sich mit dem Thema «Demokratie und Völkerrecht» befasste. Die Kommission traf sich jeweils im Bundeshaus. Olivier Jacot-Guillarmod vom Bundesamt für Justiz, ein brillanter Jurist aus Neuchâtel und späterer Bundesrichter, legte den Entwurf eines Verfassungsartikels vor: «Bundesrecht bricht kantonales Recht. Völkerrecht bricht Landesrecht.»
Zu starr, zu mechanisch erschien diese Bestimmung einigen Kommissionsmitgliedern. Ist es wirklich vertretbar, dass eine unter noch so fragwürdigen Bedingungen, von einer noch so untergeordneten Instanz eingegangene vertragliche Bindung zentrales, vom Verfassungsgeber geschaffenes Recht und Güter der obersten innerstaatlichen Rechtsstufe verdrängt? Oder dass eine vor langer Zeit in rigider Form abgeschlossene völkerrechtliche Vereinbarung mit veraltetem Inhalt einem wichtigen Reformvorhaben des Verfassungsgebers unumstösslich im Wege steht? Mir schwebte vor, einen grundsätzlichen Primat des Völkerrechts vorzusehen, der mit einem Abwägungsvorbehalt versehen gewesen wäre. In den Diskussionen der Kommission wurden solche Bedenken aber ignoriert, in den Protokollen hartnäckig verschwiegen.
Da blieb mir nur die Flucht in einen NZZ-Artikel. Als der Zeitungsartikel auf dem Tisch lag, hiess es in unserer Kommission: «Wir sind mit verschiedenen Varianten konfrontiert.» Die Divergenzen liessen sich nicht mehr verschweigen. In dieser ausweglos scheinenden Situation machte der Direktor der Direktion für Völkerrecht, Botschafter Charles-Matthias Krafft, den Vorschlag für den Formelkompromiss, wie er dann in die neue Bundesverfassung gelangte. Die Probleme blieben aber ungelöst, die Situation blieb offen.
Ein Blick in die Realität zeigt, dass zwischen Landesrecht und Völkerrecht ein interaktives Verhältnis besteht: Der Staat rezipiert Normen aus der internationalen Sphäre, ist aber auch an deren Entstehung und Fortbildung beteiligt.
Zum Verhältnis zwischen den Normen völkerrechtlichen und landesrechtlichen Ursprungs hat sich in der Praxis gezeigt, dass echte Konflikte kaum auftreten. Völkerrecht und Landesrecht ergänzen und überschneiden sich. Die Normen sind über weite Strecken kongruent, sie «fliessen zusammen». Ganze Bereiche wie die Grund- und Menschenrechte sind zu Feldern von «droit commun» geworden.
In Konfliktfällen suchen die Gerichte, eine völkerrechtsfreundliche, völkerrechtskonforme Auslegung zu finden, Harmonie zwischen den Systemen herzustellen.
In der brisanten Situation nach Annahme der Ausschaffungsinitiative hat das Bundesgericht im Fall Migrationsamt des Kantons Thurgau nicht einfach den neuen Ausschaffungsartikel der Verfassung «tel quel» angewandt, wie dies die Urheber der Initiative als Vollzug des Volkswillens verlangten, sondern bedacht, dass auch die Verfassung als Ganzes vom Volk (und von den Ständen) beschlossen wurde und dass zwischen der neu in die Verfassung eingefügten Spezialbestimmung und den Grundsatzbestimmungen der Verfassung als solcher mit ihren alten, tragenden Säulen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eine «praktische Konkordanz» herzustellen sei (BGE 139 I 16 ff.). «Eine Auslegung von Art. 121 Abs. 3–6, die dem verfassungsrechtlichen Gesamtkonzept keine Rechnung trägt und ausschliesslich den Willen der Initianten in den Vordergrund stellt, ist unzulässig», heisst es im Grundsatz in Erwägung 4.2.2 des Entscheids.
Ein zweiter Meilenstein in der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Entscheidung Al-Saadi (BGE 136 II 5). Hier ging es um die Auslegung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit, das die Schweiz 1999 mit der Europäischen Union und den EU-Mitgliedstaaten abgeschlossen hatte. Das Bundesgericht erwog, dass das Abkommen, das die sektorielle Teilhabe der Schweiz am Binnenmarkt zum Ziel und Gegenstand habe, autonom, aber nicht aus der Sicht eines Vertragsstaates, sondern aus der Gesamtsicht des Vertragswerks und der Vertragsstaaten auszulegen sei. Divergenzen zwischen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichts seien – so das Bundesgericht – im Interesse einer parallelen Rechtsentwicklung zu vermeiden. Doch gebe es zwischen der Rechtsprechung der Schweiz und der EU keine hierarchische Beziehung. Da die Schweiz nicht Mitglied der EU sei, sei der Europäische Gerichtshof nicht berufen, für die Schweiz über das Abkommen verbindlich zu bestimmen.
Ein weiterer Akt im Drama «Völkerrecht und Landesrecht» folgte mit der sogenannten Durchsetzungsinitiative, die am 28. Februar dieses Jahres von Volk und Ständen abgelehnt wurde. Hier hatte die schweizerische Abstimmungsdemokratie plötzlich eine höhere Stufe der Deliberation gefunden. In Artikeln und Debatten wurde thematisiert, dass Demokratie, auch in der Schweiz, nicht allumfassend ist: Sie ist kein Freipass für Beliebigkeit, sondern eingebettet in eine Gesamtordnung, die Grund- und Menschenrechte sowie Minderheiten schützt, und zwar in ein gewaltenteiliges System. Das sind alles Werte, welche unsere Bundesverfassung zusammen mit internationalen Menschenrechtsverträgen schützt.
Dogmatisch hat in jenen Wochen des in weiten Kreisen des Volks aufgebrochenen Verfassungsdiskurses die Auffassung an Boden gewonnen, dass nicht einfach mechanisch das letzte Votum des «Souveräns» als solches massgeblich ist, sondern der Sinn und die Schranken einzelner Bestimmungen durch Abwägung mit Kerngehalten der rechtsstaatlichen Verfassung zu ermitteln sind.
Der nächste Akt in der Diskussion um Landesrecht und Völkerrecht wird die kürzlich eingereichte Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» sein. Die Bundesversammlung hat sich noch nicht dazu geäussert. Dennoch hier einige Bemerkungen: Ich gruppiere meine Beobachtungen unter zwei Gesichtspunkte, die Jean-Jacques Rousseau, dem grossen Philosophen der direkten Demokratie, zugeschrieben werden. Rousseau soll gesagt haben, dass Entscheide des Souveräns «per se» richtig seien. Die «souveraineté du peuple» stand im Zentrum seines demokratischen Weltbilds. Rousseau soll aber hinzugefügt haben, dass auch der «esprit» wichtig sei, der hinter dem Entscheidverfahren über einen Text stehe.
Der Text der Initiative postuliert, dass die Bundesverfassung die oberste Rechtsquelle der Schweizerischen Eidgenossenschaft sei; die Bundesverfassung stehe über dem Völkerrecht und gehe ihm vor, dies unter Vorbehalt der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts.
Demgegenüber halte ich erstens fest: Echte Konflikte zwischen Völkerrecht und Landesrecht, wie sie hier als Schlüsselproblem supponiert werden, sind nach schweizerischer Erfahrung selten. Die Fokussierung des Artikels auf Widerspruch und Kollision und dabei den Vorrang der (jederzeit offen zur Disposition des Volkes stehenden) Verfassung, also die Hierarchie der Systeme, entspringt antiquierten rechtlichen Vorstellungen und ist für die Regelung praktischer Bedürfnisse wenig relevant und wenig hilfreich. In Wirklichkeit steht nicht so sehr die Durchsetzung einer hierarchischen Unterordnung der Systeme im Vordergrund, sondern die Suche nach ausgleichenden, harmonisierenden Lösungen durch Abwägung und – auch von Verhandlungen begleitete – praktische Konkordanz.
Zweitens wird die genuine Rolle und besondere Verantwortung von Gerichten für eine adäquate Ausbalancierung und Koordinierung der Systeme und die Fortbildung des Rechts, vor allem im Bereich des Menschenrechtsschutzes, ausgeblendet. Dabei erhellt gerade die Schweizer Rechtsprechung zu den ungeschriebenen Grundrechten und zur Rechtsgleichheit besonders eindrücklich, wie schöpferisch die richterliche Rechtsfortbildung nicht nur im anglo-amerikanischen, sondern auch im kontinentaleuropäischen Rechtsbereich sein kann.
Geradezu perfid ist drittens, wie im Titel suggeriert wird, dass sich «fremde Richter» der schweizerischen Rechtsordnung bemächtigen wollen. Alte Feindbilder werden bemüht – Bedrohung und Unterdrückung des Landes durch fremde Mächte von Morgarten bis zum Dritten Reich –, um den Vorrang der nationalen Souveränität zu rechtfertigen. Dabei geht es bei der internationalen «Rule of Law» ja gerade nicht um eine Herrschaft und Anmassung von Macht durch Systeme und Menschen, Herrscher, Dynastien, Kasten, religiöse Machthaber usw.; Sinn und Zweck ist es vielmehr, innerhalb und ausserhalb von Staaten den Missbrauch von Macht durch einzelne Gruppen, Institutionen und Systeme zu bekämpfen und der Freiheit der Menschen zu dienen.
Viertens sieht der Initiativtext ferner vor, dass nur «Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstand (...), für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend (sind)». Damit wird die Überprüfbarkeit völkerrechtlicher Verträge vom Zeitpunkt der Ratifizierung abhängig gemacht, was willkürlich erscheint. Die EMRK (und ihre praktische Handhabung) unterstünde damit einer Kontrolle durch das Bundesgericht, nicht aber der Uno-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und verschiedene Zusatzprotokolle zur EMRK, gegen die ein Referendum möglich gewesen wäre. Ganz unbeachtet bleibt im Initiativtext das Völkergewohnheitsrecht, das inhaltlich mit dem Völkervertragsrecht über weite Strecken übereinstimmt.
Und nun zum «esprit». Ausgangspunkt der Initiative war ein verbreiteter Ärger und Unmut über verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Kritik war in einzelnen Fällen – so etwa, wie ich meine, im Fall Perinçek – berechtigt. Die Ablehnung einzelner Urteile führte die Initianten aber dazu, die Konvention als Ganzes in Frage zu stellen, ja deren Kündigung in Betracht zu ziehen.
Es leuchtet indessen jedem Juristen ein, dass dies keine professionell vertretbare Reaktion ist. Kritik kann auf verschiedenen (juristischen und politischen) Wegen innerhalb des «Systems» angebracht werden, und jeder Rechtsweg muss einmal den Punkt erreichen, an dem – überzeugend oder nicht – das «letzte Wort» gesprochen wird.
Bedenklich ist vor allem, dass die in einzelnen Fällen berechtigte Kritik als Instrument des Kampfs für die Infragestellung oder letztlich sogar Loslösung der Schweiz von einem Vertragswerk benutzt wird, das Teil der grossen Zivilisationswerke der europäischen und weltweiten Geschichte ist und ein letztes Bollwerk für die Sicherung elementarer Rechte von Menschen in Not auf dem ganzen Kontinent darstellt.
Wie würde ein solcher Akt der Desavouierung der Konvention etwa von Türken beurteilt, die im Rahmen eines EMRK-widrig verhängten Notstandsregimes inhaftiert und Opfer anderer gravierender Menschenrechtsverletzungen wurden? Wie von Ukrainern, die im Konflikt mit Russland an Leib und Leben bedroht sind? Und wie von Polen und Ungarn, die sich ihres Rechts auf persönliche Freiheit, freie Meinungsäusserung und auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen Richter beraubt sehen?
Die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative also stellt das moderne Völkerrecht in seinen Grundlagen in Frage. Eine Annahme der Initiative würde der Schweiz grossen Schaden zufügen:
- Verletzungen von Völkerrecht setzten das Vertrauen aufs Spiel, das die Schweiz als internationaler Partner geniesst; Glaubwürdigkeit gehört zum wichtigen Kapital des Kleinstaates Schweiz in den internationalen Beziehungen.
- Eine Annahme der Initiative und vor allem die in Betracht gezogene Kündigung der EMRK verstiessen gegen grundlegende Gebote der Solidarität mit anderen (Rechts-)Staaten und vor allem mit Opfern von Repression und Diskriminierungen übelster Art europaweit, ja weltweit. Wäre es nicht eine Schande für die Schweiz, einen Dammbruch zu begehen, den sich andere noch so gerne zunutze machen würden? Die Signale an die Aussenwelt und der Schaden für unsere Reputation könnten verheerend sein.
- Die Initiative ist unnötig, das heutige System funktioniert zufriedenstellend. Das Volksbegehren zielt im Wesentlichen ins Leere: Rechte, die in der EMRK garantiert sind und auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfbar sein sollen, sind weitgehend auch Gegenstand des Uno-Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der laut Initiativtext für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgeblich wäre. Auch leuchtet von der Sache her nicht ein, dass die EMRK anders behandelt wird als ihre Zusatzprotokolle.
- Recht, ja gerade Grund- und Menschenrechte, bedürfen national wie international der stetigen Fortentwicklung. Diese Prozesse der Werte- und Güterabwägung von Situation zu Situation und der differenzierten Ausbalancierung der Institutionen sind erfahrungsgemäss in den Händen der (nationalen und internationalen) Richter gut aufgehoben. Man vergleiche als Parallele die rechtschöpferische Judikatur des schweizerischen Bundesgerichts bei den ungeschriebenen Grundrechten und der Rechtsgleichheit.
- Die Initiative suggeriert ein rechts- und wirklichkeitsfremdes Bild: die Beeinträchtigung eigener Freiheit durch Herrschaft «fremder» Richter. Dabei ist es ja gerade Aufgabe des modernen «Rule of Law», Missbräuche der Herrschaft von Menschen, insbesondere Ausgrenzungen des «Fremden» zu bekämpfen und konstruktiv Ordnungen anzustreben, die im übergreifenden gemeinsamen Interesse liegen.
- Die Fokussierung der Initiative auf die (relativ seltenen) Konfliktfälle von Völkerrecht und Landesrecht widerspiegelt ein nationalistisches Weltbild und entspricht nicht den praktischen Bedürfnissen und Erfahrungen. Diese tendieren zu Lösungen der praktischen Konkordanz.
Die hier vorgebrachte Kritik ist mit der Hoffnung verbunden, dass die Bürger im demokratischen Prozess weiterlernen, dass sich ihr Bewusstseinshorizont der kollektiven Verantwortung dabei erweitert und die Schweiz als aufgeschlossener, offener, respektabler Staat gestärkt aus einem Urnengang hervorgeht.