Die Rechtsprechung des höchsten Schweizer Gerichts ist von der gesetzlichen Konzeption her ein erstaunlich transparenter Vorgang. Doch die verlangte Transparenz der Urteilsfindung in Lausanne und Luzern bleibt immer mehr auf der Strecke. Das scheint auch das Parlament in Bern wahrgenommen zu haben. So hat der Ständerat in der Herbstsession eine Motion angenommen, die eine Live-Stream-Direktübertragung der öffentlichen Urteilsberatungen ins Internet verlangt. Ob das Bundesgericht tatsächlich dazu verpflichtet wird, hängt vom Nationalrat ab, dessen Rechtskommission die Ablehnung der Motion beantragt.
Doch was auch immer aus diesem parlamentarischen Vorstoss wird, seine gut gemeinte Idee wird die angestrebte Transparenz nicht fördern – weil es kaum mehr öffentliche Beratungen gibt, die ins Internet übertragen werden können. Ganz im Gegenteil: Eine Übertragungspflicht dürfte dazu führen, dass – abgesehen von den wenigen inszenierten Veranstaltungen für Studenten – in naher Zukunft überhaupt keine Urteilsberatungen mehr öffentlich abgehalten werden.
Das Gesetz verlangt seit jeher, dass über die Urteile öffentlich beraten und öffentlich abgestimmt wird – ein weltweit ziemlich einzigartiger Weg der Urteilsfindung. Während sich Gerichte in aller Welt nach der öffentlichen Verhandlung zur Beratung und Entscheidung des Verdikts hinter verschlossene Türen zurückziehen, berät das Bundesgericht – wie übrigens auch einzelne andere Gerichte des Landes öffentlich.
Schnellverfahren für wichtige Fälle missbraucht
Den Hintergrund bildet wohl der in der Schweiz hochgehaltene Grundsatz des Vorrangs der Demokratie vor dem Rechtsstaat. Die öffentliche Beratung soll sicherstellen, dass transparent wird, welcher Richter in welcher Frage wie urteilt. Das ist mit Blick auf die Unabhängigkeit der Richter, die sich alle sechs Jahre einer Wiederwahl stellen müssen, nicht unbedenklich. Andererseits ist dank dieser Transparenz der Entscheidfindung eine Beratungskultur entstanden, die Generationen von Juristen schätzten und zunehmend vermissen.
Bis in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hat das Bundesgericht denn auch alle halbwegs wichtigen Entscheide öffentlich beraten. Doch das führte mit zunehmender Geschäftslast zu immer schwerer befrachteten Traktandenlisten, die sich nicht mehr immer wie geplant bis zum Abend abarbeiten liessen. Folge: Angereiste Parteivertreter wurden wieder heimgeschickt, und es kam vor, dass eine Sitzung abgebrochen werden musste, weil der Blutzuckerspiegel eines Richters unter den kritischen Wert fiel.
In dieser Not wurden immer häufiger auch normale Dossiers mit der sogenannten Guillotine erledigt. Dabei handelt es sich um ein schriftliches Schnellverfahren, das eigentlich nur für Bagatellfälle vorgesehen war. Der Entscheid fiel ohne Beratung auf dem Weg der Aktenzirkulation, doch kam es zu Kollisionen mit dem Gesetz. Das galt namentlich für Urteile zu Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, die zu fünft gefällt und sorgfältig begründet werden müssen. Das Guillotine-Verfahren liess nur Dreierbesetzung und eine summarische Begründung zu. Ein ordentliches Zirkulationsverfahren gab es nur als Ausnahme für wenige Rechtsbereiche.
«Interne» Beratungen hinter verschlossener Tür
Erst im Jahre 1992 wurde dann die generelle Möglichkeit geschaffen, Urteile auch zu fünft und mit ausführlicher Begründung ohne Beratung auf dem Weg der Aktenzirkulation zu fällen – allerdings nur bei Einstimmigkeit. Mit dieser Lösung erleichterte der Gesetzgeber die Fallerledigung in eindeutigen Angelegenheiten und hielt gleichzeitig am Anspruch auf Transparenz fest. Dabei blieb es auch, als gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Präsidenten von Bundesgericht und damaligem Eidgenössischem Versicherungsgericht vergeblich versuchten, dem Parlament gewissermassen in einer Mogelpackung beliebt zu machen, den Weg der Aktenzirkulation auch bei Nichteinstimmigkeit zu öffnen (siehe NZZ vom 13. November 1999).
Doch in der Praxis begann das Bundesgericht, das unmissverständlich gesetzte Gebot der Transparenz immer mehr zu unterlaufen. War ursprünglich eine Zirkulation abgebrochen worden, sobald ein mitwirkender Richter auch nur Bedenken anmeldete, wurde schliesslich selbst bei einem Gegenantrag das schriftliche Verfahren sogar mehrfach wiederholt, bis der gruppendynamische Druck die erforderliche Einstimmigkeit erzwang. Inzwischen ist es sogar zur Regel geworden, sogenannte «interne Sitzungen» abzuhalten, in denen hinter verschossenen Türen so oft über ein Urteil beraten wird, bis alle zustimmen und das Urteil formell auf dem Weg der Aktenzirkulation gefällt werden kann – und das entgegen der klaren gesetzlichen Vorschrift, wonach eine Urteilsberatung öffentlich ist.
Bundesgericht sieht Anforderungen als erfüllt
Das Bundesgericht entgegnet solchen Einwänden mit dem Argument, eine öffentliche Urteilsberatung sei nur unumgänglich, wenn Einstimmigkeit fehle. Wie die erforderliche Einstimmigkeit zustande komme, habe der Gesetzgeber nicht definiert und damit dem Gericht freie Hand gelassen. Zudem wird argumentiert, dass eine öffentliche Urteilsberatung sehr aufwendig sei und daher mit Blick auf die grosse Geschäftslast möglichst vermieden werden soll. Dem wird allerdings auch von beteiligten Richtern entgegengehalten, dass eine mehrfache, nicht öffentliche Urteilsberatung an sogenannten «internen Sitzungen» kaum effizienter sein könne als eine einmalige öffentliche Beratung mit abschliessender Abstimmung.
Dieses Argument trifft zu und zeigt anschaulich, um was es im Kern geht: Das Bundesgericht will nicht der Beratung an sich ausweichen, jedoch sehr wohl der öffentlichen Beratung. Hatten sich frühere Richtergenerationen durch diese Öffentlichkeit in keiner Weise von lustvoller, brillanter und couragierter juristischer Debatte abhalten lassen, scheinen ihre heutigen Nachfolger das Licht der Öffentlichkeit lieber zu meiden.
Politik und Justiz müssen sich grundsätzlich überlegen, wie ernst man es mit dem Prinzip der Transparenz der Urteilsfindung nehmen will. Erachtet man diese Transparenz als unwichtig, wäre es nur ehrlich, die entsprechenden Bestimmungen im Gesetz zu streichen. Wird dagegen der Wert einer transparenten Urteilsfindung am höchsten Gericht bejaht, sind gesetzgeberische Konsequenzen erforderlich, die weit über die Einführung eines Live-Streams hinausgehen – allenfalls auch gegen den Willen der Bundesrichter.
Konkret heisst das: Will man am bisherigen Kriterium der fehlenden Einstimmigkeit festhalten, müsste man im Gesetz unmissverständlich festlegen, dass interne Sitzungen und andere nicht öffentliche Beratungen unzulässig sind und umgehend eine öffentliche Beratung anzusetzen ist, sobald eine erste Zirkulationsrunde nicht zu einer einvernehmlichen Lösung führt.
Parlament als Aufsichtsbehörde gefordert
Es wäre aber auch darüber nachzudenken, ob die fehlende Einstimmigkeit überhaupt noch als Kriterium taugt. Vermutlich wäre es sinnvoller, nur noch für die Beurteilung neuer Rechtsfragen, Praxisänderungen und eventuell weiterer wichtiger Weichenstellungen zwingend eine öffentliche Beratung vorzuschreiben.
Im Übrigen könnte das Zirkulationsverfahren auch bei Mehrheitsentscheiden zugelassen werden, allenfalls ergänzt durch die Möglichkeit, dass die überstimmte Minderheit ihre Argumente als dissenting opinion der schriftlichen Urteilsbegründung beifügen kann.
Schliesslich: Statt über Live-Streams aus Lausanne zu debattieren, müsste das Parlament sich darauf besinnen, dass es nicht nur Gesetzgeber ist, sondern auch Oberaufsichtsbehörde und Wahlorgan des Bundesgerichts. Als Oberaufsichtsbehörde wäre es gut beraten, die Anwendung allfälliger neuer Bestimmungen genau zu beobachten. Zumindest in einer Anfangsphase müsste es auch systematisch prüfen, ob Urteile zu neuen Rechtsfragen oder Praxisänderungen tatsächlich öffentlich beraten wurden. Und als Wahlorgan könnte das Parlament darauf achten, dass wieder mehr Kandidaten zum Zug kommen, die nicht nur das richtige Parteibuch besitzen, sondern auch Mut zum öffentlichen Amten haben. Sowie Lust und Freude daran.
Unterschiedliche Praxis in den Kantonen
Mit der Einführung der neuen Strafprozessordnung wurde in Artikel 348 festgelegt, dass die Urteilsberatung in allen Kantonen geheim ist. Anders sieht es bei den Zivilverfahren aus. Artikel 54 Absatz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) überlässt es den Kantonen, über die Öffentlichkeit der Urteilsberatung zu entscheiden. In vielen Kantonen blieb man bei der Regelung, die vor der Einführung der gesamtschweizerischen ZPO galt. So ziehen sich beispielsweise die Richter in den Kantonen Luzern und Thurgau für die Urteilsberatung zurück, wie sie es auch schon unter der kantonalen Zivilprozessordnung taten. Auch in den Kantonen St. Gallen, Aargau und Basel-Stadt findet die Beratung hinter verschlossenen Türen statt. Im Kanton Zürich beriet unter den alten Prozessordnungen das Obergericht öffentlich. Das ist neu nicht mehr der Fall.
In den Kantonen Bern und Basel-Landschaft war die Urteilsberatung nach altem Recht öffentlich. Dies bleibt in den meisten Fällen auch mit der schweizerischen ZPO so.
Im Kanton Bern ist die öffentliche Urteilsberatung im Gesetz ebenfalls vorgesehen. Laut Kathrin Arioli, Generalsekretärin des Obergerichts, spielt sie an den Zivilkammern des bernischen Obergerichts hingegen nur eine marginale Rolle. Grund: Der grösste Teil der Rechtsmittelverfahren wird gestützt auf die Akten entschieden. Falls es zu einer mündlichen Verhandlung kommt, findet eine öffentliche Urteilsberatung statt.
Die Regionalgerichte im Kanton Bern entscheiden als Einzelgerichte, eine Beratung entfällt also. Eine Ausnahme bilden arbeitsrechtliche Streitigkeiten mit einem Streitwert bis zu 15 000 Franken, bei denen in Dreierbesetzung verhandelt wird. sz