Kaum ein Anwalt prozessiert heute elektronisch. Letztes Jahr gingen beim Bundesgericht 7743 Beschwerden ein – doch nur 38 davon per Internet. In den Jahren zuvor sah es ähnlich aus. Laut den Geschäftsberichten des Bundesgerichts waren es im Jahr 2015 bloss 39 elektronische Beschwerden, ein Jahr vorher 25 und 2013 insgesamt 30. Auch bei kantonalen Gerichten bewegt sich die Anzahl elektronischer Eingaben im Promillebereich. Beim Bundesgericht sind seit 2007 elektronische Eingaben möglich, bei unteren Gerichten gestützt auf die Straf- und die Zivilprozessordnung seit 2011.
Diese Stagnation von elektronischen Eingaben auf tiefstem Niveau erstaunt. Immerhin arbeiten alle Gerichte und Anwälte mit einem Computer. Warum nur wird die elektronische Eingabe verschmäht?
Die Antwort ist allen bekannt, die es schon einmal versucht haben: Wer heute digital prozessiert, braucht Nerven. Eingabe und Belege sind im PDF-Format mit einer elektronischen Signatur zu versehen und anschliessend mittels anerkannter Zustellplattform an die zuständige Behörde zu schicken. Die Antwort des Gerichts erhält der Vertreter nicht elektronisch, sondern per Post. Wer ein elektronisches Büro will, muss die eingegangene Post einscannen.
Zudem drohen Fallen: Wer nicht sorgfältig abklärt, ob zum Beispiel ein Sozialversicherungsgericht elektronische Eingaben akzeptiert, riskiert ein Nichteintreten (Urteil des Bundesgerichts 8C_ 455/2016 vom 10.2.2017). Ist die Zustellplattform unerwartet ausser Betrieb, muss der Anwalt die Eingabe trotzdem ausdrucken und zur Post bringen. Ansonsten gilt die Eingabe als verspätet (6B_691/2012 vom 21.2.2013). Folge: Der heutige elektronische Rechtsverkehr ist ineffizient, wie Gian Sandro Genna in der Anwaltsrevue 2/2017 schrieb.
Gesetzesarbeiten haben bereits begonnen
Trotzdem haben das Bundesgericht sowie die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) im letzten Herbst einstimmig beschlossen, künftig nur noch elektronische Dossiers zu führen und nur noch elektronische Eingaben zu akzeptieren. Dies, obwohl sich der Bundesrat mit Bericht vom 4. Dezember 2015 gegen eine elektronische Aktenführung (E-Dossier) aussprach. Die Umsetzung sei zu teuer. Die KKJPD beschloss am 17. November 2016, den Bundesrat zu ersuchen, ein Obligatorium zu digitalen Eingaben in Zivil-, Straf- und Verwaltungsprozessen zu schaffen. Im Auftrag von Bundesrätin Simonetta Sommaruga arbeitet das Bundesamt für Justiz zurzeit ein Gesetz aus.
Von den Entscheiden des Bundesgerichts und der Kantone sind auch die Anwälte betroffen. Der Medienbeauftragte des Bundesgerichts, Peter Josi, bestätigt: «Geplant ist ein Obligatorium für Behörden und professionelle Anwender.»
Laut dem Bundesamt für Justiz wird zurzeit geprüft, dem Parlament einen Mantelerlass mit dem vorläufigen Titel «Bundesgesetz über die elektronische Kommunikation mit Gerichten und Behörden (Arbeitstitel: ERV-Obligatorium) vorzulegen. Davon erfasst sind Änderungen voraussichtlich in der ZPO, der StPO, dem BGG, dem VwVG und allenfalls weiteren verwaltungsrechtlichen Erlassen. Bisher sind die Kantone für die Justizverwaltung in ihrem Bereich zuständig. Sie nehmen anscheinend in Kauf, künftig auf einen Teil ihrer Kompetenzen zu verzichten.
Mit dem Inkrafttreten eines E-Justiz-Gesetzes wird frühestens im Jahr 2021 gerechnet. Klar ist schon heute: Die flächendeckende Umstellung aller Verfahren an allen Gerichten auf E-Dossiers kostet viel Geld. Laut Bundesgericht ist heute noch keine Beurteilung des Aufwands möglich. Medienbeauftragter Josi: «Das hängt stark von der konkreten Umsetzung des Projekts ab.»
Teurer elektronischer Rechtsverkehr
Bereits heute ist die Informatik in der Justiz teuer. Beispiel Bundesgericht: Letztes Jahr gab es laut seiner Jahresrechnung fast 2 Millionen Franken für Informatik aus. Dabei ist der Support- und Personalaufwand noch nicht eingeschlossen. Zum Vergleich: Das Bundesgericht gab 2016 nur rund 810 000 Franken für unentgeltliche Rechtspflege aus. Die Informatik kostet also schon heute ein Mehrfaches der unentgeltlichen Rechtspflege.
Dass der elektronische Rechtsverkehr extrem teuer wird, zeigt das Beispiel der Bundesverwaltung. Ab dem nächsten Jahr gilt dort das Primat der elektronischen Dossiers. Die Sprecherin der Bundeskanzlei, Ursula Eggenberger, sagt zu den Kosten: «Die derzeitige Realisierung und Einführung des elektronischen Geschäftsverkehrs in der zentralen Bundesverwaltung kostet 142 Millionen Franken. Die Kosten nach Inbetriebnahme belaufen sich auf 750 Franken pro Arbeitsplatz pro Jahr.» Bei rund 35 000 Vollzeitstellen dürften daraus Folgekosten von rund 30 Millionen Franken pro Jahr entstehen – sofern die Annahme nicht zu optimistisch ist.
Mehrausgaben auch für die Anwälte
Auch bei der Anwaltschaft wird der elektronische Rechtsverkehr zu hohen Mehrausgaben führen. Die Kosten für die elektronische Identität, die Zustellplattformen, die Integration der Software in die Büroanwendungen sowie der Support führen zu einem stattlichen Mehraufwand.
Die Vorhersage sei erlaubt: So, wie die Steuerzahler den Aufwand von Bund und Kantonen für elektronische Dossiers zahlen, werden die Klienten für die Aufrüstung der Anwaltskanzleien aufkommen. Es sei denn, die Anwaltschaft kann die Mehrkosten aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit nicht auf ihre Mandanten abwälzen. Dann müssten die Anwälte selbst für die Umstellung aufkommen.
Unklar ist auch, wie sicher die elektronischen Daten auf dem Transport, an den Gerichten und in den Anwaltskanzleien sein werden. Geplant ist, alle Daten der Polizei, der Staatsanwaltschaften und der Gerichte an einem zentralen Ort zu speichern. Das steigert die Anfälligkeit für Systemunterbrüche und Hackerangriffe.
In Zeiten, in denen es Kriminellen gelingt, selbst elektronische Bankkonten zu hacken und zu plündern («Saldo» 10/2017), dürften sich auch Justizakten kaum gegen Angriffe von aussen schützen lassen – trotz höchsten Sicherheitsstandards.
Eine funktionierende elektronische Justiz hätte sicher auch Vorteile: Die Akten wären jederzeit für alle Beteiligten verfügbar. Die Dokumente können einfacher übermittelt, durchsucht und bearbeitet werden. Arbeiten im Home-Office wäre ohne Aktentransport möglich. Mühsames Kopieren würde entfallen, das Archiv schrumpfen.
Doch selbst die Befürworter einer elektronischen Justiz scheinen von der Realisierung der Vorteile nicht sehr überzeugt zu sein. Sonst würden sie nicht auf einem Zwang zu elektronischen Eingaben bestehen. Die KKJPD begründet das Obligatorium damit, dass die Vorteile der elektronischen Akte nur dann zum Tragen kommen, wenn alle Akteure die Daten und Programme verwenden und «die medienbruchfreie Weitergabe der Dossiers zwischen allen beteiligten Stellen möglich ist».
Letzteres wird allerdings schon daran scheitern, dass ein Obligatorium höchstens für Rechtsvertreter eingeführt werden kann, nicht aber für die ganze Bevölkerung.
Zu den Befürwortern des Zwangs zu elektronischen Eingaben gehört auch der Schweizerische Anwaltsverband, weil der elektronische Rechtsverkehr sonst nicht bis 2021 zum Durchbruch gelangen könnte. Ob die Haltung des Verbands auch von einer Mehrheit der Mitglieder unterstützt wird, ist offen. Eine Befragung der Basis fand bisher nicht statt.