Auf einer Ablage in Monika Simmlers Büro an der Universität St. Gallen (HSG) stehen mehrere Miniaturroboter. Ein gutes Bildmotiv, meint der Fotograf von plädoyer. Doch Simmler winkt ab: «Bitte nicht, diese Roboter wurden in den Medien schon so oft gezeigt.»
Die St. Galler Professorin für Strafrecht ist gefragt. Die Schweizerische Mediendatenbank liefert für das vergangene Jahr 250 Treffer mit Monika Simmlers Namen – mehr als das Zehnfache im Vergleich zu den meisten Professorenkollegen.
Der Grund dafür dürfte mit Simmlers Themenschwerpunkt zusammenhängen: Sie behandelt bevorzugt Fragen an der Schnittstelle von Strafrecht und Informatik. Fragen, die in Zeiten immer ausgetüftelter technischer Überwachungsmöglichkeiten an Brisanz gewinnen.
Für die 33-Jährige ist die Auseinandersetzung mit solchen Themen ein Stück weit eine Reise in die eigene Vergangenheit. Mit 17 trat sie den St. Galler Jungsozialisten bei. Ihr erstes politisches Engagement: der Kampf gegen Überwachungskameras auf dem Marktplatz in St. Gallen.
St. Gallen als Schweizer «Repressionslabor»
Der Kanton St. Gallen wurde in den Nullerjahren auch als «Repressionslabor der Schweiz» bezeichnet. Sicherheitsdirektorin war damals eine gewisse Karin Keller-Sutter. Die heutige Bundesrätin profilierte sich mit einer strikten Law-and-Order-Politik.
Simmler kämpfte als Jungsozialistin gegen derartige Tendenzen. Mit gerade mal 22 Jahren wurde sie ins Stadtparlament gewählt. Lokalpolitisch aktiv, suchte Simmler gleichzeitig Distanz zu ihrer Heimatstadt, in welcher sie als einzige Tochter eines Architektenpaars aufwuchs. Sie studierte in Zürich Jus.
Für Simmler kam es nicht in Frage, sich in St. Gallen einzuschreiben: «Die HSG galt als eher elitär und wirtschaftsliberal», sagt sie. Sie spricht in der Vergangenheit. Durch Zufall verschlug es sie schliesslich doch an die St. Galler Universität, und sie revidierte ihre Vorurteile.
Interesse für die «roten Linien» der Gesellschaft
Als Simmlers Doktorvater Martin Killias von Zürich nach St. Gallen wechselte, folgte sie ihm als wissenschaftliche Mitarbeiterin und kehrte in ihre Heimatstadt zurück. Die HSG lernte sie von innen als Universität kennen, an der es durchaus Platz für gesellschaftskritische Sichtweisen hat. Diese machten das Strafrecht für sie einst attraktiv: «Im Strafrecht werden die roten Linien einer Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen verhandelt, das hat mich immer fasziniert», sagt Simmler.
Zur Digitalexpertin wurde sie durch Zufall: «Ich war nie besonders technikaffin», sagt sie. Mit Blick auf eine Tagung zum Thema Roboterrecht landete die Frage auf ihrem Tisch, ob Roboter im strafrechtlichen Sinn schuldig sein können. Die Thematik liess sie seither nicht mehr los und ist auch Gegenstand ihrer Habilitationsschrift, die sie voraussichtlich im Sommer 2024 einreichen wird. Darin geht es um die strafrechtliche Verantwortung beim Zusammenwirken von Mensch und Technik.
Schon jetzt ist Simmler die Ansprechpartnerin schlechthin, wenn es um die Themen Strafrecht und Digitalisierung geht. Hochkonjunktur hatte zuletzt das Thema Gesichtserkennung. Die Technologie dafür wird in einigen Kantonen bereits für die Strafverfolgung genutzt. Jüngst kündigte auch das Bundesamt für Polizei an, sich ein entsprechendes System beschaffen zu wollen.
Simmler tat ihre Einschätzung schon verschiedentlich kund: «Die gesetzliche Grundlage für Gesichtserkennungssoftware in den Kantonen ist ungenügend. Das gilt sehr wahrscheinlich auch auf Bundesebene für das Bundesamt für Polizei.» Diese von der Lehre nicht widersprochene Sichtweise schien die Polizeibehörden bislang nicht zu beeindrucken. Sie kritisierten vielmehr Simmler als Überbringerin der Botschaft.
An ihrem kritischen Standpunkt hält Simmler fest: «Man sollte bei den Überwachungstechnologien auf die Bremse treten.» Anders als in der EU habe in der Schweiz noch keine Debatte über die Anwendung moderner Überwachungstechnik stattgefunden. Simmler spricht sich deshalb für ein Innehalten aus: «Eine Idee wäre ein Moratorium für Gesichtserkennung und andere biometrische Erkennungssysteme, bis die politische Diskussion darüber geführt wurde.»
Liebesbeziehung zwischen Techfirmen und Staat
Denn die Möglichkeiten seien inzwischen beinahe unbegrenzt. «Es gibt mittlerweile auch Technologien, welche die Emotionen von Menschen erkennen können», so Simmler. «Man könnte mit ihnen womöglich eruieren, ob ein Verdächtiger zum Tatzeitpunkt wütend war. Oder ob seine Aussagen glaubhaft sind.» Für die Strafverfolgungsbehörden wäre ein solches Szenario wohl attraktiv. «Doch der gesellschaftliche Preis dafür wäre sehr hoch.»
Trotz solcher Szenarien ist Simmler verhalten optimistisch: «Ich habe das Gefühl, dass in der Bevölkerung ein Umdenken stattfindet. Man kommt vermehrt zur Einsicht, dass nicht alles, was technisch möglich ist, für eine Gesellschaft gut ist.»
Auf der anderen Seite gebe es so etwas wie eine Liebesbeziehung zwischen staatlicher und privater Überwachung. «Wir vertrauen unsere Daten dem Smartphone oder Google an. Für die Strafverfolgungsbehörden ist das praktisch: Sie bekommen über Beschlagnahmungen oder Editionen bei Bedarf relativ leicht Zugriff.»
Auch vor diesem Hintergrund spricht sich Simmler für ein «digitales Update» der Strafprozessordnung aus: «Die jüngste Revision ignorierte digitale Fragen völlig. Man kann gemäss Strafprozessordnung zum Beispiel lediglich ‹Gegenstände› beschlagnahmen. Von ‹Daten› ist auch in der revidierten Fassung nirgends die Rede. Beschlagnahmt wird natürlich trotzdem.»
Für die analoge Welt bleibt der gefragten Strafrechtsexpertin, die mit einem Staatsanwalt zusammenlebt, aktuell wenig Zeit. Die Sommermonate nutze sie jeweils zum Segeln auf dem Bodensee. Sie habe inzwischen auch die schönen Seiten des von ihr einst kritisch beäugten Heimatkantons schätzen gelernt.