Patt-Situation in Italien: Andreas Auer sieht den Ausgang der Wahlen vom 3. März als Ausdruck eines Bruches zwischen Volk und Regierenden. «Das Resultat drückt kaum mehr den eigentlichen Willen der Bürger aus, wer denn regieren soll. Würde die italienische direkte Demokratie besser funktionieren, wäre diese Entwicklung nicht möglich.» Auch in der Schweiz, so zeigte der Erfolg der Abzockerinitiative, existiert ein Misstrauen zwischen Volk und Regierenden, «oder hier wohl eher den Bank- und Industriemagnaten».
In der Mongolei sprach Auer neulich als Experte am «Direct Democracy Training», das der Präsident des einst kommunistischen Lands organisierte, und staunte, wie vehement die Bevölkerung Mitbestimmung fordert. 2011 evaluierte Auer mit einem Team die Übergangsverfassung im Südsudan, reiste mehrmals in den jüngsten afrikanischen Staat und lieferte dem Präsidenten einen kritischen Bericht ab. Am Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Universität Zürich treibt der 65-Jährige die Forschung zur direkten Demokratie voran und unterrichtet mit Passion. Auch nach vierzig Jahren sei «jede Vorlesung eine Herausforderung». Seine Rolle will er nicht darauf beschränkt wissen. «Wenn die Menschen auf die Strasse gehen, weil sie mitreden und mitentscheiden wollen, müssen wir hinstehen und erklären können, was Demokratie ist», sagt er.
So hielt er es schon als 40-Jähriger. Trotzig hatte sich Appenzell Innerrhoden als letzter Schweizer Kanton geweigert, Frauen das Stimm- und Wahlrecht zu gewähren. Dafür habe er ein gewisses Verständnis, sagt Auer. Die Selbstironie ist gut platziert. Wie seine Haare, die stets ein bisschen widerborstig aufstehen, ist auch der Sohn eines Bündner Forstingenieurs lieber unbequem als angepasst. Er stand hin, damals: Der neue Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung sei stärker zu gewichten als die Kantonsautonomie, behauptete er keck. Andere Staatsrechtler schüttelten darob nur den Kopf. «Als ich ihn hörte, hats bei mir klick gemacht», erinnert sich Theresa Rohner, eine Kämpferin für das Frauenstimmrecht. «Ich wusste, genauso mach ich das!» Als sie - flankiert von ihrer Anwältin zur Linken und Auer zur Rechten - am 27. November 1990 ins oberste Gericht in Lausanne schritt, erhielt sie recht.
In Zürich strampelt Auer mit seinem giftgrünen Singlespeed-Velo die Rämistrasse hoch zum Rechtswissenschaftlichen Institut. Am Bahnhof in Aarau hat er ein zweites Rad für den Weg zur Villa Blumenhalde parkiert. Vierzig wissenschaftliche Mitarbeitende aus Politologie, Staatsrecht und politischer Bildung arbeiten im «Zentrum für Demokratie Aarau» (ZDA), das Auer vor sechs Jahren mitbegründete. Dass sich die Stadt Aarau und der Kanton Aargau verpflichteten, das Zentrum bis 2022 mit jährlich 1,5 Millionen Franken zu unterstützen, bewog den Staatsrechtler nach 34 Jahren an der Universität Genf 2007 zum Wechsel in die Deutschschweiz. Er brachte sein 1993 gegründetes «Zentrum direkte Demokratie» (c2d) mit seiner einzigartigen Datenbank über die weltweiten Volksabstimmungen mit.
Was Auer an der Universität Zürich erstaunte, war der formalistische Stil des Unterrichts. Die Studenten seien vorab an fixfertigen Lösungen interessiert, an Stoff zum Auswendiglernen. Angeregte Diskussionen, wie er sie aus Genf kennt, hält er aber für wichtig, «schliesslich kennt die Rechtswissenschaft als Argumentationswissenschaft keine absolute Wahrheit, man muss vielmehr Standpunkte vertreten und sich nach den Argumenten der Gegenseite richten können». Neulich tauchten in seinem Archiv seine Genfer Prüfungsaufgaben aus den 1980er-Jahren auf: «Würde ich heute dieselben Anforderungen stellen - die Studenten würden mir gleich den Prozess machen!»
Entwickelt sich die Schweizer Demokratie zum Exportschlager? Auer warnt davor, sie als Modell zu verstehen, das man verschiffen kann. Doch die Schweiz könne ihre Erfahrungen teilen: «Es ist verblüffend, wie parallel die Bedingungen bei der Entstehung direktdemokratischer Mittel sind.» Ähnlich wie die Bürger, die sich in den Kantonen zwischen 1830 und 1860 Initiative, Referendum und Abstimmungen erkämpften, wollen heute auch die Indignados in Spanien oder die Demonstranten des arabischen Frühlings endlich mitentscheiden. Die Demokratie ist aber ein zartes Pflänzchen. Es braucht zwar staatliche Institutionen. Doch der Staat allein kann keine Demokratie aufbauen. Ohne den Gegenpart der Zivilgesellschaft ist er hilflos, es braucht dieses Netzwerk von sozialen, wirtschaftlichen und Macht-Beziehungen, das der Staat nicht direkt kontrolliert.
Auers Bündner Dialekt hat sich in den vier Jahrzehnten, die er im Welschland verbrachte, etwas abgeschliffen. In die Romandie verschlug es ihn, weil er partout nicht in Zürich studieren wollte wie alle anderen Bündner und deshalb nach Neuenburg auswich. Dort verliebte er sich in eine madagassische Mitstudentin, seine spätere Frau. Viele Jahre später unterrichtete er immer wieder einige Monate an der Rechtsfakultät in der Hauptstadt Madagaskars. Er engagierte sich politisch, lernte seine zweite Frau kennen. Dem Wunsch, eine neue Verfassung für das Land auszuarbeiten, kam er 1991 nach - doch sein Entwurf verschwand in einer Schublade. «Da habe ich realisiert, dass eine Verfassung von den betroffenen Menschen selbst ausgearbeitet werden muss.» Die Lektion sass.
Als Modell taugt die Schweizer Demokratie nur beschränkt, weil auch an ihr Probleme nagen. Die von der Groupe d'Etats contre la Corruption (Greco), einem Organ des Europarats, kritisierte intransparente Parteifinanzierung zählt Auer allerdings nicht dazu - erneut im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen. Die Geldflüsse liessen sich ohnehin nicht kontrollieren. Ein echtes Problem sieht er darin, dass die Schweiz einen grossen Teil der Bevölkerung vom Entscheidungsprozess ausschliesst: die Ausländer. 50 Prozent sind es in Schlieren, 45 Prozent im Kanton Genf und 23 Prozent im nationalen Durchschnitt. Es widerspreche dem Wesen der direkten Demokratie, dass jene, die von einem Entscheid betroffen sind, nicht mitreden könnten.
Dieses Jahr wird Andreas Auer emeritiert. An neuen Projekten mangelt es nicht. Sein grösstes ist die Lancierung eines Forums, das vergleichbar mit dem WEF in Davos einmal jährlich die wichtigsten Akteure versammelt - nicht der Wirtschaft, sondern der Demokratie. 2014 sollen sie starten, die World Democracy Days Aarau.