Die vollen Gefängnisse würden den Kanton Bern vor grosse Probleme stellen, klagt das Kantonalberner Amt für Justizvollzug seit geraumer Zeit. So sagte der ehemalige Amtsvorsteher Thomas Freytag etwa gegenüber dem «Bieler Tagblatt»: «Der Kanton Bern weist auf Stufe der Regionalgefängnisse einen deutlichen Platzunterbestand aus. Diese Plätze können nicht ausserkantonal kompensiert werden. Deshalb brauchen wir mittelfristig mehr Haftplätze.»
Gleich tönt es im Kanton St. Gallen. Auch hier fordern die zuständigen Behörden «mehr Haftplätze». Mit Erfolg: Der Kanton plant zurzeit ein neues Regionalgefängnis für 60 Millionen Franken. Dasselbe im Kanton Graubünden. Dort ist der Neubau der Justizvollzugsanstalt Realta in Cazis bereits beschlossene Sache. Die Kosten belaufen sich auf über 85 Millionen Franken.
Überbelegung gab es nur im Jahr 2013
Eine Fachgruppe kantonaler Experten des Strafvollzugs innerhalb der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren kam vergangenes Jahr zum Schluss, in der Schweiz würden im Strafvollzug 700 Plätze fehlen. Zudem wurde prognostiziert, dass weitere 500 Plätze für die Durchführung von Zwangsmassnahmen benötigt werden.
Für André Kuhn, Strafrechtsprofessor an den Universitäten Neuenburg und Genf, stellt die Gefängnisüberfüllung jedoch eine Pseudorealität dar. In der Schweiz gebe es keine Überbelegung der Gefängnisse. Das Bundesamt für Statistik gibt dem Professor recht: Das Amt stellt einzig im Jahr 2013 eine Überbelegungsquote von 100,3 Prozent in den Gefängnissen fest. Kuhns Fazit: «Die Entwicklung deutet darauf hin, dass die Hypothese der Überbelegung auf der Grundlage der verfügbaren Daten des Bundes nicht tragfähig ist.»
Trotzdem wurden in den vergangenen 20 Jahren ständig neue Haftplätze gebaut: Laut Bundesamt für Statistik gab es 1999 in der Schweiz 6493 Haftplätze, 2008 waren es schon 6736 und 2017 bereits 7468.
Auch Benjamin F. Brägger, Sekretär des Konkordats für die Nordwest- und die Innerschweiz, warnt davor, die Lösung stets im Neubau von Haftplätzen zu suchen: «Wir sollten nicht wild drauflosbauen. Es gibt in der Deutschschweiz genug Haftplätze», sagte er Anfang Februar gegenüber dem «St. Galler Tagblatt». Brägger bekräftigt gegenüber plädoyer, dass für die beiden Deutschschweizer Konkordate – denen alle Kantone ausser FR, GE, JU, NE, VD, VS und TI angehören – nie eine grundsätzliche Überbelegung bestanden habe. «Nur haben wir nicht immer die qualitativ richtigen Plätze an den richtigen Orten, also dort, wo sie gebraucht werden.»
“Kantönligeist” behindert Zusammenarbeit
So heisst es auch in einem Beitrag des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz von Mitte August: «Die Belegungsrate aller Anstalten im Konkordat lag im Jahr 2017 bei 87,5 Prozent und war somit etwas tiefer als im Vorjahr, als der Wert bei 88,4 lag. Dies verdeutlicht, dass über das gesamte Konkordat und über alle Haftarten betrachtet immer genügend Haftplätze zur Verfügung standen.» Im Ostschweizer Strafvollzugskonkordat lag die Belegungsrate im Jahr 2017 bei 79,8 Prozent. Das Konkordat rät deshalb, bei der «Schaffung von neuen Haftplätzen Zurückhaltung zu üben».
Um Engpässe zu vermeiden, könnten die Kantone enger zusammenarbeiten. Das verlangte 2017 auch die Fachgruppe der kantonalen Jusitzdirektoren. Ihr Fazit im Bericht zum «Kapazitätsmonitoring Freiheitsentzug» lautete: «Die Auslastung der Plätze des offenen Vollzugs in der Deutschschweiz müsste mit einer engeren Zusammenarbeit zwischen den Konkordaten optimiert werden.» Diese Zusammenarbeit funktioniert jedoch laut Daniel Fink, Lehrbeauftragter für Kriminologie an den Universitäten Luzern und Lausanne, in der Praxis aufgrund des starken «Kantönligeistes» nur beschränkt. Der Grund liege bei den Finanzen: Will ein Kanton einen Gefangenen andernorts unterbringen, muss er dafür bezahlen.
Straftäter müssen in der Westschweiz länger sitzen
Einzig in der Romandie liegt laut dem Bundesamt für Statistik die Belegungsrate über 100 – nämlich bei 107,3 Prozent. Warum ist das so? Laut Kuhn sprechen die Gerichte in der Romandie viel häufiger Freiheitsstrafen aus als in der Deutschschweiz. Fink bestätigt: «2017 wurden in der Romandie 52 Prozent der unbedingten Freiheitsstrafen ausgesprochen – bei einem Bevölkerungsanteil von 26 Prozent.» Die Kantone Genf und Waadt würden eine repressive Politik verfolgen. Das zeige sich vor allem bei Drogendelikten, wo man auch Kleindealer schnell ins Gefängnis stecke. Fink kritisiert: «Besonders die Behörden in Genf benutzen die Untersuchungshaft regelrecht als Waffe gegen kleinkriminelle Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung.» Zudem entlassen die Deutschschweizer Behörden Straftäter öfter nach dem Absitzen von zwei Dritteln der Strafe als die Westschweizer. Fink: «Das alles führt dazu, dass in der Romandie mehr Leute länger in den Gefängnissen bleiben.»
Laut André Kuhn sitzen die Gefangenen in der Westschweiz wegen gleichwertiger Straftaten länger im Gefängnis als in der Deutschschweiz. Eine solche Situation habe katastrophale Folgen für die Lebensbedingungen und die Resozialisierungsmöglichkeiten, die die Gefängnisbetreuung bieten sollte. Der Professor fordert: «Haftstrafen einzig für schwere Fälle, und vermehrt vorzeitige Haftentlassung.» Fink pflichtet ihm bei: «Das ist die einzige Antwort, die es gibt.» In seinem neuen Buch «Freiheitsentzug in der Schweiz» bringt er es auf den Punkt: «Es ist vielsprechender und kriminalpolitisch wirksamer, die Anordnung von Untersuchungshaft und die Fällung von Freiheitsstrafen zu beobachten und allenfalls zurückzubinden, als Ressourcen in die Planung des Baus und die Einrichtung von Gefängnissen zu stecken.»
Der Kanton Genf plant, die Überbelegung im Gefängnis Champ-Dollon trotzdem lieber mit einer neuen Anstalt zu lösen. «Les Dardelles» soll schätzungsweise knapp 260 Millionen Franken kosten und Platz für 450 Insassen bieten.