Rechtsvergleichende Studien zeigen, dass dem Völkerrecht in der Rechtsprechung des höchsten Schweizer Gerichts eine sehr wichtige Rolle zukommt, insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).1 Dies ist wohl insbesondere damit zu erklären, dass die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen nach der Ratifikation der EMRK dem Bundesgericht die Möglichkeit gab, einen Grundrechtsschutz herzustellen, welcher zumindest eine grundrechtskonforme Auslegung ermöglichte. Der Menschenrechtsschutz wird heute gegenüber Bundesgesetzen höher gewichtet.
Bis vor einigen Jahren blieb jedoch der Einfluss des Völkerrechts und insbesondere des völkerrechtlich garantierten Grundrechtsschutzes im Arbeitsrecht schwach. Das Völkerrecht und die EMRK sowie die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden in der arbeitsrechtlichen Gerichtspraxis vernachlässigt oder durch forensisch tätige Juristinnen und Juristen unterschätzt. Die Lehre kritisierte dies immer wieder.2
Ein neues Grundsatzurteil zeigt nun: Die ILO-Standards haben in der höchstrichterlichen Praxis ihren Platz gefunden. Das Bundesgericht ergriff die Gelegenheit, das Verhältnis zwischen Gewerkschaftsfreiheit von Artikel 28 der Bundesverfassung (BV) und Artikel 11 EMRK sowie der Anwendbarkeit der einschlägigen ILO-Normen ein für alle Mal zu klären. Gleichzeitig hielt die öffentlichrechtliche Kammer im Leitentscheid fest, dass den Gewerkschaften ein grundsätzliches Recht auf Zutritt- und auf Informationsrechte am Arbeitsplatz zusteht (BGE 144 I 50, Urteil 2C_499/2015 vom 6. September 2017).
Verweis auf massgebliche ILO-Übereinkommen
Zu entscheiden war über eine Klage der Gewerkschaft VPOD. Sie wehrte sich gegen einen Regierungsbeschluss des Kantons Tessin. Dieser unterwarf – in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber – den Zutritt zu seinen Gebäuden sowie die Ausübung gewerkschaftlicher Tätigkeiten im Gebäudeinnern restriktiven Bedingungen. Die angefochtene Regelung sah vor, dass der Zutritt den Gewerkschaften im Grundsatz nicht gestattet ist. Ausnahme: die Staatskanzlei bewilligt sie vorgängig. Für das Auflegen von Flyern oder Zeitschriften der Gewerkschaften musste laut Regierungsbeschluss ein Antrag an die örtliche Gebäudeverwaltung gestellt werden.
Das Bundesgericht hatte somit darüber zu entscheiden, ob den Gewerkschaften aus Artikel 28 BV, Artikel 11 EMRK sowie Artikel 22 Uno-Pakt II und Artikel 8 Uno-Pakt I ein Recht auf Zugang und auf das Hinterlegen von Informationen am Arbeitsplatz zusteht.
Der Entscheid verweist auf die in Artikel 11 EMRK verankerte Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Diese Norm erwähne ausdrücklich das Recht, an der Gründung von Gewerkschaften mitzuwirken und sich Gewerkschaften anzuschliessen, um die eigenen Interessen wahrzunehmen. Ausserdem nimmt das Gericht Bezug auf die ILO-Übereinkommen 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz der Vereinigungsfreiheit sowie auf ILO-Übereinkommen 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechts und des Rechts zu Kollektivverhandlungen.
Das Bundesgericht griff die alte Streitfrage auf, ob die von der Schweiz ratifizierten ILO-Übereinkommen self-executing sind. Es hielt aber fest, dass auf diese Frage gar nicht einzugehen sei, weil das Bundesgericht aus eigenem Antrieb und unabhängig von einer Bindungswirkung auf völkerrechtliche Normen des Arbeitsrechts Bezug nehmen kann, um Artikel 28 BV zu konkretisieren.
Laut den Lausanner Richtern überschneiden sich zahlreiche Normen der ILO zum Schutz der Gewerkschaftsrechte inhaltlich mit anderen, von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als self-executing bezeichneten völkerrechtlichen Bestimmungen (etwa Artikel 11 EMRK). Diese seien in ihrem Wortlaut teilweise viel weniger präzise als die massgebenden Übereinkommen der ILO. Das Bundesgericht weist explizit darauf hin, dass sich auch der EGMR bei seiner Auslegung von Artikel 11 EMRK auf ILO-Recht bezieht: Nämlich auf die Praxis des Ausschusses für Gewerkschaftsfreiheit und die Empfehlungen des Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations der ILO.
Daraus folgt für die Richter, dass den Gewerkschaften im öffentlichen Sektor im vorliegenden Fall grundsätzlich das Recht auf Zugang zu den Gebäuden des Arbeitgebers zu gewähren ist. Nur damit werde den Gewerkschaften die Möglichkeit effektiv garantiert, alle Tätigkeiten auszuüben, die geeignet sind, die Organisation und die Sozialpartnerschaft funktionsfähig zu erhalten und ihre statutarischen Ziele zu verfolgen. Dies unter der Wahrung einer verhältnismässigen, den ordnungsgemässen Betrieb nicht störenden Ausübung durch die Gewerkschaften. Das Urteil bezieht sich auf einen Sachverhalt, in welchem der Staat Arbeitgeber ist. Der Staat aber hat erhöhte Anforderungen in Sachen Einhaltung der Grundrechte zu genügen als ein privater Betrieb.
Grundsatzentscheid betrifft auch die Privatwirtschaft
Es stellt sich die Frage, wie der gleiche Sachverhalt bei einem privaten Arbeitgeber entschieden würde. Einen Hinweis dazu gibt der Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco vom 31. August 2018. Darin heisst es: Der vom Bundesgericht beurteilte Fall habe einen öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber betroffen. Die Richter würden einen Unterschied zwischen einem privaten und einem öffentlichen Betrieb machen. Das Urteil könne aber trotzdem als Grundsatzentscheid betrachtet werden. Es sei deshalb nicht auszuschliessen, dass auch bei Privatbetrieben ein Recht auf Zugang der Gewerkschaften zum Betrieb anerkannt werde.
Ähnlich äussern sich Vertreter der Lehre.3 Diese Interpretation entspricht der allgemeinen Tendenz, eine horizontale Wirkung von Grundrechten sowie die Verantwortung von Unternehmen für die Einhaltung von Menschenrechten zu bejahen.
Das Bundesgericht hat also mit dem vorliegenden Urteil gleich drei Punkte festgehalten: Einerseits steht den Gewerkschaften ein aus der Koalitionsfreiheit zustehendes Informations- und Zutrittsrecht zu. Dieses leitet sich unter anderem aus den Artikeln 28 BV und 11 EMRK ab. Zu deren Konkretisierung sind die einschlägigen ILO-Standards miteinzubeziehen, insbesondere die Konventionen 87 und 98.
Helen Keller, Rezeption des Völkerrechts, Berlin 2003; ferner Daniela Thurnherr, «The Reception Process in Austria and Switzerland», in: Helen Keller / Alec Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights: The Impact of the ECHR on National Legal Systems. Oxford 2008, S. 311–391.
Vgl. statt vieler, Kurt Pärli,
«Die unterschätzte Bedeutung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für das Arbeitsrecht», in: AJP 12/2015, S. 1671–1701.
Jean-Philippe Dunand, «Liberté syndicale et droit de l’Organisation internationale du travail (OIT): un cadeau avant
l’anniversaire! Commentaire de l’arrêt du Tribunal fédéral 2C_499/2015», Newsletter Droitdutravail.ch, Mai 2018.