Familienrecht
Alimentenpflicht auch noch nach der Lehre
Ein Lehrabschluss gilt nicht als angemessene Erstausbildung, wenn er im Rahmen eines Ausbildungskonzepts nur eine erste Etappe darstellt, die nicht befähigt, künftig den Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Sachverhalt:
Ein erwachsener Sohn aus dem Kanton St. Gallen macht nach der Lehre als Elektroniker noch ein Hochschulstudium. Der Vater weigerte sich, weiterhin Alimente zu zahlen, da die Erstausbildung abgeschlossen sei. Der Sohn obsiegte vor dem zuständigen Kreisgericht. Der Vater unterlag auch vor dem Kantonsgericht St. Gallen.
Aus den Erwägungen:
Der Werdegang des Sohnes nach der Schulzeit lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen: Lehre, Berufsmittelschule (BMS), Militär, Überbrückungszeit und Fachhochschulstudium. Zunächst ist zu prüfen, ob es sich dabei um eine angemessene Erstausbildung handelt. Die Vorinstanz hält im angefochtenen Entscheid fest, dass infolge der missglückten ersten Aufnahmeprüfung für die BMS 2012 nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Berufungsbeklagte sich nun mit einem Lehrabschluss begnügen würde. Ein Jahr vor Lehrabschluss habe er die Aufnahmeprüfung für die BMS bestanden, womit sich ein weiterführendes Studium offenkundig abgezeichnet habe. Der Vater macht demgegenüber geltend, dass der nach der Berufslehre zum Elektroniker erfolgte Besuch der BMS ein zweiter berufsqualifizierender Abschluss sei und wie auch das nachfolgende Studium als dritter Abschluss nicht mehr unter die angemessene Ausbildung nach Art. 277 ZGB falle. In der Sekundarschule und zu Beginn der Lehre sei nur die Berufsmatura als eigens berufsqualifizierende Zusatzausbildung thematisiert worden. Dass mit Bestehen derselben ein weiterführendes Studium offenkundig sei, ergebe sich daraus nicht. Der Sohn sei sich nach der BMS nicht sicher gewesen, welches Fachgebiet er überhaupt vertiefen wollte.
Demgegenüber hält der Sohn fest, es sei gerichtsnotorisch, dass immer mehr junge Menschen nach der Lehre eine weiterführende Berufsausbildung absolvierten. Ein Fachhochschulstudium sei in diesem Sinne nichts Ungewöhnliches mehr und gehöre in vielen Fällen – wie im vorliegenden – zur regulären Berufsausbildung. Der Sohn habe bereits in der Sekundarschule geplant, zuerst eine Lehre zu absolvieren, um danach ein Fachhochschulstudium anzuschliessen.
Gemäss Art. 277 Abs. 1 ZGB dauert die Unterhaltspflicht der Eltern bis zur Volljährigkeit des Kindes. Hat es dann noch keine angemessene Ausbildung, so haben die Eltern, soweit es ihnen nach den gesamten wirtschaftlichen und persönlichen Umständen zugemutet werden darf, für seinen Unterhalt aufzukommen, bis eine entsprechende Ausbildung ordentlicherweise abgeschlossen werden kann. Der Volljährigenunterhalt steht in engem Zusammenhang mit der elterlichen Erziehungspflicht, wonach die Eltern dem Kind eine angemessene, den Fähigkeiten und Neigungen soweit möglich entsprechende allgemeine und berufliche Ausbildung zu verschaffen haben (Art. 302 Abs. 2 ZGB). Die Volljährigenunterhaltspflicht besteht, wenn der Ausbildungs- bzw. berufliche Lebensplan während der Minderjährigkeit noch nicht zu einem Berufs- oder Ausbildungsabschluss führte, welcher den Eintritt ins Erwerbsleben ermöglichte. Der früher vorherrschende Ausnahmecharakter der Unterhaltspflicht nach der Volljährigkeit, wurde mit der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters relativiert. Das Gericht hat demnach jene berufliche Ausbildung zu beurteilen, die vor der Mündigkeit angestrebt wurde, und nicht einfach den allgemeinen Ausbildungsstand des Kindes.
Angemessen ist eine Ausbildung, wenn das geplante und realistische Ausbildungsziel erreicht ist. Ob darin Zweit- und Zusatzausbildungen eingeschlossen sind, hängt von den Umständen ab, insbesondere den getroffenen Absprachen und der Zumutbarkeit, aber auch vom konkreten Ausbildungsgang. Bei universitären Studien richtet sich das zu erreichende Ausbildungsziel nach den Erfordernissen der beruflichen Realität im entsprechenden Berufsfeld. Eine Ausbildung erlaubt es dem Kind, einer angemessenen Erwerbstätigkeit nachzugehen, bzw. es wurden dem Kind hinreichende Kenntnisse vermittelt, die es ihm ermöglichen, seinen Lebensunterhalt künftig selbst zu bestreiten. Dabei richtet sich das entsprechende Ausbildungsziel nach den tatsächlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen sowie den Fähigkeiten und Neigungen des Kindes. Es ist hier unbestritten, dass die vorgenommenen Ausbildungsschritte des Sohnes dessen Fähigkeiten und Neigungen entsprechen.
Aus den Akten geht hervor, dass der Sohn bereits in der Sekundarschule das Ziel der Elektronikerlehre mit BMS verfolgte. Im Nichtaufnahmebescheid wurde er darauf hingewiesen, dass es nach erfolgreichem Abschluss der Lehrzeit möglich sei, in einem Vollzeitkurs die Berufsmaturität nachzuholen. Infolge des Misserfolges bei der Aufnahmeprüfung 2012 absolvierte er die BMS im zweiten Anlauf anschliessend an die Lehre. Dass sein Ausbildungsweg dadurch nicht nach seinen ersten Vorstellungen als Minderjähriger verlief, heisst nicht, dass kein Ausbildungskonzept vorlag. Es handelt sich hier entgegen der Behauptung des Vaters um keine Weiterbildung im Sinne einer Zweit- oder Drittausbildung, sondern um eine gesamtheitlich angemessene Erstausbildung.
Kantonsgericht St. Gallen, Urteil FO.2018.4 vom 17.7.2020
Privatversicherungsrecht
Kleingedrucktes unklar – Pandemie-Ausschluss ungültig
Schliessen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen einer Epidemienversicherung bestimmte Grade von Pandemien aus, muss dies in den Vertragsbedingungen ausdrücklich formuliert sein. Ein blosser Hinweis auf WHO-Kriterien genügt nicht. Ein solcher Ausschluss ist ungültig.
Sachverhalt:
Ein Restaurant hatte eine Geschäftsversicherung abgeschlossen, die auch den Ertragsausfall und Mehrkosten infolge Epidemie deckt. Das Restaurant errechnete aufgrund der coronabedingten Betriebsschliessung vom 17. März bis 30. April 2020 einen Schaden von 75 397 Franken. Die Versicherung verweigerte die Leistung. Im Kleingedruckten sei im Falle einer Pandemiestufe 4 und 5 gemäss Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Leistung ausgeschlossen. Das Restaurant erhob Klage vor dem Handelsgericht Aargau.
Aus den Erwägungen:
4. Der zwischen der Klägerin und der Beklagten abgeschlossene Versicherungsvertrag ist grundsätzlich gültig. Die Parteien haben sich über die objektiv wesentlichen Punkte Gefahr bzw. Risiko, Vertragsgegenstand, gegenseitige Leistungen und Dauer des Vertrags geeinigt. Ebenso herrscht Einigkeit darüber, dass die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) und die Zusatzbedingungen (ZB) der Beklagten von der Klägerin global übernommen wurden und damit Vertragsbestandteile bilden. Umstritten ist hingegen, ob auch die Klausel der ZB vom Konsens im Rahmen der Globalübernahme der AVB erfasst wird und ob der darin statuierte Deckungsausschluss im Zusammenhang mit Schäden infolge des Covid-19-Virus gültig ist.
6.1 Die Klägerin bringt im Wesentlichen vor, gemäss Police gewähre die Beklagte Versicherung gegen Ertragsausfall und Mehrkosten infolge Epidemie. Im normalen Sprachgebrauch verstehe man darunter eine Krankheit, von der typischerweise viele Menschen gleichzeitig befallen werden und die sich schnell verbreitet. Dementsprechend sei nicht von einer Epidemie die Rede, wenn erst einzelne Personen oder kleine Personengruppen betroffen sind (Pandemiestufe 3) oder noch keine übergreifende Ausbreitung stattgefunden hat, sondern erst die Gefahr hierzu bestehe (Pandemiestufe 4). So finde sich auch im Epidemiengesetz, auf dessen Grundlage der Bund sämtliche Massnahmen seit dem 16. März 2020 erlassen habe, der Begriff der Pandemie nirgends. Indem die Beklagte mit der Ausschlussklausel in den Fällen Schäden von der Deckung ausnehme, wo behördliche Massnahmen wegen Krankheitserregern ergriffen werden, für die national oder international die Pandemiestufen 5 oder 6 gelten, und damit die Deckung auf behördliche Massnahmen begrenze, welche bis und mit Pandemiestufe 4 ergriffen werden, höhle sie den versprochenen Versicherungsschutz aus.
Die Beklagte entgegnet im Wesentlichen, mit dem auf KMU zugeschnittenen Standard-Versicherungsprodukt würden Epidemien, d.h. örtlich begrenzte Krankheitsereignisse, und nicht Pandemien versichert. Selbst wenn dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer diese Unterscheidung nicht bekannt sein sollte, könne er für eine Prämie von 380 Franken jährlich keine All-Risk-Deckung erwarten. Vielmehr müsse er mit Einschränkungen und Ausschlüssen rechnen, die sachlich begründet sind und den Versicherungsschutz nicht übermässig einschränken, sodass Letzterer in einem angemessenen Verhältnis zur Prämie stehe. Der Pandemieausschluss gehöre in die Kategorie der Ausschlüsse der höheren Gewalt.
7.2 Klausel B2 verweist im Zusammenhang mit dem Deckungsausschluss für Schäden, die nicht Folge sind von Influenza-Viren oder Prionkrankheiten, einzig auf die Pandemiestufen 5 und 6 der WHO, ohne deren Inhalt im Wortlaut wiederzugeben. Damit ergibt Klausel B2 aus sich heraus keinen Sinn, kann doch die Klägerin daraus nicht ersehen, unter welchen Voraussetzungen die Deckung für derartige Schäden ausgeschlossen ist. Klausel B2 erweist sich damit als unverständlich. Hätte die Beklagte in ihren AVB die grundsätzlich nicht mehr gültigen WHO-Pandemiestufen 5 und 6 für anwendbar erklären wollen, hätte sie es nicht bei deren blosser Nennung in Klausel B2 belassen dürfen. Vielmehr wäre sie nach Treu und Glauben verpflichtet gewesen, die entsprechenden Kriterienkataloge oder Definitionen in ihrem Wortlaut in den Vertragstext – sinnvollerweise in Klausel B2 selbst – aufzunehmen bzw. zumindest den gültigen Internet-Dateipfad anzugeben. Weil sie dies unterlassen hat, haben die früheren WHO-Pandemiestufen 5 und 6 keinen Eingang in den Versicherungsvertrag mit der Beklagten gefunden und können nicht zur Begründung des Deckungsausschlusses herangezogengen werden.
8. Zusammengefasst ist Klausel B2 der ZB nicht ungewöhnlich. Sie wird daher vom Konsens der Parteien erfasst. Dagegen greift der darin statuierte Deckungsausschluss nicht und die Beklagte hat für die versicherten Schäden, die der Klägerin im Zuge behördlicher Massnahmen zur Bekämpfung des Covid-19-Virus entstanden sind, Deckung zu leisten.
Handelsgericht Kanton Aargau, Entscheid HOR.2020.18 vom 17.5.2021
Verwaltungsrecht
Schütze darf nach Konvertierung zum Islam Waffe besitzen
Der Aargauer Regierungsrat lehnte das Gesuch eines langjährigen Sportschützen für einen Waffenschein gestützt auf eine Beurteilung durch den Nachrichtendienst des Bundes ab. Das Aargauer Verwaltungsgericht sieht es anders. Es lägen keine Indizien für eine Gefährdung vor.
Sachverhalt:
Ein Aargauer, der zum Islam konvertiert ist und seinen Glauben lebt, möchte sich als Sportschütze betätigen. Doch die Aargauer Kantonspolizei und der Regierungsrat lehnen einen Waffenerwerbsschein ab, weil zuvor der kantonale Staatsschutz und der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) Bedenken äusserten, der Muslim unterstütze eine radikale Richtung des Islam. Dagegen wehrte sich der Kläger erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht.
Aus den Erwägungen:
1.1 Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz sei fehlerhaft bzw. willkürlich. So weiche die vorinstanzliche Ansicht, wonach der Beschwerdeführer eine radikale und extremistische Haltung habe und gefährlich sei, ohne ausreichenden Grund von der Einschätzung der Fachpersonen ab. Letztere hätten sich eingehend und gestützt auf eine vollständige Informationslage dahingehend geäussert, dass beim Beschwerdeführer weder eine Eigen- noch eine Drittgefahr vorliege, auch keine psychischen Erkrankungen beständen und es keine Belege für Hinderungsgründe gäbe, die gegen den Waffenbesitz des Beschwerdeführers sprächen. Dementsprechend habe die Vorinstanz die vom Fachgutachten abweichenden Behauptungen des Staatsschutzes zu Unrecht als plausibel erachtet. Ferner liefere auch der Amtsbericht des NDB keine Grundlage für die Schlussfolgerungen der Vorinstanz, beziehe sich dieser doch auf alte, teilweise auch falsche Informationen, die überdies unbelegt geblieben und im Fachgutachten auch berücksichtigt worden seien.
2.2 Da der Verweigerung eines Waffenerwerbsscheins gestützt auf Art. 8 Abs. 2 WG ein präventiver Charakter zukommt, sind an die von der ersuchenden Person ausgehenden Gefahren keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Gestützt auf konkrete Gegebenheiten muss jedoch eine sachlich begründbare, überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Selbst- oder Drittgefährdung unter Verwendung einer Waffe vorliegen. Die mit dem Entscheid über den Waffenerwerbsschein betraute Stelle ist dabei nicht an die Einschätzung von Strafverfolgungsbehörden gebunden. Namentlich darf ein strengerer Massstab angelegt werden, wenn es im Rahmen eines verwaltungsrechtlichen Verfahrens um die Beurteilung geht, ob eine massgebliche Gefahr für eine missbräuchliche Verwendung der Waffe besteht.
2.2.1 Sodann wird festgehalten, dass sich der Beschwerdeführer aktuell in einem psychisch unauffälligen Zustand zeige. Lediglich fielen leicht befremdliche Ideen hinsichtlich der alternativen Täterschaften von eigentlich Muslimen zugeschriebenen terroristischen Anschlägen auf. Auch falle eine strenge Gläubigkeit auf in dem Sinne, dass der Beschwerdeführer die Anwendung der Scharia und damit Bestrafung von Vergehen in Form der Steinigung grundsätzlich befürworte. Insgesamt sei der Beschwerdeführer aber authentisch im Sinne einer konsequenten tiefen Religiosität und gleichzeitiger Ablehnung von verallgemeinernden gewalttätigen Handlungen im Namen der Religion. Die Anwendung der Scharia und deren aus Schweizer Sicht teils grausamen Strafen halte er nur nach Beurteilung durch einen darin speziell ausgebildeten Geistlichen für gerechtfertigt, analog zum Aussprechen der Todesstrafe, wie sie in anderen westlichen Ländern (USA) praktiziert werde. Es gebe keine Hinweise auf vom Beschwerdeführer geplante Straftaten, weder in gewalttätiger noch in gemeingefährlicher Hinsicht. Ferner wird festgehalten, dass sich in den mittels Testbatterie zur waffenrechtlichen Begutachtung (TBWB) ermittelten Ergebnissen hinsichtlich der Fragestellung keine eindeutig bedenklichen Ergebnisse fänden.
2.3.5 Aus dem Gesagten folgt, dass es nicht zu überzeugen vermag, wenn die Vorinstanz in den Feststellungen des kantonalen Staatsschutzes sowie des NDB einen hinreichend aussagekräftigen Beleg für eine aus waffenrechtlicher Sicht relevante Drittgefährdung durch den Beschwerdeführer sieht. Dass eine solches Gefährdungspotenzial beim Beschwerdeführer aktuell besteht, wurde von den Gutachtenspersonen, wie erwähnt, gestützt auf eine vollständige Informationslage verneint. Diesem von – in Sachen Waffentauglichkeit mit spezifischem Fachwissen ausgestatteten – Experten verfassten, aktuelleren Befund ist eine vorrangige Bedeutung beizumessen.
Im Übrigen ist im Rahmen der erforderlichen Gesamtschau zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer in der Vergangenheit langjähriger Waffenbesitzer bzw. Hobbyschütze war. Dabei ist er nie negativ aufgefallen.
3. Gestützt auf die vorstehenden Erwägungen ist das Gesuch des Beschwerdeführers vom 24. September 2018 um Erteilung eines Waffenerwerbsscheins gutzuheissen und sind ihm die beschlagnahmten Waffen auszuhändigen.
Verwaltungsgericht Kanton Aargau, Entscheid 2020-001018 vom 9.4.2021
Sozialversicherungsrecht
Arbeitslose: Weniger Taggeld nach Verwarnung
Wer mit einer Verwarnung des Arbeitgebers nicht einverstanden ist, darf diese nicht unterzeichnen, sondern muss festhalten, damit nicht einverstanden zu sein. Sonst drohen Kürzungen der Arbeitslosentaggelder.
Sachverhalt:
Die Bereichsleiterin einer Appenzeller Metzgerei wurde mehrmals verwarnt. Sie hatte abgelaufenen Fleischkäse verkauft sowie Biofleisch, dessen Herkunft nicht nachweisbar war. Schliesslich wurde der Frau gekündigt. Die Arbeitslosenkasse strich ihr 38 Taggelder, da die Entlassung selbst verschuldet sei. Die Metzgerin wehrte sich dagegen ohne Erfolg vor dem Kantonsgericht Appenzell Innerhoden.
Aus den Erwägungen:
1.1 Die Beschwerdeführerin bringt im Wesentlichen vor, das Verhalten der Beschwerdegegnerin sei widersprüchlich und willkürlich, halte diese doch einerseits ihre Ausführungen als nachvollziehbar und vermisse beim Verhalten des Arbeitgebers soziale Verantwortung und Fairness, andererseits erkenne sie die Kündigung durch das Verhalten der Beschwerdeführerin als selbst verschuldet und schweres Verschulden sei gegeben.
Das unfaire Verhalten des Arbeitgebers habe sich in vier Gesprächsnotizen manifestiert. In Folge der ersten Gesprächsnotiz mit dem neuen Vorgesetzten habe sie sich im Januar 2018 über das Verhalten ihres Vorgesetzten beim Regionalleiter beschwert. Die vier Gesprächsnotizen hätte sie nicht deshalb jeweils unterzeichnet, weil sie die Vorwürfe akzeptiert hätte, sondern weil sie als Vorgesetzte die Verantwortung für Fehler ihres Teams habe übernehmen müssen. Wenn tatsächlich alle Vorgesetzten die Fehler ihrer Mitarbeitenden verantworten würden, so hätte auch ihr Vorgesetzter für ihre Fehler geradestehen müssen. Doch hätte sie nicht damit gerechnet, dass die Aktennotizen zu ihrer Kündigung führen würden, denn sie sei eine langjährige und verdiente Mitarbeiterin gewesen, ansonsten hätte sie sich gegen diese gewehrt. Die Gesprächsnotizen seien allenfalls als Aussage der Arbeitgeberin zu bewerten, die ihrer Aussage gegenüberstünden.
Wenn Aussage gegen Aussage stehe, dürfe dies nicht zu ihren Lasten ausgelegt werden. Zur Fürsorgepflicht der Arbeitgeberin gehöre, dass sie sich ihren Mitarbeitenden gegenüber fair verhalte. Der zeitliche Ablauf zeige, dass sie 26 Jahre unbescholten gute Arbeit geleistet habe und dann bei einem Vorgesetztenwechsel innerhalb von zweieinhalb Jahren demontiert worden sei. Die Gründe, warum der Vorgesetzte sie so behandelt habe, seien ihr nicht bekannt: Vielleicht habe er unter Druck gestanden, die Filiale rentabler zu machen, vielleicht habe er die Anweisung erhalten, teure Mitarbeitende zu ersetzen, vielleicht hätte er etwas persönlich gegen sie. Ihr gegenüber habe er immer wieder erwähnt, dass er eine bediente Metzgerei als zu teuer erachten würde.
1.2 Die Beschwerdegegnerin erwidert, im Rahmen der üblichen Rückfrage beim Arbeitgeber betreffend Kündigungsgrund sei von der B. mitgeteilt worden, dass die Beschwerdeführerin mehrmals Weisungen missachtet habe, Verstösse gegen das Lebensmittelgesetz begangen habe und ihrer Funktion als Bereichsleiterin Metzgerei nicht nachgekommen sei. Dies habe schliesslich zur Kündigung geführt. Es wäre an der Beschwerdeführerin gelegen, sich gegen nicht gerechtfertigte Vorwürfe zu wehren, noch bevor die Kündigung ausgesprochen worden sei, respektive spätestens nach Aussprechen der Kündigung durch den Arbeitgeber. Sie habe dies unterlassen und die Vorwürfe und die Kündigung akzeptiert.
2.1 Der Versicherte ist in der Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er durch eigenes Verschulden arbeitslos ist (Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG). Die Dauer der Einstellung bemisst sich nach dem Grad des Verschuldens und beträgt je Einstellungsgrund höchstens 60 Tage (Art. 30 Abs. 3 AVIG). Die Arbeitslosigkeit gilt insbesondere dann als selbstverschuldet, wenn der Versicherte durch sein Verhalten, insbesondere wegen Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten, dem Arbeitgeber Anlass zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeben hat (Art. 44 Abs. 1 lit. a AVIV).
2.2 Zweck der Einstellung als versicherungsrechtliche Sanktion ist die angemessene Mitbeteiligung der versicherten Person am Schaden, den sie durch ihr pflichtwidriges Verhalten der Arbeitslosenversicherung natürlich und adäquat kausal verursacht hat. Ein Selbstverschulden im Sinne der Arbeitslosenversicherung ist gegeben, wenn und soweit der Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht auf objektive Faktoren zurückzuführen ist, sondern in einem nach den persönlichen Umständen und Verhältnissen vermeidbaren Verhalten des Versicherten liegt, für das die Arbeitslosenversicherung die Haftung nicht übernimmt.
Dieses Verhalten muss beweismässig klar feststehen und gemäss Art. 20 lit. b des Übereinkommens Nr. 168 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Beschäftigungsforderung und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit vorsätzlich erfolgt sein, ansonsten eine Einstellung ausser Betracht fällt. Dabei reicht es aus, dass das allgemeine Verhalten am Arbeitsplatz aus sachlich gerechtfertigten Gründen vom Arbeitgeber missbilligt wurde und der Arbeitnehmer trotz Wissen um diese Missbilligung sein Verhalten nicht geändert hat, womit er dem Arbeitgeber Anlass zur Kündigung gab bzw. eine solche in Kauf nahm. Ausschlaggebend ist, ob der Versicherte wissen konnte und musste, dass er durch sein Handeln womöglich eine Kündigung bewirkt.
2.3 Mit der Beschwerdeführerin führte ihr Vorgesetzter C. mehrere Gespräche: Am 13. November 2017 wurden unter anderem die Reinigung und die nur teilweise Umsetzung des angeordneten Massnahmenplans bemängelt. Am 19. April 2018 wurde die Beschwerdeführerin verwarnt, da sie unter anderem Weisungen/Gesetze missachtet habe, indem sie Fleischkäsebrät mit «zu verbrauchen bis 14. April 2018» am 17. April 2018 noch für den Grillverkauf ausgebacken habe, und ihr wurde mitgeteilt, sollte dies nochmals vorkommen, werde das Arbeitsverhältnis aufgelöst.
Betreffend allfälliger nicht gerechtfertigter Vorwürfe hätte sie spätestens nach der ersten Verwarnung aktiv werden müssen. So hätte sie entweder die Gesprächsnotiz nicht unterschreiben, jedoch stattdessen den Vermerk, dass sie mit der Beurteilung ihres Vorgesetzten nicht einverstanden sei, verlangen sollen oder aber sie hätte sich an die nächsthöhere Vorgesetztenstelle oder die Personalabteilung wenden sollen.
Selbst wenn die Darstellung der Beschwerdeführerin nachvollziehbar erscheint, hat sie dafür keine objektiven Anhaltspunkte geliefert: So liegen keine Dokumente im Recht, aus denen ersichtlich wäre, dass sich die Beschwerdeführerin gegen die Vorwürfe gewehrt hätte oder sich Hilfe bei der Teamführung oder bei Vorgesetzten geholt hätte. Auch hat sie beispielsweise nicht um Versetzung in eine andere Filiale ersucht.
Demgegenüber ist für das Gericht die Sachverhaltsdarstellung der Arbeitgeberin durch die Gesprächsprotokolle objektiv belegt, dass die Beschwerdeführerin die Kündigung hätte vermeiden können. Somit hat die Beschwerdeführerin die Kündigung letztlich in Kauf genommen und die Arbeitslosigkeit selbst verschuldet.
2.4 Die Beschwerde ist folglich abzuweisen.
Kantonsgericht Appenzell Innerhoden, Urteil V 6-2020 vom 3.11.2020
Strafprozessrecht
Hauptzeugin: Gericht darf auf Befragung nicht verzichten
Laut Bundesgericht müssen Geschädigte trotz Vorliegen von Videoaufnahmen von staatsanwaltschaftlichen Einvernahmen nochmals vom Gericht befragt werden, wenn ihre Aussagen den Ausgang des Verfahren beeinflussen können.
Sachverhalt:
Das Zürcher Obergericht hat einen Mann, der erstinstanzlich vom Vorwurf der Förderung der Prostitution freigesprochen worden war, im schriftlichen Verfahren wegen genau dieser Tathandlung verurteilt. Hauptbeweismittel war eine Zeugin, die noch nie vor Gericht befragt worden war. Dieses prozessuale Vorgehen hielt vor Bundesgericht nicht stand.
Aus den Erwägungen:
1.2.1 Die Ermittlung des wahren Sachverhalts ist von zentraler Bedeutung. Insofern ist es mit Blick auf das Ziel der Erforschung der materiellen Wahrheit erforderlich, dass die Gerichte eine aktive Rolle bei der Beweisführung einnehmen. Nur wenn die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht genügen, dürfen sie einen Sachverhalt als erwiesen (oder nicht erwiesen) ansehen und in freier Beweiswürdigung darauf eine Rechtsentscheidung gründen. Da es den Strafbehörden obliegt, die Beweise rechtskonform zu erheben, sind die notwendigen Ergänzungen von Amtes wegen vorzunehmen.
1.2.2 Das Rechtsmittelverfahren setzt das Strafverfahren fort und knüpft an die bereits erfolgten Verfahrenshandlungen, namentlich die bereits durchgeführten Beweiserhebungen, an. Gemäss Art. 389 Abs. 1 StPO beruht es auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind (BGE 143 IV 288, E. 1.4.1, S. 290, 408, E. 6.2.1, S. 414). Beweisabnahmen des erstinstanzlichen Gerichts sind im Rechtsmittelverfahren zu wiederholen, wenn Beweisvorschriften verletzt worden sind, die Beweiserhebungen unvollständig waren oder die Akten über die Beweiserhebungen unzuverlässig erscheinen.
Sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint, erhebt das Berufungsgericht zudem auch im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobene Beweise noch einmal. Eine unmittelbare Abnahme eines Beweismittels ist notwendig im Sinne von Art. 343 Abs. 3 StPO, wenn sie den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Kraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den unmittelbaren Eindruck der Aussage der einzuvernehmenden Person ankommt, so wenn die Aussage das einzige direkte Beweismittel (Aussage gegen Aussage) darstellt. Allein der Inhalt der Aussage einer Person (was sie sagt), lässt eine erneute Beweisabnahme nicht notwendig erscheinen. Massgebend ist, ob das Urteil entscheidend von deren Aussageverhalten (wie sie es sagt) abhängt.
1.2.3 Der kontradiktorische Charakter des mündlichen Berufungsverfahrens sieht die Anwesenheit der Parteien vor, auf die nur in einfach gelagerten Fällen verzichtet werden kann, namentlich wenn der Sachverhalt unbestritten und nicht angefochten und deshalb eine Einvernahme (auch hinsichtlich der Zivilforderung) nicht erforderlich ist.
Sobald eine Sachverhaltsfrage zu beurteilen ist, muss grundsätzlich eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden. Will das Berufungsgericht die erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen verwerfen und die beschuldigte Person in Abänderung des angefochtenen Urteils schuldig sprechen, kann es den Sachverhalt nicht lediglich auf Grundlage der Akten feststellen, sondern hat die betroffene Person zu einer mündlichen Berufungsverhandlung vorzuladen, sodass sich diese zu den Vorwürfen persönlich äussern und diejenigen Umstände vorbringen kann, die der Klärung des Sachverhalts und ihrer Verteidigung dienen können.
1.3 Der Beschwerdeführer hat den angeklagten Sachverhalt stets bestritten und ist im erstinstanzlichen Verfahren vom Vorwurf der Förderung der Prostitution freigesprochen worden. Das erstinstanzliche Gericht erwog, die Aussagen des Beschwerdeführers und seiner angeblichen Mittäterin C., die den Vorwurf ebenfalls bestritten habe, seien zwar wenig glaubhaft, daraus könne aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass der Beschwerdeführer massgeblich an der Förderung der Prostitution mitgewirkt habe.
Anders als die erste Instanz kommt die Vorinstanz nach Würdigung der bei den Akten liegenden Beweise im Rahmen des schriftlichen Berufungsverfahrens zum Schluss, dass der Anklagesachverhalt betreffend Förderung der Prostitution erstellt sei.
1.4 Wie der Beschwerdeführer zutreffend vorbringt, ergibt sich aus den vorinstanzlichen Erwägungen, dass die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 zu seiner Rolle als Drahtzieher im Hintergrund und damit zu der rechtlich relevanten Frage der Mittäterschaft bei der angeklagten Förderung der Prostitution das ausschlaggebende Beweismittel sind.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der nicht unerheblichen Schwere der Tatvorwürfe erscheint ein Verzicht auf eine Einvernahme sowohl der Beschwerdegegnerin 2 als auch des Beschwerdeführers als unzulässig. Eine sachgerechte und angemessene Beurteilung der Angelegenheit hätte vorliegend nach einer einlässlichen Befragung der beiden vorgenannten Personen verlangt. Dies gilt umso mehr, als dass bereits das erstinstanzliche Gericht auf die Durchführung einer Einvernahme der Beschwerdegegnerin 2 verzichtet hat und diese damit bis anhin noch von keinem Gericht persönlich einvernommen wurde. Die Befragung der Beschwerdegegnerin 2 und des Beschwerdeführers hätte es der Vorinstanz ermöglicht, einen persönlichen Eindruck von deren Aussageverhalten zu gewinnen, sie mit allfälligen Widersprüchen zu konfrontieren und Unklarheiten zu klären.
2. Die Beschwerde ist gutzuheissen und das vorinstanzliche Urteil aufzuheben. Die Sache ist zur Durchführung des mündlichen Berufungsverfahrens, zur Erhebung der notwendigen Beweise und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Bundesgericht, Urteil 6B_1087/2019 vom 17.2.2021
Kommentar:
In der vorliegenden Ausgangssituation mag entsprechend der Beurteilung des Bundesgerichts eine erneute Befragung der Geschädigten notwendig sein, da es «in besonderem Masse auf den unmittelbaren Eindruck der Aussage der einzuvernehmenden Person ankommt». Es komme in solchen Fällen nicht primär darauf an, «was sie sagt», sondern «wie sie es sagt».
In den weit häufigeren Fällen verfügt das Gericht jedoch über umfassende, teils auf Video festgehaltene Aussagen der Opfer. Und es geht nicht um den unklaren Tatbeitrag eines nur im Hintergrund agierenden Drahtziehers, sondern (auch) um seine direkten Handlungen gegenüber dem Opfer. In solchen Fällen ist auch im Lichte des neuen Entscheides eine unmittelbare Beweisabnahme durch Befragung des Opfers meist nicht notwendig.
Die Frage der Notwendigkeit (und damit Verhältnismässigkeit) ist bei Opferbefragungen besonders sorgfältig zu prüfen. Diese Befragungen greifen unmittelbar in die Persönlichkeitsrechte der Geschädigten ein und stellen eine enorme Belastung dar. Sie führen oft zu einer erheblichen Retraumatisierung des Opfers. Häufig können zudem von erneuten Befragungen keine neuen Erkenntnisse erwartet werden. Dies erst recht nicht, wenn die Taten lange zurückliegen, womit Erinnerungsprobleme auftreten und Verdrängungsmechanismen wirken können.
Geht es um Opferbefragung, ist damit die Verhältnismässigkeit einer Befragung im Einzelfall nach Sichtung der Akten und des Videomaterials unter Würdigung der Persönlichkeitsrechte des Opfers sorgfältig zu prüfen. Ergibt diese Prüfung, dass eine erneute Befragung für die Beurteilung der Straftaten nicht notwendig («unabdingbar») oder (z.B. wegen Zeitablaufs) nicht geeignet ist, so erweist sie sich als unverhältnismässig und stellt einen unzulässigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Opfers und damit eine Verletzung von Art. 152 StPO dar. Dass sich das Gericht mittels Opferbefragung einen persönlichen Eindruck vom Aussageverhalten der Geschädigten verschaffen muss, muss damit auch bei «Vier-Augen-Delikten» und gemäss neuester Rechtsprechung die Ausnahme bilden.
Das Bundesgericht hat sich nicht ausdrücklich mit der Frage der Notwendigkeit der Opferbefragung unter dem Aspekt des Opferschutzes auseinandergesetzt. Das mag daran liegen, dass sich das Opfer nicht am bundesgerichtlichen Verfahren beteiligt hat.
Carola Gruenberg, Claudia Schaumann, Rechtsanwältinnen, Zürich
Urteil gilt nur nach Unterschrift als zugestellt
Der Beschwerdeführer rügt vor Bundesgericht, er habe das Berufungsurteil der Vorinstanz nicht erhalten. Diese argumentiert, mit dem «Track & Trace»-Auszug sei ersichtlich, dass das eingeschriebene Urteil erfolgreich zugestellt worden sei. Laut Bundesgericht genügt dies als Nachweis für eine erfolgte Zustellung jedoch nicht.
Sachverhalt:
Das Obergericht Aargau verurteilte einen in Frankreich lebenden Autofahrer im schriftlichen Berufungsverfahren wegen Überschreitung der zulässigen Parkzeit zu einer Busse von 40 Franken. Beim Erhalt der Rechnung kritisierte dieser sowohl beim Bezirksgericht als auch dem Obergericht Aargau, er habe das Urteil gar nicht erhalten. Das Obergericht antwortete mit einem formlosen Schreiben: Zwar sei der «rote Rückschein» nicht retourniert worden und ein Suchauftrag der Post erfolglos geblieben, jedoch ergebe sich aus dem «Track & Trace»-Auszug, dass das eingeschriebene Urteil verschickt und nach zwei vergeblichen Zustellversuchen erfolgreich habe zugestellt werden können. Der Franzose erhebt gegen das Schreiben des Obergerichts ohne anwaltliche Vertretung Beschwerde vor Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
4.1 Die Formen der Zustellung im Strafverfahren sind in Art. 85 StPO geregelt. Danach bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei. Sie ist erfolgt, wenn die Sendung vom Adressaten oder einer angestellten oder im gleichen Haushalt lebenden, mindestens 16 Jahre alten Person entgegengenommen wurde. Die gesetzlichen Zustellungsformen tragen dem Umstand Rechnung, dass Verfügungen oder Entscheide, die der betroffenen Person nicht eröffnet worden sind, grundsätzlich keine Rechtswirkungen entfalten. Der Beweis ordnungsgemässer Zustellung bzw. Eröffnung sowie deren Datums obliegt der Behörde, die daraus rechtliche Konsequenzen ableiten will. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist eine Zustellung ungeachtet der Verletzung von Art. 85 Abs. 2 StPO grundsätzlich auch dann gültig erfolgt, wenn die Kenntnisnahme des Empfängers auf andere Weise bewiesen werden kann und die zu schützenden Interessen des Empfängers (Informationsrecht) gewahrt werden.
4.2 Die Vorinstanz durfte dem in Frankreich lebenden Beschwerdeführer das Berufungsurteil gestützt auf Art. 16 Abs. 2 des zweiten Zusatzprotokolls zum Rechtshilfeübereinkommen per Einschreiben mit Rückschein direkt an dessen Wohnadresse schicken. Gemäss «Track & Trace»-Auszug erfolgte die Zustellung an den Beschwerdeführer am 4. November 2020, jedoch genügt die blosse Erfassung einer eingeschriebenen Sendung im «Track & Trace»-Auszug als «zugestellt» entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht der in Art. 85 Abs. 2 StPO vorgesehenen qualifizierten Zustellungsform. Zudem hat die auf Nachfrage des Bundesgerichts durch die Vorinstanz vorgenommene Abklärung ergeben, dass die Sendung an den Beschwerdeführer von der Post nicht lokalisiert werden konnte und als verloren gilt. Dass der Beschwerdeführer tatsächlich Kenntnis vom Berufungsurteil erlangt hat, lässt sich mangels Empfangsbestätigung nicht nachweisen.
Soweit die Vorinstanz unter Hinweis auf BGE 142 IV 201 (E. 2.3) aus dem «Track & Trace»-Auszug eine (vom Beschwerdeführer zu widerlegende) Zustellfiktion ableiten will, verkennt sie, dass es vorliegend gerade nicht um eine fehlgeschlagene Zustellung und eine dadurch ausgelöste Zustellfiktion, sondern um den Nachweis für eine erfolgte Zustellung geht, für die sie beweispflichtig ist. Mithin kann vorliegend nicht von einer rechtswirksamen Zustellung und Eröffnung des Urteils im Sinne von Art. 85 Abs. 2 StPO ausgegangen werden. Indem die Vorinstanz den blossen «Track & Trace»-Auszug der Post als Nachweis der Zustellung genügen lässt und daraus die Rechtskraft des Berufungsurteils ableitet, verletzt sie Bundesrecht.
5. Die Vorinstanz wird angewiesen, dem Beschwerdeführer das Urteil zu eröffnen.
Bundesgericht, Urteil 6B_271/2021 vom 12.5.2021