Zivilprozessrecht
Massnahmen: Kostenverteilung im Hauptprozess
Art. 104 Abs. 3 ZPO bestimmt, dass über die Prozesskosten vorsorglicher Massnahmen zusammen mit der Hauptsache entschieden werden kann. Diese Bestimmung ist auf Fälle zugeschnitten, in denen im Rahmen eines hängigen Hauptprozesses vorsorgliche Massnahmen angeordnet werden.
Sachverhalt:
Die Beschwerdegegner beantragten vor erster Instanz, den Beschwerdegegnern sei vorsorglich gerichtlich zu untersagen, während der Dauer der Rechtshängigkeit des Hauptverfahrens über die Liegenschaft K. ohne Zustimmung der Beschwerdegegner zu verfügen und die entsprechende Grundbuchsperre sei im Grundbuch anmerken zu lassen.
Die Beschwerdeführer verzichteten auf eine formelle Stellungnahme zum Gesuch, da sie zurzeit weder die Absicht hätten, das Objekt zu veräussern, noch die bestehende Grundpfandbelastung zu erhöhen. Die beantragte vorsorgliche Massnahme störe sie demnach nicht.
Mit dem vorliegend angefochtenen Entscheid bestätigte die Vorinstanz das superprovisorisch angeordnete Verbot sowie die Grundbuchsperre und auferlegte die Prozesskosten des Massnahmeverfahrens den Beschwerdeführern. Die Beschwerdeführer zeigten sich mit dem Kostenentscheid nicht einverstanden.
Aus den Erwägungen:
1. Gemäss Art. 261 Abs. 1 ZPO trifft das Gericht die notwendigen vorsorglichen Massnahmen, wenn die gesuchstellende Partei glaubhaft macht, dass ein ihr zustehender Anspruch verletzt ist oder eine Verletzung zu befürchten ist (Bst. a) und ihr aus der Verletzung ein nicht leicht wieder gutzumachender Nachteil droht (Bst. b). Vorsorgliche Massnahmen können vor oder während der Rechtshängigkeit eines Verfahrens in der Hauptsache verlangt werden (vgl. Art. 263 ZPO). Mit dem Gesuch wird ein eigenständiges summarisches Verfahren in Gang gesetzt (Art. 248 Bst. d ZPO).
Grundsätzlich sind mit dem Entscheid im Massnahmeverfahren auch die Prozesskosten dieses Verfahrens zu liquidieren (Art. 104 Abs. 1 ZPO). Über die Prozesskosten vorsorglicher Massnahmen kann jedoch auch zusammen mit der Hauptsache entschieden werden (Art. 104 Abs. 3 ZPO). Mit der «Kann»-Bestimmung verweist das Gesetz auf das richterliche Ermessen. Das Gericht hat in einem solchen Fall seine Entscheidung nach Recht und Billigkeit zu treffen (Art. 4 ZGB).
3. Vorliegend ist demnach zu prüfen, ob die Vorinstanz ihr Ermessen bei der Anwendung von Art. 104 Abs. 3 ZPO korrekt ausgeübt hat. Dies ist zu verneinen: In der Entscheidbegründung fehlt ein Hinweis auf Art. 104 Abs. 3 ZPO gänzlich, obschon diese Bestimmung gerade auf den hier vorliegenden Fall zugeschnitten ist, wo im Rahmen eines hängigen Hauptprozesses eine vorsorgliche Massnahme angeordnet wird (Sterchi, in: Berner Kommentar-ZPO, a.a.O., N. 10 zu Art. 104 ZPO). Die Vorinstanz hat das Massnahmeverfahren in Bezug auf die Kostenliquidation nach dem gleichen Schema behandelt wie jeden anderen Zivilprozess. Dies geht nicht an.
Es liegen besondere Umstände vor, welche es geboten hätten, die Anwendung von Art. 104 Abs. 3 ZPO in Betracht zu ziehen. Indem sich die Vorinstanz mit der Anwendbarkeit von Art. 104 Abs. 3 ZPO mit keinem Wort auseinandersetzte, unterschritt sie ihr Ermessen, was eine rechtsfehlerhafte Ermessensausübung darstellt (Sterchi, in: Berner Kommentar- ZPO, a.a.O., N. 8 zu Art. 310 ZPO; Reetz/Theiler, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], Kommentar-ZPO, a.a.O., N. 35 zu Art. 310 ZPO; Stauber, a.a.O., N. 9 zu Art. 310 ZPO; Merkli/Aeschlimann/Herzog, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, 1997, N. 21 zu Art. 66 VRPG). Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde.
5. Gemäss Sterchi ist es regelmässig angebracht, die Kosten des Massnahmeverfahrens erst zusammen mit dem Endentscheid in der Hauptsache zu liquidieren, wenn – wie vorliegend – vorsorgliche Massnahmen im Rahmen des hängigen Hauptprozesses angeordnet werden (Sterchi, in: Berner Kommentar-ZPO, a.a.O., N. 10 zu Art. 104 ZPO; vgl. auch Viktor Rüegg, in: Spühler/Tenchio/Infanger [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 6 zu Art. 104 ZPO; David Jenni, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/ Leuenberger [Hrsg.], Kommentar-ZPO, a.a.O., N. 9 zu Art. 104 ZPO, welche sich gleichermassen für die Verteilung der Prozesskosten vorsorglicher Massnahmen in der Regel mit dem Endentscheid in der Hauptsache aussprechen).
Dieser Auffassung ist beizupflichten. Wird eine vorsorgliche Massnahme zum Schutz eines – wie sich schliesslich herausstellt – nicht bestehenden Anspruchs angeordnet, wäre es unbillig, die Partei, die letztlich im Recht war, mit Kosten für eine vorsorgliche Massnahme zu belasten, welche in einem Verfahren mit beschränkten Beweismitteln (Art. 254 ZPO) und beschränktem Beweismass (Art. 261 ZPO) angeordnet wurde.
Im vorliegenden Fall kommt zusätzlich hinzu, dass sich die Beschwerdeführer dem nur rudimentär, namentlich ohne Geltendmachung einer konkret drohenden Gefahr einer Veräusserung des streitigen Grundstücks, begründeten Gesuch offensichtlich nur deshalb nicht widersetzten, weil sie mangels Verkaufsabsichten davon nicht betroffen waren (vgl. Ziff. 1 der Stellungnahme vom 18. Dezember 2014, und nicht, weil sie der Argumentation der Beschwerdegegner nichts hätten entgegensetzen können. Sie verhielten sich im Sinne der Prozessökonomie vernünftig. Es wäre unbillig und würde der unnötigen Ausweitung von Prozessen Vorschub leisten, wenn jemand für ein solches Verhalten mit Kostenfolgen «bestraft» würde, obschon das Prozessrecht eine andere Lösung ermöglicht (Art. 104 Abs. 3 ZPO).
6. Bei Ermessensausübung nach den Grundsätzen von Art. 4 ZGB sind in einem Fall wie dem vorliegenden die Kosten des Massnahmeverfahrens deshalb erst zusammen mit der Hauptsache und nicht schon im Massnahmeentscheid zu liquidieren. Die angefochtenen Ziff. 3 und 4 des vorinstanzlichen Entscheids vom 6. Januar 2015 sind somit aufzuheben und die Vorinstanz wird angewiesen, über die Kosten des Massnahmeverfahrens CIV 14 7923 erst mit dem Entscheid in der Hauptsache CIV 14 921 zu entscheiden.
Entscheid ZK 15 147 des Obergerichts des Kantons Bern vom 19.5.2015
Strafprozessrecht
Keine U-Haft, wenn nur bedingte Strafe zu erwarten ist
Steht mit praktischer Sicherheit fest, dass das erstinstanzliche Gericht auf eine bedingte Freiheitsstrafe erkennen wird, muss dieser Umstand bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der Untersuchungshaft berücksichtigt werden. Die Haft ist dann zur Sicherung des Strafvollzugs nicht mehr notwendig.
Sachverhalt:
Die Kammer verneinte das Bestehen einer Fluchtgefahr u.a. mit der Begründung, dass der Beschuldigte angesichts der zu erwartenden bedingten Freiheitsstrafe (Staatsanwaltschaft beantragte eine bedingte Freiheitsstrafe von neun Monaten) lediglich einen äusserst geringen Fluchtanreiz habe.
Aus den Erwägungen:
5.7 Selbst wenn von einer Fluchtgefahr ausgegangen würde, würde sich die Fortdauer der Haft als unverhältnismässig erweisen. Wie bereits erwähnt, ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit eines bedingten Vollzugs bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit in der Regel zwar nicht zu berücksichtigen. Dies gilt jedoch nicht absolut, sondern namentlich für Fälle, in denen keine verlässliche Prognose über die Höhe der Strafe und der Strafart möglich ist bzw. eine diesbezügliche Prognose spekulativ wäre (vgl. etwa die Urteile des Bundesgerichts 1B_375/2014 vom 15. Dezember 2014 E. 2.2 und 1B_6/2007 vom 20. Februar 2007 E. 2.5).
Demgegenüber hat das Bundesgericht im Urteil 1B_20/2012 vom 1. Februar 2012 etwa berücksichtigt, dass die zu erwartende bedingte Freiheitsstrafe durch die Fortdauer der Sicherheitshaft faktisch in eine unbedingte umgewandelt werde, was unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit kaum zu rechtfertigen wäre.
Vorliegend steht – wie [...] hiervor dargelegt – mit praktischer Sicherheit fest, dass das erstinstanzliche Gericht auf eine bedingte Freiheitsstrafe erkennen wird. Dieser Umstand darf und muss nach dem Gesagten auch im Rahmen der Verhältnismässigkeit berücksichtigt werden. Die theoretische Möglichkeit, dass das urteilende Gericht eine unbedingte Freiheitsstrafe aussprechen könnte, reicht in einer solchen Konstellation zur Aufrechterhaltung der Haft nicht aus. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass es den Strafbehörden obliegt darzulegen, dass und weshalb die Fortdauer der Haft nötig und gerechtfertigt ist.
Beantragt die Staatsanwaltschaft beim erstinstanzlichen Gericht jedoch eine bedingte Freiheitsstrafe und bringt damit zum Ausdruck, dass ihrer Ansicht nach (vorerst) keine Strafe zu vollziehen sein wird, wirkt es widersprüchlich, wenn sie gleichzeitig im Haftprüfungsverfahren geltend macht, die Haft sei zur Sicherung der Strafvollstreckung notwendig.
An diesen Ausführungen vermag auch der Verweis der Staatsanwaltschaft auf das Urteil des Bundesgerichts 1B_375/2014 vom 15. Dezember 2014 nichts zu ändern. In diesem Fall hatte die Staatsanwaltschaft weder bereits einen Antrag zur Höhe der Strafe und zur Strafart gestellt, noch hatte sie auf eine Teilnahme an der Hauptverhandlung verzichtet. Das Bundesgericht kam deshalb und unter Berücksichtigung der insgesamt schwer wiegenden Tatvorwürfe – Vergewaltigung, sexuelle Nötigung, mehrfacher Versicherungsbetrug mit einem erheblichen Deliktsbetrag sowie ein Einbruchdiebstahl – zum Schluss, dass nicht als sicher angenommen werden könne, dass der Einzelrichter auf eine bedingte Strafe erkennen werde (E. 2.2).
Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft hingegen selbst eine bedingte Freiheitsstrafe beantragt und auf eine Teilnahme an der Hauptverhandlung verzichtet. Die Tatvorwürfe wiegen wesentlich geringer als im vom Bundesgericht beurteilten Fall. Die beiden Fälle sind nicht vergleichbar.
Diesen Ausführungen folgend erweist sich die Fortführung der Haft zur Sicherung der Strafvollstreckung als nicht (mehr) notwendig.
Beschluss BK 15 95 des Obergerichts des Kantons Bern vom 2.4.2015
Durchsuchung ohne Befehl: Nicht verwertbar
Laut Bundesgericht ist eine beschlagnahmte Hanfplantage als Beweismittel nicht verwertbar, wenn die Beschlagnahme ohne Hausdurchsuchungsbefehl erfolgte. Das Gleiche gilt für die Verwertbarkeit eines Geständnisses.
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl wirft dem Beschuldigten vor, in seiner Wohnung in Zürich rund zwei Kilogramm Marihuana aufbewahrt sowie dort Anstalten zum Anbau von Marihuana getroffen zu haben. Ferner wird ihm zur Last gelegt, er habe an seinem Wohnort auch mehrmals pro Woche Marihuana konsumiert.
Erwägungen:
3. Näher zu prüfen ist, ob die anlässlich der Hausdurchsuchung vom 10. Juni 2013 erhobenen Beweise, namentlich die sichergestellten Betäubungsmittel und -utensilien, verwertbar sind bzw. einem Beweisverwertungsverbot im Sinne von Art. 141 StPO unterliegen.
4.1 Bei einer Hausdurchsuchung handelt es sich um eine Zwangsmassnahme im Sinne der Strafprozessordnung. Zwangsmassnahmen können nur ergriffen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können und die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt (Art. 197 Abs. 1 StPO). Nachdem die Stadtpolizei Zürich einen Hinweis erhalten hatte, dass im 5. Obergeschoss der Liegenschaft an der Hohlstrasse 192 in Zürich eine Indoor-Hanfanlage in Betrieb sei, waren die Voraussetzungen für eine Hausdurchsuchung im Hinblick auf Straftaten des Beschuldigten gegeben.
4.2 Gemäss Art. 241 Abs. 1 StPO haben Durchsuchungs- und Untersuchungsbefehle – aufgrund ihres Charakters – grundsätzlich schriftlich zu ergehen, wobei vom Grundsatz der Schriftlichkeit in dringenden Fällen abgewichen werden kann. Insbesondere kann vom Schriftlichkeitserfordernis bei Gefahr im Verzug abgewichen werden. Diesfalls ist die Polizei gemäss Art. 241 Abs. 3 StPO befugt, Untersuchungen anzuordnen und Durchsuchungen selbständig vorzunehmen. Über diese Anordnungen bzw. über die Durchführung hat die Polizei die zuständige Strafbehörde unverzüglich zu informieren. Die informierte Strafbehörde – die Staatsanwaltschaft – ist dann in einem zweiten Schritt verpflichtet, den Befehl nachträglich schriftlich zu bestätigen (Gfeller, in: Niggli / Heer / Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 241 N 3 ff.).
Keinem Zweifel unterliegt es, dass vorliegend überhaupt kein schriftlicher Hausdurchsuchungsbefehl Eingang in die Akten gefunden hat, mithin davon ausgegangen werden muss, dass seitens der zuständigen Staatsanwaltschaft weder vorgängig noch nachträglich je ein solcher ausgestellt worden ist. Da gemäss Art. 241 Abs. 2 StPO der Befehl insbesondere die zu durchsuchenden Räumlichkeiten (lit. a), den Zweck der Massnahme (lit. b) sowie die mit der Durchführung beauftragten Behörden oder Personen (lit. c) zu bezeichnen hat, ist das vorgängige bzw. nachträgliche Ausstellen eines solchen durch die zuständige Strafbehörde unerlässlich.
Eine Einwilligung des Beschuldigten konnte nicht vorliegen, da er gemäss Polizeirapport erst ca. zehn Minuten nach Beginn der Hausdurchsuchung an seinem Wohnort eintraf und von der Durchsuchung gar keine Kenntnisse hatte. Überdies hätte eine solche Einwilligung ausdrücklich erfolgen müssen, wobei diesbezüglich ebenfalls nichts in den Akten zu finden ist.
Vor diesem Hintergrund wurden die Räumlichkeiten des Beschuldigten einer Zwangsmassnahme unterzogen, obschon ein für die Durchsuchung notwendiger schriftlicher Hausdurchsuchungsbefehl fehlte und auch nachträglich nicht eingeholt wurde. Demzufolge erfolgte die Durchsuchung unrechtmässig.
4.3 Selbst wenn in Bezug auf die durchgeführte Hausdurchsuchung von einer mündlichen Befehlserteilung seitens der Staatsanwaltschaft bzw. einer Einwilligung des Beschuldigten ausgegangen würde, ist nicht ersichtlich, inwiefern vorliegend von «Gefahr im Verzug» auszugehen war, welche die Polizei zu selbständigem Handeln im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO ermächtigt hätte. Die Polizei kann zwar bei Gefahr im Verzug ohne vorgängigen schriftlichen Befehl von der Staatsanwaltschaft Durchsuchungen durchführen. Die Gefahr muss sich allerdings darauf beziehen, dass im Falle eines Aufschubs der Legalzweck der Durchsuchung bzw. Untersuchung durch Zeitablauf vereitelt würde. Die Norm soll also Beweisverluste verhindern. Gefahr im Verzug liegt zudem nur dann vor, wenn auf die staatsanwaltschaftliche Anordnung nicht gewartet werden kann, «ohne dass der Zweck der Massnahme gefährdet wird» (Gfeller, in: Niggli /Heer /Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Auflage, Basel 2014, Art. 241 N 32 ff.; Keller, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2014, Art. 241 N 22 f.).
Der Umstand, dass nach erfolgtem Augenschein durch die Stadtpolizei Zürich der hinreichende Tatverdacht bestand, dass im 5. Obergeschoss der Liegenschaft an der Hohlstrasse 192 in Zürich eine lndoor-Hanfanlage in Betrieb war, sowie, dass zu diesem Zeitpunkt niemand vor Ort angetroffen werden konnte, vermag keine Dringlichkeit im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO zu begründen. Der Polizei wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, an einem Montagnachmittag, um ca. 15 Uhr, bei der Staatsanwaltschaft einen Hausdurchsuchungsbefehl anzufordern. Diese Möglichkeit bestand insofern, als die Berufung auf Gefahr im Verzug heutzutage aufgrund der Pikettdienste der Staatsanwaltschaften und im Zeitalter von Mobiltelefonen nur noch in absoluten Ausnahmefällen denkbar ist.
Sodann sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich die Polizei dringend veranlasst sah, sofort zu handeln, da der Abbau einer Indoor-Hanf-Anlage eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt und der Beschuldigte zunächst gar nicht vor Ort war. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass bei tatsächlicher Gefahr im Verzug kaum der Schlüssel-Service aufgeboten wird, um sich Zugang zu den entsprechenden Räumlichkeiten zu verschaffen. Vielmehr macht dieses Verhalten der Polizei deutlich, dass eben keine Dringlichkeit im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO bestand, hätte sie doch ansonsten die Tür zur Wohnung des Beschuldigten einfach aufgebrochen.
Unter denselben Umständen, als es der Polizei möglich war, den Schlüssel-Service aufzubieten, wäre es ihr zumutbar gewesen, bei der Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Hausdurchsuchungsbefehl einzuholen. Im Übrigen geht aus den Akten nicht hervor, ob und wann die Polizei die Staatsanwaltschaft über die durchgeführte dringliche Durchsuchung informiert hat. Es fehlt sowohl an einer nachträglichen schriftlichen Bestätigung des Befehls durch die zuständige Behörde als auch an einer – aktenmässig nachvollziehbaren – Begründung, auf welchen Tatsachen die im Polizeirapport vom 3. September 2013 angeführte «Gefahr im Verzug» basierte. Dem Polizeirapport ist lediglich zu entnehmen, dass aufgrund «Gefahr im Verzug» die Hausdurchsuchung vorgenommen wurde. Wie sich diese konkret äusserte, ist hingegen nicht ersichtlich. Eine entsprechende überprüfbare Begründung fehlt gänzlich.
4.4 Insgesamt ist festzuhalten, dass vorliegend keine Gefahr im Verzug im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO angenommen werden kann, zumal nicht erstellt und – angesichts des Zeitpunkts der Durchsuchung – auch nicht wahrscheinlich ist, dass die Staatsanwaltschaft für eine mindestens mündliche Anordnung der Hausdurchsuchung nicht erreichbar war. Vielmehr handelten die Polizisten eigenmächtig. Das selbständige Handeln der Polizei ohne staatsanwaltschaftlichen Befehl war demzufolge regelwidrig. Folglich stellt sich die Frage nach den prozessualen Folgen dieses Verstosses.
5.1 Die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise ist in Art. 141 StPO geregelt. Für Beweise, die durch verbotene Beweiserhebungsmethoden erlangt werden, sieht Art. 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ein absolutes Beweisverwertungsverbot vor. Dasselbe gilt, wenn das Gesetz einen Beweis als unverwertbar bezeichnet (Art. 141 Abs. 1 Satz 2 StPO). Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, dürfen nach Art. 141 Abs. 2 StPO grundsätzlich nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Geregelt ist auch die Fernwirkung dieses Verwertungsverbots. So ist auch ein weiterer Beweis, der durch einen Beweis, der nicht verwertet werden darf, erhoben wird, nicht verwertbar, wenn er ohne die vorhergehende Beweiserhebung nicht möglich gewesen wäre (Art. 141 Abs. 4 StPO). Demgegenüber sind Beweise, bei deren Erhebung Ordnungsvorschriften verletzt worden sind, verwertbar (Art. 141 Abs. 3 StPO).
Bei der Verwertbarkeit von unrechtmässig erhobenen Beweisen ist somit zunächst zu unterscheiden, ob eine Gültigkeitsvorschrift oder eine Ordnungsvorschrift verletzt wurde, was je nachdem zu einem relativen Verwertungsverbot oder zur Verwertbarkeit führt. Diese Abgrenzung geht auf die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichts zurück, wobei die entsprechende Differenzierung einzelfallorientiert zu erfolgen hat. Als Gültigkeitsvorschriften gelten im Wesentlichen jene Regeln, die ausschliesslich oder vorrangig den Schutz des Beschuldigten anstreben. Ordnungsvorschriften sollen demgegenüber in erster Linie der äusseren Ordnung des Verfahrens dienen (Gless, in: Niggli / Heer / Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, Art. 141 N 67 und dort zitierte Rechtsprechung).
5.2 Dass Zwangsmassnahmen nur unter bestimmten Voraussetzungen sowie unter Achtung der entsprechenden Anordnungsmodalitäten angeordnet werden können, dient zweifellos dem Schutz des Beschuldigten. Gemäss Art. 8 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Mit einer Hausdurchsuchung wird in dieses Recht des Schutzes der Privatsphäre eingegriffen. Vorliegend holte die Polizei weder vorgängig noch nachträglich einen Hausdurchsuchungsbefehl bei der Staatsanwaltschaft ein, und der Beschuldigte willigte nicht in die Durchsuchung ein. Des Weiteren ist aus den Akten nicht ersichtlich, ob und wann die Polizei die Staatsanwaltschaft über die durchgeführte dringliche Durchsuchung informierte.
Sodann bestand – wie oben dargelegt – gar keine Dringlichkeit im Sinne von Art. 241 Abs. 3 StPO, die es der Polizei ohne vorgängigen Befehl erlaubt hätte, die Hausdurchsuchung vorzunehmen. Damit ist klar dargetan, dass die Polizei durch ihr eigenmächtiges Handeln in mehrfacher Hinsicht gegen Verfahrensvorschriften verstiess, denen für die Wahrung der zu schützenden Interessen des Beschuldigten gesamthaft betrachtet eine erhebliche Bedeutung zukam. Durch die unrechtmässige Durchsuchung der Räumlichkeiten des Beschuldigten wurden somit die Privatsphäre seiner Wohnung missachtet und damit GüItigkeitsvorschriften verletzt, sodass Art. 141 Abs. 2 StPO zur Anwendung kommt.
5.3 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweismittel verfassungsrechtlich nicht in jedem Fall ausgeschlossen, sondern lediglich dem Grundsatz nach (BGE 131 I 272 E. 4.1). Ausnahmsweise sind Beweismittel, die in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben wurden, verwertbar, wenn dies zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich ist (Art. 141 Abs. 2 StPO).
Dabei ist folgende Interessensabwägung anzustellen: Je schwerer die zu beurteilende Straftat ist, umso eher überwiegt das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das private Interesse des Beschuldigten daran, dass der fragliche Beweis unverwertet bleibt. Demgegenüber ist das Beweismittel dann nicht verwertbar, wenn bei seiner Beschaffung ein Rechtsgut verletzt wurde, das im konkreten Fall den Vorrang vor dem Interesse an der Durchsetzung des Strafrechts verdient (BGE 131 i 272 E. 4.1.2). Das Bundesgericht hielt in seinem Entscheid 131 I 272 an seiner Rechtsprechung fest, wonach das öffentliche Interesse an der Verwertbarkeit umso eher überwiegt, je schwerer die Straftat ist. Entsprechend durfte aufgrund der Rechtswidrigkeit der Beweisbeschaffung die Verwertbarkeit zur Verfolgung einer geringfügigen Straftat zu verneinen sein (BGE 131 I 272 E. 4.5, E. 4.6 und dortige Verweise).
5.4 Vorliegend ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des Strafrechts Vorrang hat vor dem Schutz des Beschuldigten in seiner Privatsphäre. Der Besitz von rund zwei Kilogramm Marihuana, das Anstaltentreffen zum Anbau von Betäubungsmitteln sowie der mehrfache Konsum von Marihuana kann nicht als schwere Straftat bezeichnet werden, was sich auch in der von der Staatsanwaltschaft beantragten Gesamtstrafe – unter Einbezug der mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 7. Januar 2011 ausgefällten Geldstrafe von 180 Tagessätzen – von nunmehr 270 Tagessätzen und Busse widerspiegelt.
Eine Abwägung ergibt klar, dass das private Interesse des Beschuldigten an der Achtung seiner Privatsphäre gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Verwertbarkeit der unrechtmässig erlangten Beweismittel überwiegt. Dabei ist entscheidend, dass die Räumlichkeiten des Beschuldigten einer Zwangsmassnahme unterzogen wurden, obschon ein für die Durchsuchung notwendiger schriftlicher Hausdurchsuchungsbefehl fehlte und auch nachträglich nicht eingeholt wurde, mithin die Durchsuchung unrechtmässig erfolgte. Damit unterliegen die sichergestellten Beweismittel einem Verwertungsverbot im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO. Dies umso mehr, als nach herrschender Lehre die bei Durchführung von Zwangsmassnahmen in Verletzung der Anordnungsmodalitäten gefundenen Beweismittel nicht verwertbar sind.
Ferner führt auch die Annahme der Gefahr im Verzug, die sich nachträglich als falsch herausstellt, zur Unverwertbarkeit eines gefundenen Beweismittels, wenn die Annahme der Dringlichkeit keiner rationalen Begründung zugänglich ist, was vorliegend aufgrund der vorstehenden Ausführungen ohne Weiteres zu bejahen ist (Gfeller, in: Niggli / Heer / Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl., Basel 2014, An. 241 N 4, N 41 und dortige Verweise). Ebenfalls einem Verwertungsverbot unterliegt das vom Beschuldigten in der Folge abgelegte Geständnis, da dieses nur deshalb zustande kam, weil der Beschuldigte mit den in seiner Wohnung gefundenen Gegenständen konfrontiert wurde.
6. Ohne verwertbare Beweismittel kann dem Beschuldigten der Besitz bzw. das Anstaltentreffen zum Anbau von Marihuana sowie dessen Konsum nicht nachgewiesen werden, weshalb er nicht schuldig und von der Anklage der Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz vollumfänglich freizusprechen ist.
Urteil GG 140212-L/U des Bezirksgerichts Zürich vom 18.3.2015
Schutzmassnahmen: Bedürfnisse genügen nicht
Zur Anordnung von Schutzmassnahmen genügen allein operative Bedürfnisse der Polizei nicht. Die im Rahmen von Anonymitätszusicherung für verdeckte Ermittler ergangene Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts gelten für alle Schutzmassnahmen.
Sachverhalt:
Gegen Mitarbeiter der Kantonspolizei Bern wird wegen Amtsmissbrauchs und einfacher Körperverletzung ermittelt. Auf Antrag der Kantonspolizei gewährte die Staatsanwaltschaft gestützt auf Art. 149 Abs. 1 und Abs. 2 lit. c StPO den Mitarbeitern des Dezernats «Enzian» im Rahmen des laufenden Verfahrens Schutzmassnahmen, indem deren Personalien lediglich unter Ausschluss der Parteien festgestellt wurden und weder in den Protokollen noch in den Verfahrensakten erschienen.
Des Weiteren wurde angeordnet, dass der Privatkläger bei den Beweisaufnahmen beziehungsweise bei Einvernahmen mit den beteiligten Mitarbeitern des Dezernats auf ausdrückliches, rechtzeitig im Voraus anzukündendes Ersuchen um Teilnahme zugelassen und dass der amtliche Anwalt des Privatklägers zur Ausübung des direkten Fragerechts ohne Weiteres zugelassen werde.
Aus den Erwägungen:
4.3 Der Beschwerdeführer demgegenüber schliesst auf Genehmigungsbedürftigkeit der gewährten Schutzmassnahmen. Mit der – auch gegenüber ihm geltenden – Geheimhaltung der Personalien werde den Mitarbeitern des Dezernats Enzian praktisch die vollständige Anonymität zugesichert. Das Bundesgericht gehe ebenfalls davon aus, habe es doch festgestellt, dass Sinn und Zweck der Zusicherung von Anonymität die Geheimhaltung der Identität sei.
Ferner könne in der hier interessierenden Konstellation nicht von einer erheblichen Gefahrenlage für die betroffenen Mitarbeiter der Enzian gesprochen werden, welche die angeordnete Schutzmassnahme rechtfertigen würde. Die Kantonspolizei habe nicht aufzeigen können, dass die fraglichen Mitarbeiter einer Gefahr für Leib und Leben oder einem anderen schweren Nachteil ausgesetzt wären. Eine entsprechende Gefahrenlage sei auch nicht aus den Akten erkennbar. Selbst die Kantonspolizei und die Staatsanwaltschaft würden eine vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr verneinen.
Die von ihnen genannten Gründe, welche angeblich die Schutzmassnahme rechtfertigen würden (Gefährdung ihrer Einsätze bei Observationen oder ihrer Sondereinsätze bzw. Gefahr von Vergeltungsmassnahmen), stünden in keinem Zusammenhang mit dem Beschwerdeführer und würden auch nicht näher konkretisiert. Abgesehen davon müssten diese Gründe theoretisch für alle Polizeibeamten gelten, müssten diese doch zur Sicherung der öffentlichen Ordnung ebenfalls gefährliche Einsätze absolvieren.
4.5 Vorab ist festzuhalten, dass die fragliche Schutzmassnahme nicht als Anonymitätszusicherung im Sinn von Art. 149 Abs. 2 lit. a StPO zu verstehen ist. Zwar werden sowohl bei der Anordnung der Schutzmassnahmen gemäss lit. a, als auch bei denjenigen nach lit. c die Personalien nicht bekannt gegeben. Im Gegensatz zur Schutzmassnahme gemäss lit. c, bei welcher effektiv nur die Personalien (insbesondere Name und Vorname, Geburtsdatum, Adresse, Wohn- und Heimatort, Nationalität, Zivilstand, Beruf [Häring, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2014, Art. 143 N 6]) verborgen werden, die fragliche Person aber dennoch – wie hier als beteiligter Enzian-Mitarbeiter – klar zugeordnet werden kann, wird bei der Anonymitätszusicherung gemäss lit. a eine Anonymitätswahrung angestrebt, bei welcher Angaben der fraglichen Person dergestalt verheimlicht werden, dass Rückschlüsse auf deren wahre Identität unmöglich sind.
Da in der Rechtsprechung und Literatur auch bei der Schutzmassnahme gemäss lit. a mehrheitlich von Nicht-Bekanntgabe der Personalien gesprochen wird, erstaunt nicht, dass der Beschwerdeführer die hier interessierende Nicht-Bekanntgabe der Personalien unter Art. 149 Abs. 2 lit. a StPO subsumiert und einer Genehmigungspflicht durch das Zwangsmassnahmengericht unterstellt haben will. Da die Beschuldigten indessen als Enzian-Mitarbeiter bekannt sind und ihre Aussagen ihnen auch zugeordnet werden können, fällt die erweigerte Personalienfreigabe nur unter Art. 149 Abs. 2 lit. c StPO.
4.6 Art. 107 Abs. 1 lit. b StPO sieht vor, dass die Parteien Anspruch haben, ungeschmälert an Verfahrenshandlungen teilnehmen zu können (Wehrenberg, a.a.O., Art. 149 N 23). Gemäss Art. 143 Abs. 1 lit. a StPO sind einzuvernehmende Personen über die Personalien zu befragen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist bei gewährten Schutzmassnahmen möglich. Wie unter E. 4.1. erwähnt dürfen Schutzmassnahmen nach Art. 149 Abs. 1 StPO nur ergriffen werden, wenn für die Person selbst oder eine ihr nahe stehende Person eine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht oder ein anderer schwerer Nachteil droht. Dabei hat die als konkret ernsthaft einzustufende Gefahr vom ebenfalls am Verfahren Beteiligten (soweit hier interessierend: vom Privatkläger) oder dessen Umfeld auszugehen (Wohlers, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2014, Art. 149 N 9; Nils Stohner, Strafprozessuale Zeugenschutzmassnahmen unter geltendem und künftigem Recht [StPO] mit besonderem Fokus auf der Möglichkeit der Anonymitätszusicherung, CCFW-Masterarbeit, S. 13 f., mit Hinweis auf die EGMR-Rechtsprechung). Dies ist vorliegend aber gerade nicht der Fall, ist doch unbestritten, dass für die betroffenen Mitarbeiter der Sondereinheit Enzian keine vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährdung droht. Dass eine solche aus dessen Umfeld droht, wird ebenfalls nicht geltend gemacht und ist auch nicht erkennbar.
Die Staatsanwaltschaft und die Kantonspolizei begründen die Erforderlichkeit der Schutzmassnahme damit, dass durch Bekanntgabe der Identität eine Gefährdung im Hinblick auf künftige Einsätze im Rahmen der Sondereinheit – vor allem bei der Aufklärung schwerer Delikte und in entsprechend gefahrenrelevanten Milieus – erfolge.
Die Beschwerdekammer verkennt nicht, dass seitens der Strafverfolgungsbehörde ein grosses Interesse an der Geheimhaltung der Personalien der fraglichen Mitarbeiter besteht. Dies allein rechtfertigt indessen nicht die Anordnung von Schutzmassnahmen. Zwar trifft zu, dass im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung – je nach in Frage stehender Schutzmassnahme – ein unterschiedlicher Massstab bei der konkreten Güterabwägung der sich gegenüberstehenden Interessen anzuwenden ist. Die Verhältnismässigkeitsprüfung erfolgt indessen erst in einem zweiten Schritt.
Vorab und damit in einem ersten Schritt ist allein die Frage massgebend, ob überhaupt eine Situation, d.h. eine erhebliche Gefahrenlage, vorliegt, in welcher sich die Anordnung von Schutzmassnahmen aufdrängt. Nur nach Bejahung dieser Frage und somit erst in einem zweiten Schritt ist festzulegen, welche Schutzmassnahmen der konkreten Gefahr begegnen und wie allfällige Einschränkungen der Parteirechte kompensiert werden können. Die im Rahmen von Anonymitätszusicherungen für verdeckte Ermittler ergangene Rechtsprechung des EGMR (vgl. etwa Urteil vom 23. April 1997 i.S. Van Mechelen vs. Niederlande Ziff. 61, wonach eine tatsächlich relevante Bedrohungssituation des Polizeibeamten verneint worden ist) sowie des Bundesgerichts (BGE 139 IV 265) bzw. die dort aufgestellten Anforderungen an die Gefahrenlage gelten demzufolge auch für andere Schutzmassnahmen.
Dass vorliegend durch die Nichtbekanntgabe der Personalien kaum Einschränkungen der Parteirechte zu erwarten sind, der Beschwerdeführer mit Blick auf das Konfrontationsrecht insbesondere auch die Aussagen auf deren Glaubhaftigkeit hin prüfen kann, bedeutet somit umgekehrt nicht, dass Schutzmassnahmen mit Gefahren begründet werden können, die nicht vom Beschwerdeführer oder dessen Umfeld ausgehen. Operative Bedürfnisse der Polizei ohne individuell-konkrete Gefahrenlage reichen auch in der hier interessierenden Situation nicht aus, um Schutzmassnahmen im Sinn von Art. 149 StPO anzuo
Grobfahrlässig doppelte Sicherheitslinie überfahren
Eine Unfallversicherung darf die Taggelder um 20 Prozent kürzen, weil ein Lehrer mit seinem Velo in grobfahrlässiger Weise eine doppelte Sicherheitslinie überfahren hat und mit einem Auto kollidiert ist. Der Versicherte hatte argumentiert, die Kürzung sei unzulässig, weil ihm schwarz vor Augen geworden sei und der Unfall auf gesundheitliche Probleme zurückzuführen sei. Dies liess das Bundesgericht nicht gelten. Wer behauptet, zu einem gewissen Zeitpunkt urteilsunfähig gewesen zu sein, hat dafür den Beweis zu erbringen und trägt die Folgen einer Beweislosigkeit. Die blosse Möglichkeit genügt nicht, es bedarf der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.
Bundesgericht 8C_881/2014 vom 12.5.2015
Richter unterliegt in Pensionskassenstreit
Ein bei der Pensionskasse des Bundes Publica versicherter Richter an einem erstinstanzlichen Gericht des Bundes wollte nach Vollendung des 65. Altersjahres eine Einmaleinzahlung von 40 000 Franken tätigen. Die Publica befand, er verfüge über keine Vorsorgelücke mehr, eine Einzahlung sei nicht möglich. Dagegen erhob der Richter Beschwerde. Er werde, vorbehältlich Wiederwahl, mit gut 68 Jahren aus dem Amt scheiden. Nach dem Berner Verwaltungsgericht hat sich auch das Bundesgericht auf die Seite von Publica gestellt. Das Regelwerk sieht klar vor, dass ein Einkauf nur bis zum 65. Altersjahr möglich ist.
Bundesgericht 9C_813/2014 vom 26.5.2015
Urheberrechtsgebühr für betriebsinternes Netzwerk
Die Pro Litteris hat bei einer Anwaltskanzlei Gebühren für die Nutzung des betriebsinternen Netzwerks von Fr. 23.05 in den Jahren 2010 bis 2012 sowie Fr. 25.65 Rappen für 2013 erhoben. Zu Recht, befand das Bundesgericht. Der Anwalt hatte argumentiert, netzwerkgestützte Vervielfältigungen seien in seiner kleinen Kanzlei ausgeschlossen, man benutze nur den Fotokopierer, für den die Gebühr bereits entrichtet werde.
Bundesgericht 4A_203/2015 vom 30.6.2015
Koks-Banknoten müssen zurückgegeben werden
Die Eidgenössische Zollverwaltung darf Banknoten in Höhe von mehreren Zehntausend Franken, die bei Zollkontrollen provisorisch beschlagnahmt wurden und mit Kokain verunreinigt sind, nicht vernichten, wenn die Strafverfolgungsbehörden das Verfahren nicht übernommen haben. Die Vernichtung ist ein schwerer Eingriff in die Eigentumsgarantie und müsste in einem Gesetz formell geregelt sein. Die Bestimmung in einer Zollverordnung reicht nicht aus. Das Geld muss zurückerstattet werden.
Bundesverwaltungsgericht A-5254/2014, A-5255/2014 und A-5258/2014 vom 24.7.2015
Traumatisierung ist bloss Indiz für eine Misshandlung
Bei asylsuchenden Personen gilt eine ärztlich diagnostizierte Traumatisierung zwar als Indiz, ist aber kein Beweis für erlebte Misshandlungen. Ein türkischer Kurde stellte 2009 ein Asylgesuch und machte geltend, er sei während des Militärdiensts schwer misshandelt worden und der Fronteinsatz habe eine psychische Erkrankung verursacht. Das Bundesamt für Migration wies das Asylgesuch wegen Unglaubhaftigkeit der geschilderten Misshandlung ab und ordnete die Wegweisung an. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, der Asylentscheid sei zu Recht nicht in Wiedererwägung gezogen worden.
Bundesverwaltungsgericht D-5781/2012 vom 8.5.2015
Versicherungsschutz im Ausland verloren
Der Besitzer eines Wohnwagens erhält von seiner Versicherung keine Entschädigung für den Diebstahl seines in Italien fest stationierten Wohnwagens. Eine Klausel, wonach der Versicherungsschutz endet, wenn der Standort des Fahrzeugs über längere Zeit ins Ausland verlegt wird, erscheint dem Bundesgericht nicht ungewöhnlich. «Es stellt mithin keinen geschäftsfremden Inhalt dar, wenn Schweizer Motorfahrzeugversicherer den Versicherungsschutz auf Fahrzeuge beschränken, die ihren Standort in der Schweiz haben und zwischen Reisen im Ausland in die Schweiz zurückgeführt werden.»
Bundesgericht 4A_48/2015 vom 29.4.2015
Unzulässige Wohnsitzpflicht für Notar
Die Notariatskommission Graubünden hat einem Notar, der in Chur ein Anwaltsbüro betreibt und im Kanton Schwyz wohnt, zu Unrecht die Patentierung verweigert. Die Wohnsitzpflicht im kantonalen Recht stellt einen unter dem Gesichtswinkel von Art. 36 Abs. 3 BV nicht zu rechtfertigenden Eingriff in seine Niederlassungsfreiheit dar. Der Anwalt hatte in Lausanne unter anderem argumentiert, von seinem Wohnsitz im Kanton Schwyz erreiche er seinen Arbeitsplatz in Chur innerhalb einer Stunde und damit schneller als von einem peripheren Ort im Kanton Graubünden.
Bundesgericht 2C_335/2013 vom 11.5.2015
Niederlage für Bill Gates im Sika-Streit
Die in den Statuten der Sika festgelegte Opting-out-Klausel ist nicht auslegungsbedürftig und der Erwerb der Schenker-Winkler Holding und damit der von dieser gehaltenen Sika-Aktien durch die Saint Gobain löst keine Angebotspflicht an die übrigen Aktionäre aus. Mit dieser Begründung hat das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde von Bill Gates und Mitstreitern gegen einen Finma-Entscheid abgewiesen.
Bundesverwaltungsgericht B-3119/2015 vom 27.8.2015
Nichtigkeit der Einbürgerung
Die absolute Frist für die Nichtigerklärung der Einbürgerung beträgt seit März 2011 acht Jahre seit dem Zeitpunkt des Erwerbs des Schweizer Bürgerrechts; die neu eingeführte relative Frist von zwei Jahren beginnt mit der Kenntnisnahme des rechtserheblichen Sachverhalts durch die zuständige Behörde. Dabei ist für den Beginn der zweijährigen Frist bei einem Ausländer, der kurz vor der Einbürgerung eine Straftat begangen hat, diese aber verheimlicht hat, nicht die Strafanzeige massgeblich, sondern es ist – jedenfalls im konkret beurteilten Fall - auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Strafbefehls durch die zuständige Behörde abzustellen.
Bundesgericht 1C_156/2015 vom 15.6.2015
Anpassung der Strichzone rechtens
Die Einschränkung der Strassenprostitution im Niederdorf durch den Zürcher Stadtrat auf 22 bis 2 Uhr greift nicht unzulässig in die Wirtschaftsfreiheit ein. Sexarbeiterinnen ist wie anderen Gewerbetreibenden zuzumuten, für ihre Arbeit in erster Linie private Räumlichkeiten zu benützen. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Anwerbung von Kunden nur auf der Strasse möglich sein soll; notorisch gibt es dafür auch andere Möglichkeiten wie Inserate oder Internet. Die Behörde darf das Interesse von Anwohnern, Passanten und Gewerbetreibenden höher gewichten als das Interesse der Sexarbeiterinnen, für ihre privatwirtschaftliche Tätigkeit den öffentlichen Raum in Anspruch zu nehmen.
Bundesgericht 2C_106/2015 vom 26.6.2015
Keine fahrlässige Tötung am Fussgängerstreifen
Das Bundesgericht spricht eine Autolenkerin unter Hinweis auf den Grundsatz in dubio pro reo vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Ein dunkel gekleidetes Unfallopfer hatte von einem im Dunkeln liegenden Weg her kommend 0,8 Sekunden vor der Kollision überraschend den Zebrastreifen betreten. Das Opfer starb an den Unfallfolgen. Die Aargauer Justiz warf der Lenkerin vor, zu schnell (40 km/h) auf den Streifen zugefahren zu sein. Das Bundesgericht befand, nicht die Lenkerin habe sich verkehrswidrig verhalten, sondern der Fussgänger sei seinen Pflichten am Fussgängerstreifen nicht nachgekommen.
Bundesgericht 6B_409/2015 vom 1.6.2015
Kostenauflage in Revision aufgehoben
Seltener Fall einer höchstrichterlichen Revision: Das Bundesgericht hatte einer Beschwerdegegnerin in einem Strafverfahren 1000 Franken Gerichtskosten und eine Parteientschädigung in gleicher Höhge auferlegt. Nun haben die Lausanner Richter dies in einem Revisionsverfahren korrigiert, weil die Gesuchstellerin im fraglichen Verfahren gar keinen Antrag gestellt hatte und damit nicht unterliegende Partei im Sinne des BGG war. Sie ist weder kosten- noch entschädigungspflichtig.
Bundesgericht 6F_19/2015 vom 17.8.2015
Kriterien zur Alleinzuteilung der elterlichen Sorge
Erstmals konkretisiert das Bundesgericht den Massstab für eine Alleinzuteilung im neuen, am 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Sorgerecht. Danach gilt: Ein schwerwiegender Dauerkonflikt oder eine anhaltende Kommunikationsunfähigkeit zwischen den Eltern können die alleinige Zuteilung des Sorgerechts an einen Elternteil rechtfertigen, wenn sich der Mangel negativ auf das Kindswohl auswirkt und eine Alleinzuteilung eine Verbesserung erwarten lässt.
Bundesgericht 5A_923/2014 vom 27.8.2015
Zu umfangreiche Anklageschrift
Das Bundesstrafgericht hat eine Anklageschrift der Bundesanwaltschaft zur Verbesserung zurückgewiesen. Die 674 Seiten und 4390 Fussnoten sind laut Gericht nicht handhabbar, zumal es der Schrift an Struktur mangelt. Unerlässlich wären die Unterteilung nach Namen des jeweils betroffenen Beschuldigten und eine klare Ausscheidung der Vorwürfe gegen die beiden Beschuldigten.
Bundesstrafgericht SK 2015.37 vom 24.8.2015
65-jährige Richterin war zu alt
Das Bundesgericht hat ein Urteil der Genfer «Chambre pénale d’appel et de révision de la Cour de justice» in einem Tötungsdelikt aufgehoben. Der Grund: Eine Richterin der Kammer hatte im Zeitpunkt des Urteils das 65. Altersjahr überschritten. Das Genfer Gerichtsorganisationsgesetz sieht aber vor, dass Richter mit 65 Jahren in Pension gehen müssen. Das Bundesgericht verweist in seinem Entscheid auf Art. 30 der Bundesverfassung und auf Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Anspruch auf ein korrekt zusammengesetztes Gericht geben.
Bundesgericht 6B_226/2015 vom 30.6.2015
Grobfahrlässig doppelte Sicherheitslinie überfahren
Eine Unfallversicherung darf die Taggelder um 20 Prozent kürzen, weil ein Lehrer mit seinem Velo in grobfahrlässiger Weise eine doppelte Sicherheitslinie überfahren hat und mit einem Auto kollidiert ist. Der Versicherte hatte argumentiert, die Kürzung sei unzulässig, weil ihm schwarz vor Augen geworden sei und der Unfall auf gesundheitliche Probleme zurückzuführen sei. Dies liess das Bundesgericht nicht gelten. Wer behauptet, zu einem gewissen Zeitpunkt urteilsunfähig gewesen zu sein, hat dafür den Beweis zu erbringen und trägt die Folgen einer Beweislosigkeit. Die blosse Möglichkeit genügt nicht, es bedarf der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.
Bundesgericht 8C_881/2014 vom 12.5.2015
Richter unterliegt in Pensionskassenstreit
Ein bei der Pensionskasse des Bundes Publica versicherter Richter an einem erstinstanzlichen Gericht des Bundes wollte nach Vollendung des 65. Altersjahres eine Einmaleinzahlung von 40 000 Franken tätigen. Die Publica befand, er verfüge über keine Vorsorgelücke mehr, eine Einzahlung sei nicht möglich. Dagegen erhob der Richter Beschwerde. Er werde, vorbehältlich Wiederwahl, mit gut 68 Jahren aus dem Amt scheiden. Nach dem Berner Verwaltungsgericht hat sich auch das Bundesgericht auf die Seite von Publica gestellt. Das Regelwerk sieht klar vor, dass ein Einkauf nur bis zum 65. Altersjahr möglich ist.
Bundesgericht 9C_813/2014 vom 26.5.2015
Urheberrechtsgebühr für betriebsinternes Netzwerk
Die Pro Litteris hat bei einer Anwaltskanzlei Gebühren für die Nutzung des betriebsinternen Netzwerks von Fr. 23.05 in den Jahren 2010 bis 2012 sowie Fr. 25.65 Rappen für 2013 erhoben. Zu Recht, befand das Bundesgericht. Der Anwalt hatte argumentiert, netzwerkgestützte Vervielfältigungen seien in seiner kleinen Kanzlei ausgeschlossen, man benutze nur den Fotokopierer, für den die Gebühr bereits entrichtet werde.
Bundesgericht 4A_203/2015 vom 30.6.2015
Koks-Banknoten müssen zurückgegeben werden
Die Eidgenössische Zollverwaltung darf Banknoten in Höhe von mehreren Zehntausend Franken, die bei Zollkontrollen provisorisch beschlagnahmt wurden und mit Kokain verunreinigt sind, nicht vernichten, wenn die Strafverfolgungsbehörden das Verfahren nicht übernommen haben. Die Vernichtung ist ein schwerer Eingriff in die Eigentumsgarantie und müsste in einem Gesetz formell geregelt sein. Die Bestimmung in einer Zollverordnung reicht nicht aus. Das Geld muss zurückerstattet werden.
Bundesverwaltungsgericht A-5254/2014, A-5255/2014 und A-5258/2014 vom 24.7.2015
Traumatisierung ist bloss Indiz für eine Misshandlung
Bei asylsuchenden Personen gilt eine ärztlich diagnostizierte Traumatisierung zwar als Indiz, ist aber kein Beweis für erlebte Misshandlungen. Ein türkischer Kurde stellte 2009 ein Asylgesuch und machte geltend, er sei während des Militärdiensts schwer misshandelt worden und der Fronteinsatz habe eine psychische Erkrankung verursacht. Das Bundesamt für Migration wies das Asylgesuch wegen Unglaubhaftigkeit der geschilderten Misshandlung ab und ordnete die Wegweisung an. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, der Asylentscheid sei zu Recht nicht in Wiedererwägung gezogen worden.
Bundesverwaltungsgericht D-5781/2012 vom 8.5.2015
Versicherungsschutz im Ausland verloren
Der Besitzer eines Wohnwagens erhält von seiner Versicherung keine Entschädigung für den Diebstahl seines in Italien fest stationierten Wohnwagens. Eine Klausel, wonach der Versicherungsschutz endet, wenn der Standort des Fahrzeugs über längere Zeit ins Ausland verlegt wird, erscheint dem Bundesgericht nicht ungewöhnlich. «Es stellt mithin keinen geschäftsfremden Inhalt dar, wenn Schweizer Motorfahrzeugversicherer den Versicherungsschutz auf Fahrzeuge beschränken, die ihren Standort in der Schweiz haben und zwischen Reisen im Ausland in die Schweiz zurückgeführt werden.»
Bundesgericht 4A_48/2015 vom 29.4.2015
Unzulässige Wohnsitzpflicht für Notar
Die Notariatskommission Graubünden hat einem Notar, der in Chur ein Anwaltsbüro betreibt und im Kanton Schwyz wohnt, zu Unrecht die Patentierung verweigert. Die Wohnsitzpflicht im kantonalen Recht stellt einen unter dem Gesichtswinkel von Art. 36 Abs. 3 BV nicht zu rechtfertigenden Eingriff in seine Niederlassungsfreiheit dar. Der Anwalt hatte in Lausanne unter anderem argumentiert, von seinem Wohnsitz im Kanton Schwyz erreiche er seinen Arbeitsplatz in Chur innerhalb einer Stunde und damit schneller als von einem peripheren Ort im Kanton Graubünden.
Bundesgericht 2C_335/2013 vom 11.5.2015
Niederlage für Bill Gates im Sika-Streit
Die in den Statuten der Sika festgelegte Opting-out-Klausel ist nicht auslegungsbedürftig und der Erwerb der Schenker-Winkler Holding und damit der von dieser gehaltenen Sika-Aktien durch die Saint Gobain löst keine Angebotspflicht an die übrigen Aktionäre aus. Mit dieser Begründung hat das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde von Bill Gates und Mitstreitern gegen einen Finma-Entscheid abgewiesen.
Bundesverwaltungsgericht B-3119/2015 vom 27.8.2015
Nichtigkeit der Einbürgerung
Die absolute Frist für die Nichtigerklärung der Einbürgerung beträgt seit März 2011 acht Jahre seit dem Zeitpunkt des Erwerbs des Schweizer Bürgerrechts; die neu eingeführte relative Frist von zwei Jahren beginnt mit der Kenntnisnahme des rechtserheblichen Sachverhalts durch die zuständige Behörde. Dabei ist für den Beginn der zweijährigen Frist bei einem Ausländer, der kurz vor der Einbürgerung eine Straftat begangen hat, diese aber verheimlicht hat, nicht die Strafanzeige massgeblich, sondern es ist – jedenfalls im konkret beurteilten Fall - auf den Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Strafbefehls durch die zuständige Behörde abzustellen.
Bundesgericht 1C_156/2015 vom 15.6.2015
Anpassung der Strichzone rechtens
Die Einschränkung der Strassenprostitution im Niederdorf durch den Zürcher Stadtrat auf 22 bis 2 Uhr greift nicht unzulässig in die Wirtschaftsfreiheit ein. Sexarbeiterinnen ist wie anderen Gewerbetreibenden zuzumuten, für ihre Arbeit in erster Linie private Räumlichkeiten zu benützen. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Anwerbung von Kunden nur auf der Strasse möglich sein soll; notorisch gibt es dafür auch andere Möglichkeiten wie Inserate oder Internet. Die Behörde darf das Interesse von Anwohnern, Passanten und Gewerbetreibenden höher gewichten als das Interesse der Sexarbeiterinnen, für ihre privatwirtschaftliche Tätigkeit den öffentlichen Raum in Anspruch zu nehmen.
Bundesgericht 2C_106/2015 vom 26.6.2015
Keine fahrlässige Tötung am Fussgängerstreifen
Das Bundesgericht spricht eine Autolenkerin unter Hinweis auf den Grundsatz in dubio pro reo vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Ein dunkel gekleidetes Unfallopfer hatte von einem im Dunkeln liegenden Weg her kommend 0,8 Sekunden vor der Kollision überraschend den Zebrastreifen betreten. Das Opfer starb an den Unfallfolgen. Die Aargauer Justiz warf der Lenkerin vor, zu schnell (40 km/h) auf den Streifen zugefahren zu sein. Das Bundesgericht befand, nicht die Lenkerin habe sich verkehrswidrig verhalten, sondern der Fussgänger sei seinen Pflichten am Fussgängerstreifen nicht nachgekommen.
Bundesgericht 6B_409/2015 vom 1.6.2015
Kostenauflage in Revision aufgehoben
Seltener Fall einer höchstrichterlichen Revision: Das Bundesgericht hatte einer Beschwerdegegnerin in einem Strafverfahren 1000 Franken Gerichtskosten und eine Parteientschädigung in gleicher Höhge auferlegt. Nun haben die Lausanner Richter dies in einem Revisionsverfahren korrigiert, weil die Gesuchstellerin im fraglichen Verfahren gar keinen Antrag gestellt hatte und damit nicht unterliegende Partei im Sinne des BGG war. Sie ist weder kosten- noch entschädigungspflichtig.
Bundesgericht 6F_19/2015 vom 17.8.2015
Kriterien zur Alleinzuteilung der elterlichen Sorge
Erstmals konkretisiert das Bundesgericht den Massstab für eine Alleinzuteilung im neuen, am 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Sorgerecht. Danach gilt: Ein schwerwiegender Dauerkonflikt oder eine anhaltende Kommunikationsunfähigkeit zwischen den Eltern können die alleinige Zuteilung des Sorgerechts an einen Elternteil rechtfertigen, wenn sich der Mangel negativ auf das Kindswohl auswirkt und eine Alleinzuteilung eine Verbesserung erwarten lässt.
Bundesgericht 5A_923/2014 vom 27.8.2015
Zu umfangreiche Anklageschrift
Das Bundesstrafgericht hat eine Anklageschrift der Bundesanwaltschaft zur Verbesserung zurückgewiesen. Die 674 Seiten und 4390 Fussnoten sind laut Gericht nicht handhabbar, zumal es der Schrift an Struktur mangelt. Unerlässlich wären die Unterteilung nach Namen des jeweils betroffenen Beschuldigten und eine klare Ausscheidung der Vorwürfe gegen die beiden Beschuldigten.
Bundesstrafgericht SK 2015.37 vom 24.8.2015
65-jährige Richterin war zu alt
Das Bundesgericht hat ein Urteil der Genfer «Chambre pénale d’appel et de révision de la Cour de justice» in einem Tötungsdelikt aufgehoben. Der Grund: Eine Richterin der Kammer hatte im Zeitpunkt des Urteils das 65. Altersjahr überschritten. Das Genfer Gerichtsorganisationsgesetz sieht aber vor, dass Richter mit 65 Jahren in Pension gehen müssen. Das Bundesgericht verweist in seinem Entscheid auf Art. 30 der Bundesverfassung und auf Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Anspruch auf ein korrekt zusammengesetztes Gericht geben.
Bundesgericht 6B_226/2015 vom 30.6.2015
Zur Publikation vorgesehen
Von den kürzlich gefällten Urteilen hat das Bundesgericht unter anderem folgende Entscheide zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGE) vorgesehen:
Staats-/Verwaltungsrecht
Die Interkantonale Lotterie- und Wettbewerbskommission – Comlot – hat die Kompetenz zu entscheiden, ob eine Grosslotterie grundsätzlich verbotene oder von der Comlot zu bewilligende Tätigkeiten umfasst. Mangels gesetzlicher Grundlage kann sie aber keine Sanktionen bei nicht bewilligten Lotterien verhängen. Dafür ist ein kantonales Strafverfahren nötig.
2C_1086/2013 vom 9.7.2015
Ein Anspruch auf Nachzählung äusserst knapper Resultate bei eidgenössischen Abstimmungen besteht nur bei konkreten Anhaltspunkten für eine falsche Auszählung. Dies kommt einer Praxisänderung gleich, hatte doch das Bundesgericht 2009 entschieden, dass ein Anspruch auf Nachzählung knapper Resultate auch ohne solche Anhaltspunkte besteht. Die mit Entscheid zur RTVG-Abstimmung eingeführte neue Praxis entspricht dem im November 2015 in Kraft tretenden Art. 77 des Bundesgesetzes über die politischen Rechte.
Urteil 1C_348/2015 vom 19.8.2015
Zivilrecht
Ein Begehren um Ausweisung eines Mieters im Verfahren um Rechtsschutz in klaren Fällen nach Art. 257 ZPO ist auch dann zulässig, wenn die gerichtliche Anfechtung der vorangehenden Kündigung hängig ist.
4A_184/2015 vom 11.8.2015
Beansprucht eine arbeitslose Person, die keinen Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung hat, Krankentaggelder, so obliegt ihr der Beweis eines Erwerbsausfalles. War die versicherte Person im Zeitpunkt der Erkrankung noch nicht arbeitslos, so profitiert sie von der Vermutung, dass sie ohne Krankheit erwerbstätig wäre. Allerdings kann die Versicherung den Gegenbeweis antreten.
4A_25/2015 vom 29.5.2015
Das Zürcher Handelsgericht muss im Fall Carl Hirschmann prüfen, ob Tamedia, 20 Minuten und Espace Media eine «Medienkampagne» geführt haben. Auch in verschiedenen andern Punkten hat das Bundesgericht eine Beschwerde Hirschmanns gutgeheissen. Einig ist das Bundesgericht aber mit dem Zürcher Handelsgericht, dass sich Carl Hirschmann als Person des öffentlichen Interesses grundsätzlich stärkere Eingriffe in seine Privatsphäre gefallen lassen muss als unbekannte Personen.
5A_658/2014 vom 6.5.2015
Angesichts der Bedeutung der persönlichen Anwesenheit der Parteien für eine wirksame Schlichtung in einem Mietstreit kann die Schlichtungsbehörde eine Partei, die ohne Grund der Schlichtungsverhandlung fernbleibt, gemäss Art. 128 Abs. 1 oder 3 bestrafen. Allerdings müssen disziplinarische Massnahmen zuvor soweit möglich angedroht werden.
4A_510/2014 vom 23.6.2015
Praxispräzisierung zum nachehelichen Unterhalt: Geschuldet ist er nur insoweit, wie der Unterhaltsgläubiger nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften für seinen Unterhalt zu sorgen. Es muss somit zwingend geklärt werden, über welches Einkommen er verfügen wird. Beim Einkommen nach der Pensionierung spielt es eine Rolle, ob es nur aus Renten der ersten und zweiten Säule oder aus anderen Quellen stammt.
5A_296/2014 vom 24.6.2015
Das Bundesgericht hat eine Beschwerde des Walliser Weinhändlers Dominique Giroud im Zusammenhang mit der Offenlegung seines Steuerdossiers gegenüber der Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Walliser Grossen Rates abgewiesen. Laut dem Urteil aus Lausanne war das Kantonsgericht nicht zur Prüfung des entsprechenden Beschlusses verpflichtet, weil die parlamentarische Oberaufsicht der GPK vorwiegend politischen Charakter aufweist.
2C_1006/2014 vom 24.8.2015
Ärzte müssen die Behandlung von Patienten nur so weit dokumentieren, wie es aus medizinischer Sicht notwendig und üblich ist. Besteht aus medizinischen Gründen keine Pflicht zur Dokumentation, darf ihr Fehlen im Haftpflichtprozess gegen den Arzt nicht als Nachweis dafür gelten, dass er die fragliche Behandlung unterlassen hat.
4A_137/2015 vom 19.8.2015
Strafrecht
Das Verfahren zum schweren Carunglück in einem Tunnel bei Siders, bei dem 26 Personen getötet und 24 verletzt wurden, wird nicht fortgeführt. Der Tod des Chauffeurs rechtfertigt die Einstellung des Strafverfahrens.
6B_471/2015 vom 27.7.2015
Interessante Ausführungen aus Anlass eines Bauunfalls mit Todesfolgen am Stanserhorn zur Garantenstellung, die sich weder aus dem Gesetz noch aus einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft ergibt, sondern aus einem im Rahmen von Bauarbeiten erstellten Notfallkonzept in einem Lawinengebiet.
6B_1122/2014 vom 29.6.2015
Wer eine Autobahnvignette auf eine Klarsichtfolie klebt und so am Fahrzeug anbringt, macht sich der Verfälschung amtlicher Wertzeichen schuldig.
6B_974/2014 vom 3.7.2015
z Die Privatklägerschaft kann ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung haben – unabhängig von allfälligen Zivilforderungen. Es erscheint aufgrund der Systematik der Strafprozessordnung gerechtfertigt, sie zur Einsprache zuzulassen, wenn sie in einer analogen Situation gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO rechtsmittellegitimiert wäre.
6B_188/2015 vom 30.6.2015
Sozialversicherungsrecht
Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung zur Beurteilung von Invalidenrenten wegen somatoformer Schmerzstörungen und vergleichbarer psychosomatischen Leiden geändert. Ein zentraler Punkt der Praxisänderung betrifft die Aufgabe der «Überwindbarkeitsvermutung». Künftig ist in einem strukturierten Beweisverfahren das tatsächliche Leistungsvermögen betroffener Personen ergebnisoffen und einzelfallgerecht zu bewerten. Bei der Formulierung der Indikatoren und bei der Beurteilung der einzelnen Fälle sollen Recht und Medizin zusammenwirken. Medizinische Fachgesellschaften werden in diesem Zusammenhang aufgefordert, konkretisierende Leitlinien zu erlassen.
9C_492/2014 vom 3.6.2015
Ausführlicher Entscheid zu Taggeld aus Unfallversicherung einer Person im Strafvollzug. Nach der Rechtsprechung ist Sinn und Zweck von Art. 21 ATSG die Gleichbehandlung der invaliden mit der validen inhaftierten Person, die durch Freiheitsentzug ihr Einkommen verliert. Ausgenommen von der Einstellung der Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter für Personen im Straf- oder Massnahmevollzug sind gemäss Art. 21 Abs. 5 ATSG die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Abs. 3. Das Bundesgericht beantwortet die Rechtsfrage, ob Art. 21 Abs. 3 ATSG aufgrund des Verweises in Abs. 5 (letzter Teilsatz) auf die Sistierung von Leistungen an den Strafgefangenen selber Anwendung f