Zivilprozessrecht
Mehr Schutz vor ungerechtfertigten Betreibungen
Das Bundesgericht lockert die Praxis zur Zulässigkeit negativer Feststellungsklagen bei Betreibungen. Das nötige schutzwürdige Interesse besteht bereits dann, wenn eine Forderung in Betreibung gesetzt wird.
Sachverhalt:
Die Inkassoagentur A. AG (Beklagte, Beschwerdeführerin) teilte mit Brief vom 17. Oktober 2012 B. (Kläger, Beschwerdegegner) mit, dass sie sich eine Forderung über 41 705 Franken von C. und D. habe abtreten lassen. Sie forderte B. auf, die offene Forderung innerhalb von acht Tagen zu begleichen. C. und D. hatten am 23. Februar 2009 ein Grundstück in U. von der E. AG gekauft. Der geltend gemachte Anspruch steht im Zusammenhang mit diesem Grundstückkauf und soll angeblich im Jahre 2005 entstanden sein. Der Kläger bestreitet, dass zwischen C. und D. und ihm ein Rechtsverhältnis bestand, und stellt demzufolge auch das Bestehen einer Forderung in Abrede, die gestützt auf Art. 165 Abs. 1 OR hätte abgetreten werden können. Er kam der Zahlungsaufforderung nicht nach. Mit Zahlungsbefehl vom 9. November 2012 leitete die Beklagte eine Betreibung über Fr. 41 843.35 nebst Zins ein.
Der Kläger erhob Rechtsvorschlag. Am 28. Februar 2013 klagte er beim Bezirksgericht Winterthur gegen die Beklagte. Das Bezirksgericht Winterthur hiess die Klage insofern gut, als es feststellte, dass zwischen B. und der Beklagten kein Rechts- und Schuldverhältnis besteht und dass demzufolge der Kläger der Beklagten den Betrag von 41 843.35 Franken nebst Zins nicht schuldet. Auf den Antrag, es sei ausserdem festzustellen, dass die Beklagte dem Kläger die Betreibung ohne Schuldgrund habe zustellen lassen, trat es nicht ein. Dagegen erhob die Beklagte Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich und verlangte im Hauptantrag, auf die Klage sei mangels Feststellungsinteresse über den Nichtbestand der Betreibungsforderung nicht einzutreten. Mit Urteil vom 27. Mai 2014 wies das Obergericht den Hauptantrag der Berufung ab.
Die Beschwerdeführerin beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, dieses Urteil sei aufzuheben und auf die Klage des Beschwerdegegners nicht einzutreten.
Aus den Erwägungen:
2.4 Im konkreten Fall erachtete es das Bundesgericht aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Betriebenen und des Umstands, dass er nicht bloss für Bagatellbeträge, sondern für namhafte Summen betrieben wurde, als dargetan, dass ihn die Betreibungen in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit behinderten. Er müsse damit rechnen, dass Dritte aufgrund der Betreibungsregistereinträge an seiner Kredit- und Vertrauenswürdigkeit zweifelten. Demgegenüber sei weder dargetan noch ersichtlich, weshalb dem Beklagten die Führung des Prozesses über seine Ansprüche im jetzigen Zeitpunkt nicht zuzumuten sein solle (BGE 120 II 20 E. 3c, S. 25). Wer wie der Beklagte eine Betreibung anhebe, die den Betriebenen in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit empfindlich beeinträchtige, solle sich einem negativen Feststellungsbegehren nicht entziehen können, ohne den Nachweis triftiger Gründe zu erbringen, aus welchen ihm die Beweisführung gegenwärtig nicht zuzumuten ist (BGE 120 II 20 E. 3d/dd).
2.5 Verschiedene Autoren plädieren allerdings für eine noch grosszügigere Haltung, indem eine unzumutbare Ungewissheit nicht davon abhängig gemacht werden sollte, ob die klagende Partei im eigentlichen Sinn in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, und wirklich nur verneint werden sollte, wenn mit Blick auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Klägers ein Bagatellbetrag in Frage steht (Isaak Meier, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 211; Daniel Füllemann, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner und andere [Hrsg.], 2011, N. 10 und 17 zu Art. 88 ZPO; Marc Weber, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 14 zu Art. 88 ZPO; s. auch Bohnet, a.a.O., N. 26 zu Art. 88 ZPO). Füllemann und Oberhammer sprechen sich überdies dafür aus, die Unzumutbarkeit immer dann zu bejahen, wenn ein Betreibungsverfahren eingeleitet wurde und das Einsichtsrecht Dritter ins Betreibungsregister noch besteht, wobei es keinen Unterschied machen könne, ob die Betreibung lediglich zum Zweck der Verjährungsunterbrechung eingeleitet wurde, da auch diesfalls der Eintrag ins Betreibungsregister fortbestehe; der Gläubiger, der den Schuldner betreibe, habe kein schutzwürdiges Interesse daran, dass er den Prozess erst zu einem späteren Zeitpunkt führen müsse (Füllemann, a.a.O., N. 17 zu Art. 88 ZPO; Paul Oberhammer, in: ZPO, Oberhammer und andere [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 15 und 26 ff. zu Art. 88 ZPO, der sich darüber hinaus generell für eine weite Zulassung der negativen Feststellungsklage ausspricht; vgl. dagegen Alexander R. Markus, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2012, N. 13 und 16 zu Art. 88 ZPO, der eine restriktive Zulassung der negativen Feststellungsklage für angebracht hält).
2.6.1.2 Mit Blick auf den klaren gesetzgeberischen Willen folgte das Bundesgericht in BGE 125 III 149 E. 2d der Ansicht verschiedener Autoren nicht, wonach die Feststellungsklage nach Art. 85a SchKG auch mit Blick auf das Interesse des Betriebenen zugelassen werden sollte, das Einsichtsrecht Dritter in die Betreibung auszuschliessen. An dieser Praxis hielt das Bundesgericht seither fest, was es auch damit rechtfertigte, dass dem Schuldner die Klage nach Art. 85 SchKG sowie die allgemeine Feststellungsklage zur Verfügung stehe; auch mit der Klage auf Aufhebung der Betreibung nach Art. 85 SchKG, die jederzeit (schon vor der Rechtskraft des Zahlungsbefehls) zulässig sei, könne einer der «gerichtlichen Entscheide» erwirkt werden, damit das Betreibungsamt Dritten von einer Betreibung keine Kenntnis gebe (BGE 140 III 41 E. 3.2.2, S. 43 f.).
Auch mit der Klage nach Art. 85 SchKG darf der Betriebene nach der neuesten Rechtsprechung über den Wortlaut der Bestimmung hinaus den Nachweis des Nichtbestehens der Betreibungsforderung führen, wobei er allerdings auf den strikten Urkundenbeweis beschränkt ist (BGE 140 III 41 E. 3.3.1/3.3.2, S. 45).
Verfügt er – wie das bei zu Unrecht Betriebenen oftmals der Fall ist – über keine Urkunden, mit denen er den strikten Beweis des Nichtbestands der Forderung führen kann, steht ihm demnach einzig die allgemeine negative Feststellungsklage zur Verfügung. Angesichts der für den Betriebenen einschneidenden Wirkungen des Registereintrags mit Blick auf dessen Kreditwürdigkeit, erscheint es auch deshalb angebracht, das Feststellungsinteresse grundsätzlich ohne Weiteres zu bejahen.
2.6.2 Mit Blick auf die wenig befriedigende Rechtslage mit Bezug auf die Mitteilung von Registereinträgen über laufende Betreibungen an Dritte, die für den zu Unrecht Betriebenen gewichtige Nachteile mit sich bringen kann (zum Beispiel beim Abschluss eines Mietvertrages, einer Kreditaufnahme oder der Stellensuche), sind ab dem Jahr 2009 auf die parlamentarische Initiative (09.530) hin, die verlangte, dass ungerechtfertigte Zahlungsbefehle rasch «gelöscht» werden können, gesetzgeberische Bestrebungen zur Revision der Regelungen von Art. 8a und 85a SchKG im Gange.
2.7 Angesichts dieser Entwicklungen und unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Lehrmeinungen, die eine weitere Zulassung der Feststellungsklage fordern, erscheint es sachgerecht und gerechtfertigt, die in BGE 120 II 20 eingeleitete Praxis weiter zu lockern und das schutzwürdige Interesse an der Feststellung des Nichtbestands der Forderung grundsätzlich zu bejahen, sobald diese in Betreibung gesetzt wurde, ohne dass der Feststellungskläger konkret nachweisen muss, dass er wegen der Betreibung in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit empfindlich beeinträchtigt wird.
In diese Richtung geht auch das Urteil 5A_890/2012 vom 5. März 2013 E. 5.4, wo festgehalten wird, den betriebenen Parteien stehe die negative Feststellungsklage offen, ohne dass dazu ein Vorbehalt hinsichtlich des erforderlichen Feststellungsinteresses gemacht wurde. Für den (angeblichen) Gläubiger, der eine Forderung ohne vorherigen Prozess in Betreibung setzt, obwohl sie bestritten ist und er daher mit der Erhebung eines Rechtsvorschlages rechnen muss, ist es zumutbar, diese Forderung in einem Zivilprozess zu verteidigen. Sein Interesse, sich mit der prozessualen Auseinandersetzung bis nach Ablauf der Frist nach Art. 88 Abs. 2 SchKG Zeit zu lassen, hat demjenigen des betriebenen Schuldners, der durch die Betreibung in seiner Kreditwürdigkeit und Reputation beeinträchtigt wird, zu weichen. Zu beachten ist dabei, dass der (angebliche) Gläubiger allemal die Möglichkeit hat, die Betreibung zurückzuziehen; damit entfällt das Rechtschutzinteresse an der negativen Feststellungsklage mit Blick auf die Bestimmung von Art. 8a Abs. 3 lit. c SchKG (Bohnet, a.a.O., N. 28 zu Art. 88 ZPO).
Vorzubehalten ist einzig der Fall, in dem die Betreibung nachweislich einzig zur Unterbrechung der Verjährung einer Forderung nach Art. 135 Ziff. 2 OR eingeleitet werden musste, nachdem der (angebliche) Schuldner die Unterzeichnung einer Verjährungsverzichtserklärung verweigert hat (zur Gültigkeit einer solchen: BGE 132 III 226), und die Forderung vom (angeblichen) Gläubiger aus triftigen Gründen nicht sofort im vollem Umfang gerichtlich geltend gemacht werden kann.
2.8 Nachdem im vorliegenden Fall nicht festgestellt ist, dass die Betreibung einzig zur Unterbrechung der Verjährung erfolgte, ist hier das Feststellungsinteresse des Beschwerdegegners nach dem vorstehend Ausgeführten ohne Weiteres zu bejahen. Auf die im vorinstanzlichen Entscheid dazu diskutierten – nach der bisherigen Rechtsprechung massgeblichen – Gesichtspunkte und die dagegen erhobene Kritik der Beschwerdeführerin kommt dabei nichts mehr an, weshalb darauf nicht weiter eingegangen zu werden braucht.
4. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen.
Urteil 4A_414/2014 des Bundesgerichts vom 16.1.2015
Offerierte Parteibefragung ist durchzuführen
Die Parteien haben Anspruch auf Abnahme offerierter Beweise. Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn es sich beim fraglichen Beweismittel um eine Parteibefragung handelt.
Sachverhalt:
Der Kläger macht geltend, er habe dem Beklagten ein ausdrückliches Verbot erteilt, Biopsien zu entnehmen. Die Vorinstanz kam jedoch zum Schluss, dass dieser Nachweis dem Kläger nicht gelungen sei. Auf die klägerischen Beweisofferten – Parteibefragung und zwei Zeuginnen aus dem nahen Umfeld – verzichtete das Gericht. Der Kläger gelangt deshalb ans Obergericht.
Aus den Erwägungen:
4.a) Einziges direktes Beweismittel zum Verlauf des Gesprächs zwischen den Parteien am 3. Dezember 2001 sind die Aussagen der Parteien. Beide Parteien haben dazu ihre persönliche Befragung angeboten.
Gestützt auf die Botschaft und eine Lehrmeinung, welche diesem in der Schweizerischen Zivilprozessordnung gegenüber dem früheren kantonalen Recht aufgewerteten Beweismittel zurückhaltend gegenübersteht, hielt die Vorinstanz fest, auf eine Parteibefragung könne nur dann abgestellt werden, wenn die Beweissituation – Glaubwürdigkeit der Beteiligten, weitere Beweismittel, namentlich Urkunden – dies nahelege. Auch mit einer Beweisaussage könnten nur letzte Zweifel des Gerichts ausgeschlossen werden (act. 82, S. 25, E. 2.3.3 m. H. auf Botschaft ZPO, S. 7326, und Müller, Dike-Komm-ZPO Art. 191 N 32 ff. und Art. 192 N 5 ff.).
Die Vorinstanz hielt dafür, diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, denn die übrigen Umstände sprächen gegen die klägerische Darstellung. So würden behauptete Schwierigkeiten nach einer früheren Magenspiegelung mit Biopsien, welche als Grund für das Biopsieverbot angeführt werden, in den Akten nirgendwo erwähnt. Der Kläger belasse es bei der Beweisführung durch parteinahe Beweismittel und verzichte auf die Anrufung von weiteren Zeugen.
Ausserdem erscheine es durchaus naheliegend, dass der Beklagte bei einem ausdrücklichen Biopsieverbot den Auftrag abgelehnt hätte. Es sei daher nicht angezeigt, allein auf die persönliche Befragung/Beweisaussage des Klägers abzustellen, und es sei deshalb auf deren Abnahme zu verzichten.
Neben der Funktion eines sogenannten Beweiszuschusses, um einen noch nicht voll erbrachten Beweis zu ergänzen oder einen noch nicht voll gescheiterten Beweis zu widerlegen (Weibel / Naegeli, ZK, Art. 191 ZPO N 4), auf welchen sich die Vorinstanz gestützt auf die Botschaft ausschliesslich bezieht, führt die Lehre als weiteren Grund für die Zulassung der Parteibefragung und der Beweisaussage als vollwertiges Beweismittel Konstellationen an, in denen keine anderen Beweismittel vorhanden sind, weil innere Tatsachen zu beweisen sind oder der Entscheid davon abhängt, was die Parteien in sogenannten Vier-Augen-Gesprächen miteinander besprochen haben (Bühler, BK, Art. 191 und Art. 192 ZPO N 16a; Hafner, BSK, Art. 191 ZPO N 7; Weibel / Naegeli, Art. 191–192 ZPO N 4). Jene Tatbestandsvariante liegt hier vor.
Ein Verzicht auf die Abnahme der Parteibefragung ist zum einen dann zulässig, wenn sich das Gericht bereits ohne dieses Beweismittel eine Überzeugung gebildet hat (KUKO ZPO-Schmid, Art. 191–193 N 14). Das war hier nicht der Fall, sondern die Vorinstanz ging von Beweislosigkeit aus und entschied zulasten des Klägers, weil sie annahm, die Parteibefragung würde daran ohnehin nichts ändern.
Zum andern ist ein Verzicht auf Abnahme der Parteibefragung dann zulässig, wenn direkte oder indirekte Wahrnehmungen der Parteien für die rechtliche Würdigung des streitigen Sachverhalts entweder unerheblich oder untauglich sind (Bühler, BK-ZPO, Art. 191 ZPO N 67). Auch dieser Sachverhalt liegt nicht vor, wenn der Inhalt eines Gesprächs zwischen den Parteien Beweisgegenstand ist.
Nur wegen Zweifeln an der Glaubwürdigkeit, die mit ihrer Rolle im Verfahren zusammenhängen, aber ohne konkrete Verdachtsgründe von der Befragung einer Partei abzusehen, geht nicht an. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit setzt grundsätzlich eine Anhörung voraus (vgl. dazu KUKO ZPO-Schmid, Art. 152 ZPO N 7). Vorliegend hatte eine solche Anhörung auch im Rahmen des Hauptverfahrens nicht stattgefunden, weil das Gericht auf die Durchführung einer Hauptverhandlung verzichtet und so die Gelegenheit verpasst hatte, sich im Rahmen einer informativen Befragung der Parteien einen unmittelbaren (ersten) Eindruck zu verschaffen (vgl. dazu Bühler, BK-ZPO, Art. 191 und 192 N 22; Müller, Dike-Komm-ZPO, Art. 191 N 35 ff.).
Dass die Parteibefragung oft nur zusammen mit anderen Beweismitteln den Beweis zu erbringen vermag, ist eine Erfahrungstatsache, die allerdings auch für andere Beweismittel gilt. Indem die Vorinstanz – beeinflusst durch die unvollständige Darstellung der Botschaft (Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 28. Juni 2006, S. 7236) – daraus eine Beweisregel macht und deswegen von vornherein auf die Abnahme dieses Beweismittels verzichtet, verstösst sie gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 157 ZPO) und verletzt sein Recht auf Beweis (Art. 152 Abs. 1 ZPO), wie der Kläger zu Recht rügt.
Hinzu kommt noch etwas: Die Vorinstanz übersieht, dass als weiteres Beweismittel die Parteibefragung des Beklagten angeboten war. Zwar hatte nicht der Kläger, sondern der Beklagte einen entsprechenden Antrag gestellt. Beweismittel werden jedoch mit ihrer Abnahme gemeinschaftlich. Das bedeutet, von einer Partei angerufene Beweismittel können auch zugunsten der Gegenseite in die Würdigung einfliessen. Aus dem Umstand, dass das Gericht die Parteien von Amtes wegen zur Beweisaussage verpflichten kann (Art. 192 Abs. 1 ZPO), leitet ein Teil der Lehre zudem ab, dass auch die Parteibefragung als Vorbereitung der Beweisaussage von Amtes wegen angeordnet werden könne (Bühler, BK-ZPO, Art. 191 und Art. 192 N 59; BSK ZPO-Hafner, Art. 191 ZPO N 3 und 8; Müller, Dike-Komm-ZPO, Art. 191 N 42). Da ein entsprechender Antrag vorlag, kann offenbleiben, wie es sich damit verhält.
Wenn die Vorinstanz eine antizipierte Beweiswürdigung vornahm, durfte sie diese Beweismittel daher nicht isoliert betrachten (vgl. act. 80, S. 14, E. 12.6.1, wo der Kläger der Vorinstanz eine Eliminationswürdigung vorwirft und stattdessen eine Gesamtbetrachtung fordert). Gerade wo die Parteieinvernahme bei sonst dürftiger Beweislage unverzichtbar ist, kann die Aussage bloss einer Partei ohne Anhörung auch er anderen schwer zu bewerten sein (Weibel / Naegeli, ZK, Art. 191–192 ZPO N 8). Selbst wenn beide Parteien an ihrem gegensätzlichen Standpunkt festhalten, kann die Art und Weise, wie sie das tun, doch dazu beitragen, dass sich das Gericht aufgrund dieses Beweismittels eine Überzeugung zugunsten der einen oder anderen Seite bilden kann, sodass keine Beweislosigkeit eintritt.
Die Vorinstanz durfte demnach nicht aufgrund einer antizipierten Beweiswürdigung auf die Abnahme der persönlichen Befragung der Parteien, insbesondere des Klägers, verzichten und gestützt auf die Beweislast entscheiden. Die Berufung ist in diesem Punkt begründet.
Urteil LB140032-O/U des Obergerichts des Kantons Zürich vom 15.1.2015
Alter des Gutachtens nur ein Aspekt
Ob ein früheres Gutachten noch hinreichend aktuell ist, entscheidet sich nicht primär daran, wie alt es ist. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob sich die Ausgangslage seit der Erstellung des Gutachtens verändert hat.
Sachverhalt:
Die über sechzigjährige Beschwerdeführerin X. leidet seit Jahren an schweren körperlichen und psychischen Problemen. Sie verlangt die Entlassung aus der Fürsorgerischen Unterbringung.
Aus den Erwägungen:
IV. 3.1 Die Vorinstanz hat ihren Entscheid auf das ergänzende Gutachten von Dr. med. A. vom 10. November 2010, das ergänzende Gutachten der C. vom 8. März 2013 sowie der Berichte des Wohnheims B. mit ärztlichen Stellungnahmen vom 9. September 2013, 5. Mai 2014 und 15. Oktober 2014 sowie auf die Ergebnisse der Anhörung vom 23. Oktober 2014 gestützt.
3.2.1 Ausschlaggebend für die Beantwortung der Frage, ob die Kesb ein externes Gutachten einzuholen hat, ist das im Spruchkörper vorhandene Fachwissen. Für die Bejahung des erforderlichen Fachwissens bezüglich psychischer Störungen wird vorausgesetzt, dass die konkret zuständige Kesb über das Wissen eines Arztes oder einer Ärztin mit Fachkenntnissen in Psychiatrie verfügt (Auer / Marti, a.a.O., Art. 446 N. 19; vgl. Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern KES 13 249 vom 8. April 2013, E. 5 ff., in CAN 2013 Nr. 55, S. 139 f.). Ist in der Behörde psychiatrisches Fachwissen vorhanden und genügt dieses für die Beantwortung der sich stellenden Fachfragen, darf die Kesb demnach – anders als das Gericht im Beschwerdeverfahren – auch ohne Gutachten entscheiden.
3.2.2 Im vorliegenden Fall setzte sich der Spruchkörper der Kesb aus einem Rechtsanwalt, einem diplomierten Sozialarbeiter HSA und einem Fachpsychologen für Psychotherapie FSP, welcher über einen Lic.-phil.-Abschluss sowie einen Master of Advanced Studies in Psychotherapy verfügt, zusammen. Ein solcherart zusammengesetzter Spruchkörper verfügt nicht über das nötige psychiatrische Fachwissen, um ohne Gutachten über die Fortsetzung der fürsorgerischen Unterbringung zu entscheiden (vgl. Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern KES 13 249 vom 8. April 2013, E. 5 ff., in CAN 2013 Nr. 55, S. 139 f.).
3.3.1 Um die Frage zu beantworten, ob ein früheres Gutachten noch hinreichend aktuell ist, ist nicht primär auf das formelle Kriterium des Alters des Gutachtens abzustellen. Entscheidend ist vielmehr die materielle Frage, ob Gewähr dafür besteht, dass sich die Ausgangslage seit der Erstellung des Gutachtens nicht verändert hat (BGE 134 IV 246 E. 4.3, S. 254; Urteil des Bundesgerichts 5A_63/2013 vom 7. Februar 2013, E. 5.2; siehe auch BGE 128 IV 241 E. 3.4, S. 247 f.).
Damit lässt sich nicht ohne weiteres vertreten, das im Jahr 2013 eingeholte Gutachten genüge den Anforderungen. Der Verwendung von Gutachten früherer Verfahren sind allein schon deshalb enge Grenzen gesetzt, weil der Gutachter die Fragen des konkreten Verfahrens zu beurteilen hat. Wenn – wie hier – die Fortführung einer früher angeordneten fürsorgerischen Unterbringung zu prüfen und darüber zu befinden ist, ob die betroffene Person weiter in der Einrichtung zurückbehalten werden darf, so hat sich das erforderliche Gutachten darüber zu äussern, ob und inwiefern in den im früheren bzw. ursprünglichen Gutachten festgestellten tatsächlichen Parametern eine Änderung eingetreten ist (BGE 140 III 105 E. 2.7, S. 107 f. betreffend Art. 450e Abs. 3 ZGB). Das Gutachten hat letztlich gerade auch diejenigen Fragen zu beantworten, die schon beim Entscheid darüber, ob überhaupt ein solches anzuordnen ist, bestimmend waren.
Unveränderte Verhältnisse sind daher nur mit Zurückhaltung anzunehmen; eine hohe Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Andererseits sind auch unnötige und kostspielige prozessuale Leerläufe zu vermeiden. Bei der Beurteilung sind sämtliche Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Einzubeziehen sind etwa die Art der psychischen Störung sowie der bisherige Krankheits- und Behandlungsverlauf.
Obwohl die seit dem letzten Gutachten verstrichene Zeit für sich allein nicht bestimmend ist, so ist doch zu berücksichtigen, dass aufgrund der Behandlung und Betreuung in der Einrichtung die Wahrscheinlichkeit der Veränderung der Verhältnisse mit der Zeit ansteigt. An die Annahme unveränderter Verhältnisse sind daher umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr Zeit seit dem letzten Gutachten verstrichen ist. Führt diese Beurteilung zu dem Schluss, dass offenkundig keine Veränderung der Verhältnisse eingetreten ist, darf auf ein neues Gutachten verzichtet werden.
3.3.2 Die lange Krankheitsgeschichte der Beschwerdeführerin (seit Jahren bestehende Schizophrenie mit stabilem Residuum) sowie deren fehlende Krankheitseinsicht sprechen gegen die Annahme veränderter Verhältnisse.
3.3.3 Da die Beschwerdeführerin in der Zwischenzeit von einer Abteilung des Wohnheims mit Schwerpunkt Pflege in eine solche mit Schwerpunkt Betreuung wechseln konnte, sie psychisch einigermassen stabil ist, ihre Medikamente – wenn auch unter Aufsicht – einnimmt und sich ihrer Unterstützungsbedürftigkeit bewusst zu sein scheint, liegt nicht mehr die genau gleiche Situation vor wie im März 2013.
Deshalb kann nicht einzig auf das Ergänzungsgutachten vom 8. März 2013 abgestellt werden. Die Berichte des Wohnheims B. vom 9. September 2013, vom 5. Mai 2014 und vom 15. Oktober 2014 sowie die ärztliche Stellungnahme vom 6. November 2014 vermögen die an ein Gutachten gestellten Anforderungen nicht zu erfüllen (BGE 140 III 105 E. 2.7, S. 108). Die Vorinstanz hätte daher vor ihrem Entscheid ein Ergänzungsgutachten einholen müssen, das sich insbesondere auch dazu äussert, ob und inwieweit sich die Verhältnisse geändert haben.
3.4 Aus diesen Gründen erweist sich der angefochtene Entscheid und das ihm zugrunde liegende Verfahren unter dem Blickwinkel von Art. 446 Abs. 2 ZGB als rechtsfehlerhaft. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
Gemäss Art. 69 Abs. 2 KESG urteilt das Kindes- und Erwachsenenschutzgericht in der Sache oder weist die Akten ausnahmsweise zu neuer Beurteilung an die Kesb zurück.
Um selbst einen Entscheid in der Sache treffen zu können, müsste das Gericht ein Gutachten einholen, zumal ein Fachrichter den Beizug eines Gutachters nicht ersetzen kann (BGE 137 III 289 E. 4.4, S. 292). Gegen den Entscheid des Gerichts stünde der Beschwerdeführerin nur noch die Beschwerde an das Bundesgericht offen. Dieses könnte jedoch nicht mit freier Kognition entscheiden, sondern wäre an die vom Gericht gestützt auf das Gutachten getroffenen Sachverhaltsfeststellungen gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG).
Der Beschwerdeführerin ginge damit nicht nur eine Instanz verloren, sondern es fände auch keine volle Überprüfung des Sachverhalts durch eine zweite Instanz statt. Schliesslich ist denkbar, dass vor Erteilung des Gutachtensauftrages noch weitere Erkundigungen einzuholen sind; der Entscheid darüber muss aber der Vorinstanz, welche die Beschwerdeführerin seit Jahren kennt, überlassen werden. Es rechtfertigt sich daher, die Sache ausnahmsweise zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird gestützt auf ein Gutachten einer sachverständigen Person zu entscheiden haben.
Entscheid KES 14 709 des Kindes- und Erwachsenenschutzgerichts des Kantons Bern vom 10.11.2014
Die Frist nach SchKG geht jener nach ZPO vor
Bei den Vorschriften über die Betreibungsferien ist die Regelung nach SchKG massgebend. Das Regime der ZPO kommt nicht zur Anwendung. Die Art des Gerichtsverfahrens spielt dabei keine Rolle.
Sachverhalt:
A. reichte gegen einen am 19. Juni 2014 eröffneten erstinstanzlichen Endentscheid betreffend Bestreitung neuen Vermögens Berufung ein. Ob die Berufung rechtzeitig erfolgte, hängt davon ab, ob das Ferienregime der ZPO oder des SchKG zur Anwendung gelangt.
Aus den Erwägungen:
IV. 3.1 In gerichtlichen Angelegenheiten des SchKG wenden die kantonalen Instanzen grundsätzlich die ZPO an (Art. 1 lit. c ZPO). Nach Art. 145 Abs. 1 Bst. b ZPO stehen gesetzliche und gerichtliche Fristen vom 15. Juli bis am 15. August still. Bei Anwendung der Gerichtsferien (15. Juli bis 15. August 2014) hätte der Berufungskläger die Berufungsfrist mit seiner Eingabe vom 18. August 2014 gewahrt (bis am 14. Juli 2014 laufen 25 Tage ab; sodann Unterbruch der Frist vom 15. Juli bis am 15. August 2014 und Fortsetzung der Frist um die verbleibenden 5 Tage, d.h. bis am 20. August 2014).
3.2 Zu beachten ist nun jedoch, dass Art. 145 Abs. 4 ZPO die Bestimmungen des SchKG über die Betreibungsferien und den Rechtsstillstand vorbehält. Gemäss Art. 56 Ziff. 2 SchKG dauern die Betreibungsferien vom 15. Juli bis zum 31. Juli. Anders als die Gerichtsferien hemmen die Betreibungsferien den Fristenlauf zwar nicht, verlängern ihn jedoch gemäss Art. 63 ZPO bis zum dritten Werktag nach den Ferien. Gelangen die Betreibungsferien (15. Juli bis 31. Juli 2014) zur Anwendung, so würde die Frist am dritten Werktag nach Ablauf der Betreibungsferien enden, das heisst am 6. August 2014, womit der Berufungskläger die Frist (vorbehältlich der beantragten Wiederherstellung) verpasst hätte.
3.3 Das Verhältnis zwischen Gerichtsferien und Betreibungsferien ist nicht restlos geklärt; soweit ersichtlich, hatte das Bundesgericht bis anhin noch keine Gelegenheit, sich zum Umfang des Vorbehalts in Art. 145 Abs. 4 ZPO zu äussern. Gemäss der Botschaft zur ZPO (BBl 2006, 7310) gehe die Regelung der Betreibungsferien (Art. 56 und 63 SchKG) jener der Gerichtsferien als lex specialis vor. Dies gelte einerseits für gewisse Klagen im Kontext einer Betreibung, wie zum Beispiel die Aberkennungs-, Widerspruchs-, Anschluss- oder Arrestprosekutionsklage, und zwar unabhängig davon, ob diese Streitigkeiten im ordentlichen oder im vereinfachten Verfahren zu beurteilen seien. Andererseits seien die Betreibungsferien für summarische Verfahren, die eine gerichtliche Betreibungshandlung zum Gegenstand haben (wie die Rechtsöffnung oder Konkurseröffnung), einschlägig.
In der Lehre ist der Vorrang der Betreibungsferien im Grundsatz anerkannt. Jedoch wird der Umfang der Verweisung eingegrenzt auf die rein betreibungsrechtlichen Streitigkeiten (ZK-ZPO-Staehelin, N 7 zu Art. 145 ZPO; BSK-ZPO-Benn, N 9 zu Art. 145 ZPO) oder sogar nur auf solche Verfahren, die in eine Betreibungshandlung münden (BK-ZPO-Frei, N 19 zu Art. 145 ZPO; Bauer, in: Staehelin / Bauer / Staehelin [Hrsg.], Basler Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Band I, 2. Auflage, Basel 2010 [im Folgenden: BSK-SchKG-Autor], N 17 zu Art. 63 SchKG). Soweit Art. 63 SchKG keine Anwendung findet, ist sodann fraglich, ob im ordentlichen Verfahren auf die Gerichtsferien der ZPO zurückzugreifen ist (befürwortend Bauer, a.a.O., N. 18).
3.4 Es ist somit zu klären, ob bei der Feststellungsklage nach Art. 265a Abs. 4 SchKG eine rein betreibungsrechtliche Streitigkeit vorliegt, deren Entscheid eine Betreibungshandlung verkörpert. Ersteres ist vom Bundesgericht bejaht worden (BGer 5A_104/2010 vom 28. April 2010, E. 3.2.1; BGer 5A_283/2007 vom 15. November 2007, E. 1.2, mit Hinweisen). Zweiteres hingegen ist offen; die Frage ist deswegen relevant, weil das Bundesgericht Art. 63 SchKG trotz Kritik in der Lehre (siehe BSK-SchKG-Bauer, N 7 ff. zu Art. 63 SchKG, mit Hinweisen) in konstanter Rechtsprechung nur auf solche Fristen anwendet, die durch eine Betreibungshandlung ausgelöst werden. Liegt keine Betreibungshandlung vor, kommt Art. 56 SchKG nicht zum Tragen, womit Art. 63 SchKG betreffend die Auswirkungen der Betreibungsferien auf den Lauf einer Frist der Boden entzogen ist (BGE 127 III 173 E. 1a, S. 175; BGE 117 III 4 E. 3, S. 4; BGer 5A_547/2014 vom 1. September 2014, E. 3.2).
3.4.1 Betreibungshandlungen sind alle Handlungen der Vollstreckungsbehörden, die auf die Einleitung oder Fortsetzung des Verfahrens gerichtet sind, das darauf abzielt, den Gläubiger auf dem Wege der Zwangsvollstreckung aus dem Vermögen des Schuldners zu befriedigen und die in die Rechtsstellung des Schuldners eingreifen. Eine Betreibungshandlung liegt somit nur vor, wenn die Amtshandlung der hierfür zuständigen Behörde den Betreibenden seinem Ziel näher bringt und in die Rechtsstellung des Betriebenen eingreift (BGer 5A_448/2011 vom 1. Oktober 2011, E. 2.5; BSK-SchKG-Bauer, N 25 zu Art. 56 SchKG).
3.4.2 Dass die Verweigerung des Rechtsvorschlags und die Feststellung neuen Vermögens (Art. 265a Abs. 1–3 SchKG) eine Betreibungshandlung im vorerwähnten Sinn darstellt, ist offensichtlich (siehe Vock / Müller, SchKG-Klagen nach der Schweizerischen ZPO, S. 16; BK-ZPO-Frei, N 19 zu Art. 145 ZPO), zumal die Betreibung erst fortgesetzt werden kann, wenn die Einrede des fehlenden Vermögens im gerichtlichen Summarverfahren beseitigt und der Umfang des neuen Vermögens festgestellt worden ist (BGE 103 III 31 E. 3,
S. 35; BSK-SchKG-Bauer, N 32 zu Art. 265a SchKG). Wie bei der provisorischen Rechtsöffnung kann der Gläubiger nach dem ergangenen Summarentscheid sodann die provisorische Pfändung verlangen (BGE 126 III 204 E. 3c, S. 207 f.).
3.4.3 Der Klage nach Art. 265a Abs. 4 SchKG kommt die Funktion eines Rechtsmittels gegen den summarischen Bewilligungsentscheid zu (BGer 5A_452/2007 vom 22. Januar 2008, E. 3.1; Vock / Müller, SchKG-Klagen nach der Schweizerischen ZPO, S. 98). Anders als bei der Aberkennungsklage (deren Abweisung nicht als Betreibungshandlung gilt; BSK-SchKG-Bauer, N 31 zu Art. 56 SchKG) sind hier ausschliesslich betreibungsrechtliche Fragen zu beantworten; Ziel ist es, den Umfang des Vollstreckungssubstrats zu klären, womit in die Rechtsposition des Schuldners eingegriffen wird. Durch die Abweisung bzw. durch einen Prozessentscheid wird zudem eine allfällige provisorische Pfändung definitiv, womit das Verfahren vorangetrieben wird. Es liegt somit eine Betreibungshandlung vor.
3.5 Weil die Zustellung des Nichteintretensentscheids der Vorinstanz eine Betreibungshandlung i.S.v. Art. 56 SchKG darstellt, gelangt der Fristenstillstand nach Art. 63 SchKG zur Anwendung. Aufgrund des Vorbehalts in Art. 145 Abs. 4 ZPO bleibt für die Gerichtsferien nach Art. 145 ZPO somit kein Raum mehr.
3.6 Im Ergebnis hat der Berufungskläger die Berufungsfrist (Art. 311 Abs. 1 ZPO), welche durch die Betreibungsferien bis am 6. August 2014 verlängert worden ist, mit seiner Eingabe vom 18. August 2014 verpasst.
Entscheid ZK 14 387 der 1. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 18.12.2014
Strafprozessrecht
Prozessdauer von zehn Jahren keine Verschleppung
Eine Verfahrensdauer von zehn Jahren stellt nicht in jedem Fall eine Verschlep-pung dar. So das Bundesgericht im Fall eines Verfahrens wegen Anlagebetrugs.
Sachverhalt:
Mit Verfügung vom 12. Oktober 2004 eröffnete die Bundesanwaltschaft gegen C. und gegen unbekannte Täterschaft die Strafverfolgung wegen des Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs, eventuell der Veruntreuung sowie der Geldwäscherei. Später dehnte sie das Verfahren auf B. aus. Zur Debatte standen Delikte – begangen zwischen Herbst 2001 und Oktober 2004 in Basel, Zürich und anderswo in der Schweiz – zum Nachteil von rund 2000 Anlegern. Die Privatklägerin A., die eine Zivilforderung von Fr. 551 068.30 geltend machte, erhob am 18. Juni 2014 Beschwerde bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts und beantragte, es sei festzustellen, dass die Bundesanwaltschaft das Beschleunigungsgebot verletzt und sich der Rechtsverzögerung schuldig gemacht hat.
Aus den Erwägungen:
2.2 Im Rahmen ihrer Rechtsverzögerungsbeschwerde bringt die Beschwerdeführerin vor, es liege eine massive Verfahrensverschleppung vor. Als Privatklägerin ist sie Partei des Strafverfahrens und als solche zur erhobenen Rüge
Bremse antippen ist zulässig
Das blosse Antippen der Bremse, um den zu nahe folgenden Fahrzeuglenker auf sein gefährliches Verhalten aufmerksam zu machen, wodurch das Fahrzeug nicht oder nur unwesentlich verzögert wird, gilt nicht als brüskes Bremsen und verletzt deshalb keine Verkehrsregel. Die Verantwortung, einen ausreichenden Abstand nach vorn zu wahren, trifft allein den hinterherfahrenden Lenker.
Bundesgericht 6B_797/2014 vom 23.12.2014
Strafverfahren gegen Finma-Mitarbeiter
Greift ein Konkursliquidator in Ausübung seiner Tätigkeit eine Person tätlich an und wird er deshalb in ein Strafverfahren verwickelt, gehören die aus dem Strafverfahren entstandenen Kosten nicht in die Schlussabrechnung. Segnet ein Finma-Mitarbeiter diese Schlussabrechnung trotzdem ab, ist gegen ihn ein Strafverfahren wegen Verdachts auf Amtsmissbrauch und eventuell Veruntreuung durchzuführen.
Bundesstrafgericht BB.2014.84 vom 14.1.2015
Bissiger Hund muss eingeschläfert werden
Ein Hund der Rasse Hovawart hatte zwischen 2009 und 2012 mehrere Personen zum Teil schwer gebissen, aggressiv war er vorwiegend beim Fressen. Mit den Waadtländer Behörden geht das Bundesgericht davon aus, dass vom Hund eine erhebliche Gefahr ausgeht und die Einschläferung die einzige geeignete Massnahme ist. Nur so kann das Risiko von weiteren Bissattacken ausgeschlossen werden. Eine dauerhafte Haltung des Hundes in einem Zwinger ist nach Meinung des Bundesgerichts mit der Würde des Tieres gemäss Tierschutzgesetz nicht vereinbar.
Bundesgericht 2C_546/2014 vom 9.1.2015
Gemeinde darf gegen Einbürgerung intervenieren
Bürgert das Staatssekretariat für Migration eine Person erleichtert ein, kann die Wohnsitzgemeinde der betreffenden Person intervenieren, wenn ihrer Meinung nach die Einbürgerungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. In casu handelte es sich um eine Kosovarin, deren Integration und Sprachkenntnisse nach Meinung der Gemeinde ungenügend sind. Zudem wurden gegen den Ehemann Betreibungen im Umfang von 120 000 Franken erhoben und die Gemeinde musste die Familie mit 33 000 Franken Sozialhilfe unterstützen. Der Fall geht zur weiteren Abklärung an das Staatssekretariat zurück.
Bundesverwaltungsgericht C-4307/2014 vom 19.1.2015
Entscheidend ist das rechtliche Kindesverhältnis
Nach dem Tod einer eritreischen Asylbewerberin errichtete die Kesb für drei bei Pflegefamilien untergebrachte Kinder eine Vormundschaft. Der Partner der Mutter wehrte sich dagegen und argumentierte, die elterliche Sorge sei ihm zu übertragen, da er mit der Mutter verheiratet sei. Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Mannes ab. Ein rechtliches Kindesverhältnis sei zu verneinen, weil die religiöse Zeremonie in Italien im Jahre 2010 stattgefunden hatte, die Kinder aber vor diesem Datum geboren worden waren. Dass allenfalls ein biologisches Kindesverhältnis gegeben ist, bleibt laut Bundesgericht ohne Bedeutung.
Bundesgericht 5A_684/2014 vom 3.12.2014
Keine Produktehaftung von Bayer für Antibabypille
Die Herstellerin der Schwangerschaftsverhütungspille «Yasmin» haftet nicht für schwere Gesundheitsschäden einer jungen Frau, die nach einer Lungenembolie und als Folge des Sauerstoffmangels eine schwere Hirnschädigung erlitt und seither invalid ist. Bayer kann nicht vorgeworfen werden, in der Patienteninformation mangelhaft über die Risiken informiert zu haben. Gemäss Gesetz über die Produktehaftpflicht ist ein Produkt dann fehlerhaft, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die man unter Berücksichtigung aller Umstände erwarten darf. Bei rezeptpflichtigen Medikamenten ist davon auszugehen, dass der Patientin in der Regel das Fachwissen fehlt, um die Gefahren richtig einschätzen zu können. Das Wissen des Arztes, der die Chancen und Risiken der verschiedenen auf dem Markt erhältlichen Produkte kennt, ist deshalb miteinzubeziehen.
Bundesgericht 4A_365/2014 und 4A_371/2014 vom 5.1.2015
Restriktive Praxis bei Fristwiederherstellung
Die Praxis zur Fristwiederherstellung ist sehr restriktiv, darf doch im Interesse der Rechtssicherheit und eines geordneten Verfahrens ein Hinderungsgrund nicht leichthin angenommen werden. Nicht als unverschuldete Hindernisse gelten Unkenntnis der gesetzlichen Vorschriften, Arbeitsüberlastung, Ferienabwesenheit oder organisatorische Unzulänglichkeiten. So entschied das Bundesverwaltungsgericht im Fall eines Anwalts, der den Kostenvorschuss nicht rechtzeitig einbezahlt hat, weil aufgrund eines Büroversehens der Betrag intern falsch verrechnet wurde.
Bundesverwaltungsgericht C-31/2015 vom 19.2.2015
Signal «Schleudergefahr» war ausreichend
Ein Motorradfahrer stürzte auf der Brünigstrecke. Es zeigte sich, dass auf dem Strassenabschnitt der Griffigkeitswert leicht ungenügend war, was dem Bundesamt für Strassen (Astra) bekannt war. Das Bundesgericht hat eine Haftungsklage des Motorradfahrers abgewiesen. Mit dem Aufstellen der Tafel «Schleudergefahr» als Sofortmassnahme eine Woche vor dem Unfall und dem Beschluss, die Strasse innert zweier Monate zu sanieren, habe das Astra ausreichende Vorkehrungen getroffen.
Bundesgericht 4A_286/2014 vom 15.1.2015
Unterführung für Vieh ist zu teuer
Die Forderung zweier Landwirte, dass die Appenzeller Bahnen bei der Sanierung der Bahnstrecke St. Gallen–Trogen eine Unterführung für den Viehtrieb bauen, kann aus finanziellen Überlegungen nicht befolgt werden. 350 000 Franken für eine Unterführung erscheinen auch dem Bundesverwaltungsgericht als zu hoch. Die Bahnen klären nun ab, ob mit einer Bedarfsschranke genügend Zeit für die Querung des Überganges vor der nächsten möglichen Zugsdurchfahrt bleibt.
Bundesverwaltungsgericht A-1664/2014 vom 17.2.2015
Militärdienstverweigerung kann Asylgrund sein
Eine drohende Strafe wegen Wehrdienstverweigerung und Desertion ist nicht als asylrechtlich relevante Verfolgung zu qualifizieren, wenn sie allein der Sicherstellung der Wehrpflicht dient. Für die Frage der Flüchtlingseigenschaft von Bedeutung ist eine Bestrafung nur dann, wenn ihr zusätzlich asylrechtlich relevante Motive zugrunde liegen, entschied das Bundesverwaltungsgericht im Fall eines syrischen Regimekritikers, dem eine unverhältnismässig hohe Strafe droht.
Bundesverwaltungsgericht D-5553/2013 vom 18.2.2015
Beifahrer zog Handbremse bei Tempo 120
Wer als Beifahrer auf der Autobahn bei Tempo 120 die Handbremse zieht, verletzt nicht nur elementarste Verkehrsregeln, sondern bringt die Insassen in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr. Der Täter kann wegen Gefährdung des Lebens verurteilt werden.
Bundesgericht 6B_794/2014 vom 9.2.2015
Für alle im Kanton tätigen Anwälte zuständig
Laut dem Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwälte erstreckt sich die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden auf alle Anwältinnen und Anwälte, die ihren Beruf auf dem Gebiet eines Kantons ausüben, unabhängig davon, ob sie dort eine Geschäftsadresse haben oder nicht. Von der Aufsicht der kantonalen Behörden werden somit auch ausserkantonal registrierte Anwälte erfasst, sobald sie im Rahmen eines Verfahrens vor einer Gerichts- oder Verwaltungsbehörde des betreffenden Kantons tätig werden.
Bundesgericht 2C_551/2014 vom 9.2.2015 upi
Staats-/Verwaltungsrecht
< Das Steuerrecht unterscheidet bei Bilanzkorrekturen zwischen der Bilanzberichtigung und der Bilanzänderung. Bei einer Bilanzberichtigung wird ein handelsrechtswidriger durch einen handelsrechtskonformen Wertansatz ersetzt, während bei einer Bilanzänderung ein handelsrechtskonformer Wertansatz durch eine andere, ebenfalls handelsrechtskonforme Bewertung ersetzt wird.
2C_1218/2013 vom 19.12.2014
< Der Sinn des Erstanmelderschutzes von Art. 12 Heilmittelgesetz besteht darin, vertrauliche Daten, die ein Erstanmelder im Rahmen der Zulassung vorzulegen hat und die oft unter erheblichen Investitionen erstellt worden sind, vor unlauterer gewerblicher Verwendung zu schützen. Der Schutz soll so lange währen, bis ein Zweitanmelder sich zulässigerweise auf die Daten stützen darf, sei es aufgrund einer finanziellen Gegenleistung im Einvernehmen mit dem Erstanmelder oder nach Ablauf einer gewissen Zeitdauer.
2C_453/2014 vom 9.1.2015
Zivilrecht
< Zwei ehemaligen Angestellten muss die HSBC Private Bank (Suisse) Kopien jener Dokumente aushändigen, die sie 2012 zu deren Person an die US-Justizbehörden übermittelt hat. Laut Bundesgericht kann sich die Bank weder auf das Bankgeheimnis noch auf das Datenschutzgesetz berufen, um die Dokumente nicht herauszugeben. Da die früheren Mitarbeiter weiterhin an das Bankgeheimnis gebunden sind, ist die Befürchtung der Bank zu relativieren, sensible Daten könnten an die Öffentlichkeit gelangen.
4A_406/2014 und 4A_408/2014 vom 12.1.2015
< Lautet ein Mietvertrag auf mehrere Mieter, steht jedem Mieter das Recht zu, sich gegen die Kündigung zu wehren oder eine Mieterstreckung zu verlangen. Aufgrund der Regeln über die notwendige Streitgenossenschaft sind jedoch stets alle Mieter in den Prozess einzubeziehen. Ein Kündigungsschutz- oder Erstreckungsverfahren hat sich daher gegen den Vermieter und die abseits stehenden Mieter zu richten.
4A_201/2014 vom 02.12.2014
< Die Bestimmung von Art. 113 der Zivilprozessordnung, wonach im Schlichtungsverfahren keine Parteientschädigung gesprochen wird, hindert den Richter nicht daran, einem Anwalt eine Entschädigung zuzusprechen, wenn sich dieser mit allen Details eines Falles im Hinblick auf den Sachentscheid vertraut gemacht hat.
4A_463/2014 vom 23.1.2015
< Der zeitliche Kündigungsschutz nach Art. 271a Abs. 1 lit. d OR greift mit der Klageerhebung bis zur rechtskräftigen Erledigung des Verfahrens, unabhängig davon, wann der Vermieter über das Verfahren orientiert wurde oder davon nach Treu und Glauben hätte wissen können.
4A_482/2014 vom 20.1.2015
Strafrecht
< Nicht jedes Verhalten, das die Elemente des untauglichen Versuchs an sich erfüllt und damit nach Art. 22 Abs. 1 StGB strafbar ist, stellt sich auch als strafwürdiges und strafbedürftiges Unrecht dar. Die strafrechtliche Erfassung und Pönalisierung eines solchen Verhaltens ergibt keinen Sinn. Strafbar sollen untaugliche Verhaltensweisen daher grundsätzlich nur sein, wenn und soweit sie sich als ernstlicher Angriff auf die rechtlich geschützte Ordnung darstellen. Erforderlich ist damit – neben dem Deliktsverwirklichungswillen – eine minimale objektive Gefährlichkeit des Täterverhaltens, wie das Bundesgericht im Fall eines untauglichen, straflosen Betrugsversuchs festhielt.
6B_183/2014 vom 28.10.2014
< Bringt ein sorgeberechtigter Elternteil sein Kind eigenmächtig und klarerweise gegen dessen Interessen an einen fremden Aufenthaltsort im Ausland, kann er – nebst Entziehens von Minderjährigen – auch wegen Entführung verurteilt werden. Eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung entfällt, weil die körperliche Fortbewegungsfreiheit der Kinder durch das Vorgehen des Vaters nicht aufgehoben wurde. In casu handelte es sich um einen Mann, der seine Söhne ohne Wissen der Mutter dauerhaft zu Verwandten an einen unbekannten Ort in Nigeria verbracht hat.
6B_123/2014 vom 2.12.2014
< Das Bundesgericht hat die Verurteilung eines Täters wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe bestätigt, der seinen Geliebten mit 47 Messerstichen umgebracht hat. Der Täter hatte kaltblütig, brutal und grausam gehandelt sowie sein Opfer aus nichtigem Anlass und ohne Motiv getötet.
6B_600/2014 vom 23.1.2015
< Eine Mehrfachbegutachtung mehrerer Tatbeteiligter durch denselben Sachverständigen kann – unter dem Blickwinkel des Anscheins der Befangenheit – problematisch sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn aufgrund der Fragestellung an den Sachverständigen die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich dieser im Hinblick auf die Beziehung zwischen den Angeklagten nicht frei, sondern nur unter Mitberücksichtigung der anderen Exploranden äussern kann. Im Fall der Schenkkreismorde kommt das Bundesgericht jedoch zum Schluss, dass die erfolgte Mehrfachbegutachtung rechtens war.
6B_648/2014 vom 28.1.2015
Sozialversicherungsrecht
< «Dirt Jumping» – akrobatische Sprünge mit dem Fahrrad über künstliche Hügel – gilt versicherungsrechtlich als absolutes Wagnis. Die Unfallversicherung darf deshalb ihre Taggeldleistungen kürzen, wenn sich ein «Dirt Biker» bei dieser Sportart verletzt. Keine Rolle spielt es, ob sich der Unfall bei einem Wettkampf oder beim Ausüben des Hobbys ereignet.
8C_762/2014 vom 19.1.2015
< Wer von Taliban entführt und in Geiselhaft genommen wird und nach der Befreiung an posttraumatischen Störungen leidet, hat keinen Anspruch auf Geldleistungen der Unfallversicherung. Laut Bundesgericht ist eine Fahrt durch nördliche Gebiete Pakistans ohne bewaffnete Eskorte ein absolutes Wagnis in einem besonders schweren Fall. Die Frage, ob überhaupt ein Unfall – Schreckereignis – vorliegt, war nicht Gegenstand des Verfahrens, das Bundesgericht hat deshalb diesen Punkt offengelassen.
8C_605/2014 vom 6.2.2015 upi
Rückführung eines Asylbewerbers nach Italien erlaubt
Der Gerichtshof hat die Beschwerde eines somalischen Asylbewerbers gegen seine Rückführung von den Niederlanden nach Italien als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Der einstimmige Entscheid betont die Unterschiede zum Grundsatzurteil «Tarakhel c. Schweiz» vom 4.11.2014 (plädoyer 1/15, S. 66), das eine Familie mit sechs minderjährigen Kindern und nicht einen 1994 geborenen Mann betraf. Die Unterbringungssituation in Italien lasse sich auch nicht mit jener in Griechenland vergleichen.
Zulässigkeitsentscheid der 3. EGMR-Kammer N° 51428/10 «A.M.E. c. Niederlande» vom 13.1.2015
Beschwerde hinfällig durch nachträgliches Bleiberecht für Tamilen
Mit Beschwerden an den EGMR wehrten sich zwei abgewiesene Asylbewerber 2013 gegen die Ausschaffung nach Sri Lanka. Sie brachten vor, dort drohe ihnen eine konventionswidrige Behandlung (Art. 3 ERMK). Die Schweiz informierte den Gerichtshof, dass die Behörden die beiden Fälle nochmals geprüft und beurteilt haben. Angesichts der Entwicklungen in Sri Lanka gewähre das Bundesamt für Migration in einem Fall Asyl.
Im zweiten Fall ging es um einen 2010 wegen schwerer Straftaten verurteilten Tamilen, der ursprünglich ausgeschafft werden sollte. Nach einer neuen Beurteilung durch die kantonale Behörde gewährte ihm das Bundesamt im September 2014 die Wiederaufnahme auf Schweizer Staatsgebiet. Der Gerichtshof hat darauf ihre Beschwerden aus dem Register gestrichen.
Entscheide der 2. EGMR-Kammer N° 36801/13 «T.E. c. Schweiz» vom 13.11.2014 und N° 30349/13 «K.U. c. Schweiz» vom 20.1.2015
Medizinische Versorgung eines psychisch Kranken im Gefängnis ausreichend
2005 verurteilte das Zürcher Bezirksgericht einen psychisch kranken Mann wegen verschiedener Delikte zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten. Aufgrund einer Manie mit psychotischen Symptomen attestierte ihm das Strafgericht eine teilweise Schuldunfähigkeit und ordnete als stationäre Massnahme die Einweisung in eine psychiatrische Klinik an. Da sein Verhalten nicht mehr tragbar war und er die Behandlung verweigerte, wurde er 2006 aus der Klinik Königsfelden ins Bezirksgefängnis Pfäffikon überführt. Dort erhielt er ärztliche Betreuung. Im Januar 2007 kam er frei.
Anschliessend verlangte der 1980 Geborene eine Entschädigung, weil er entgegen Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK rechtswidrig inhaftiert gewesen sei. Das Bundesgericht hielt am 15. Februar 2008 (6B_486/2007) fest, die Behörden hätten ernsthafte Anstrengungen unternommen, um den Mann in einer Klinik zu platzieren. Auch der Gerichtshof verneint einstimmig einen EMRK-Verstoss. Die medizinische Betreuung in Sicherheitshaft sei angemessen gewesen.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 43368/08 «Papillo c. Schweiz» vom 27.1.2015
Keine Zweifel an Rechtsmediziner in Waadtländer Mordprozess
Nach einem Indizienprozess verurteilte das Waadtländer Appellationsgericht im November 2012 einen Franzosen wegen Ermordung seiner Stiefmutter. Das Bundesgericht akzeptierte das Strafmass von 14 Jahren (6B_514/2014 vom 30.9.2014). Der EGMR verneint einstimmig eine Verletzung der Verfahrensfairness (Art. 6 EMRK). Er verwirft den Einwand, das Appellationsgericht hätte das dritte rechtsmedizinische Gutachten nicht beachten dürfen, weil der Verfasser wegen seiner Nähe zum Erstgutachter voreingenommen gewesen sei.
Zulässigkeitsentscheid der 2. EGMR-Kammer N° 10122/14 «Segalat c. Schweiz» vom 16.12.2014
Abschmettern einer Laienbeschwerde verstösst nicht gegen Konvention
Mit einer wenige Zeilen umfassenden Urteilsbegründung verweigerte der Präsident der I. Zivilabteilung des Bundesgerichts am 9. Oktober 2007 (4A_401/2007) das Eintreten auf die von einem juristischen Laien erhobene Beschwerde in Zivilsachen. Der Beschwerdeführer hatte ohne Anwalt ein Urteil des Luzerner Obergerichts in einem Schadenersatzprozess gegen die frühere Arbeitgeberin angefochten. In Strassburg argumentierte der 1982 geborene Mann vergeblich, die formellen Anforderungen des Bundesgerichts versperrten Laien in konventionswidriger Weise den Zugang zu einer gerichtlichen Beurteilung. Der EGMR hält fest, die verlangte Präzision der Eingabe ans Bundesgericht beruhe auf ausreichenden gesetzlichen Grundlagen.
Zulässigkeitsentscheid der 2. EGMR-Kammer N° 6830/08 «Büchel c. Schweiz» vom 9.12.2014
Sendung Kassensturz: Gerichtshof akzeptiert Einsatz versteckter Kamera
Der Gerichtshof hat sich erstmals zur Zulässigkeit der Verwendung versteckter Kameras für Fernsehsendungen geäussert. Anlass für das Strassburger Leiturteil war eine Beschwerde von vier SRG-Mitarbeitenden, die wegen Abhörens und Aufnehmens eines nichtöffentlichen Gesprächs zu bedingten Geldstrafen verurteilt worden waren. Für einen «Kassensturz»-Beitrag hatten sie 2003 das Beratungsgespräch eines Versicherungsvertreters mit einer Journalistin heimlich aufgenommen und auszugsweise ausgestrahlt.
Die 2008 gegründete Media Legal Defence Initiative (MLDI) unterstrich im Rahmen einer Beteiligung Dritter (Art. 36 Abs. 2 EMRK) die Wichtigkeit solcher Aufnahmen für die Enthüllung von Missständen. Die zweite Kammer des EGMR hält fest, der TV-Bericht habe nicht auf die Person des Versicherungsvertreters gezielt, sondern auf die Branche. Die Aufnahmen enthüllten nur seine Haarfarbe und seine Kleidung. Der Eingriff ins Privatleben des Vertreters war daher nicht so gravierend, dass er schwerer wog als das Interesse des Publikums. Der Gerichtshof heisst die Beschwerde wegen Verletzung von Art. 10 EMRK mit 6 gegen 1 Stimmen gut.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 21830/09 «Haldimann u.a. c. Schweiz» vom 24.2.2015
Staatliche Pflicht zum Schutz der Medienleute vor Gewalttaten
Der Gerichtshof hat einmal mehr betont, dass die EMRK die Staaten dazu verpflichtet, ein günstiges Umfeld für die unerschrockene Teilnahme aller Betroffenen an öffentlichen Debatten zu schaffen. Gerade Medienleute sollen sich furchtlos äussern können. Ihre Pflicht zu ausreichenden Schutzmassnahmen verletzten die Behörden von Aserbeidschan im Falle des Journalisten Jafarov, der 2007 einen hohen Militäroffizier kritisiert hatte und wenige Stunden nach der Publikation vor seinem Büro verprügelt worden war. Obwohl Jafarov einen der Angreifer (einen Polizisten) erkannt hatte, unterliessen die Behörden Vorkehren zur Abklärung des gewalttätigen Angriffs. Der EGMR verurteilt Aserbeidschan dazu, dem Journalisten 10 000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen.
Urteil der 1. EGMR-Kammer N° 54204/08 «Uzeyir Jafarov c. Aserbeidschan» vom 29.1.2015
Konventionswidriges Informationsleck bei Telefonabhörungen
Im Rahmen eines Korruptionsstrafverfahrens erstellte Protokolle von abgehörten Telefongesprächen eines hochrangigen Politikers gelangten 2011 noch vor der Anklageerhebung an die rumänischen Medien. Für den Gerichtshof ist von grösster Bedeutung, dass der Staat seine Dienste so organisiert und seine Mitarbeitenden so schult, dass es zu keinen Indiskretionen kommt. Da die Behörden ihre Pflicht zur Abschirmung der bei ihnen verwahrten Information vernachlässigten, handelten sie konventionswidrig (Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens, Art. 8 EMRK).
Urteil der 3. EGMR-Kammer N° 22765/12 «Apostu c. Rumänien» vom 3.2.2015
Ungeeignete Haftbedingungen für Schwerbehinderten
Der zu 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilte algerische Straftäter Mohammed Helhal stürzte 2006 bei einem Ausbruchsversuch in die Tiefe. Er ist seither querschnittgelähmt. Der Gerichtshof hält fest, dass seine fortdauernde Inhaftierung nicht gegen die EMRK verstösst. Konventionswidrig waren hingegen die Bedingungen des Haftregimes. So hatte er während Jahren keinen Zugang zur Bewegungstherapie. Zudem konnte der inkontinente Gefangene nur dank der Unterstützung eines Mitgefangenen duschen. Dies bedeutete eine durch Art. 3 EMRK verbotene erniedrigende Behandlung.
Urteil der 5. EGMR-Kammer N° 10401/12 «Helhal c. Frankreich» vom 19.2.2015