Zivilprozessrecht
Anwaltliche Unabhängigkeit nicht gewahrt
Ein Anwalt darf im nichtanwaltlichen Teil seiner Berufstätigkeit keine Mandate von Kunden seines Arbeitgebers annehmen. Ein im Rahmen der Anstellung dennoch übernommenes Mandat darf er nicht in seine Anwaltskanzlei transferieren.
Sachverhalt:
Ein Anwalt war für einen nichtanwaltlichen Teil seiner Berufstätigkeit bei einem Nicht-Anwalt angestellt. Er übernahm verbotenerweise Mandate von Kunden seines Arbeitgebers und transferierte sie in seine Kanzlei.
Aus den Erwägungen:
Es stellt sich die Frage der Vertretungsbefugnis des Vertreters der Beschwerdegegnerin im vorliegenden (Rechtsmittel-)Verfahren. Art. 68 ZPO regelt die vertragliche Vertretung im Zivilprozess. Danach sind zur berufsmässigen Vertretung in allen Verfahren Anwältinnen und Anwälte befugt, die nach dem Anwaltsgesetz vom 23. Juni 2000 berechtigt sind, Parteien vor schweizerischen Gerichten zu vertreten (Art. 68 Abs. 2 lit. a ZPO). Sodann sind vor Miet- und Arbeitsgerichten auch beruflich qualifizierte Vertreter befugt, soweit das kantonale Recht dies vorsieht (Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO; siehe hierzu § 11 AnwG).
Das Privileg von lit. d gilt jedoch nur für die Miet- und Arbeitsgerichte sowie die vorgelagerten Schlichtungsbehörden, nicht hingegen auch für die diesbezüglichen Rechtsmittelverfahren (vgl. beispielsweise Gasser / Rickli, ZPO, Art. 68 N 7, BSK-Tenchio, Art. 68 N 13 sowie BK-Hrubesch-Millauer, Art. 68 N 9, die alle die Rechtsmittelinstanz nicht erwähnen).
Dr. X trat vor der Vorinstanz im Rahmen seiner Tätigkeit für den Verband Y auf, und somit als Vertreter im Sinne von Art. 68 Abs. 2 lit. d ZPO. Wie ausgeführt, fällt eine solche Vertretung im Rechtsmittelverfahren ausser Betracht. Zwar ist Dr. X neben dieser Tätigkeit auch als Rechtsanwalt in einer Anwaltskanzlei tätig und hierfür im Anwaltsregister eingetragen. Dennoch fällt in dieser Konstellation eine Vertretung nach Art. 68 Abs. 2 lit. a ZPO ausser Betracht: In der Tätigkeit für den Verband Y fehlt es an der Unabhängigkeit und folglich auch am entsprechenden Registereintrag (vgl. Art. 4 und 8 Abs. 1 lit. d BGFA).
Dass er das Mandat nun als Rechtsanwalt der Anwaltskanzlei übernehmen würde, ist sodann aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit ausgeschlossen (vgl. hierzu BGer 4A_38/ 2013 vom 12. April 2013 = Pra 102/2013 Nr. 113 E. 1). Es ist Dr. X Frist anzusetzen, um zur Vertretung der Beschwerdegegnerin im Rechtsmittelverfahren Stellung zu nehmen.
Verfügung PD140011-O/Z01 des Obergerichts des Kantons Zürich vom 17.9.2014
Berechtigtes Vertrauen auf Fristerstreckung
Beantragt eine Partei eine Fristerstreckung wenige Tage vor Fristablauf, darf sie annehmen, die Erstreckung werde gewährt oder das Gericht würde die Ablehnung noch vor Fristablauf zustellen. Dazu kommt, dass bei Abweisung des Gesuchs auf Erstreckung in der Regel eine – ganz kurze – Nachfrist gewährt wird.
Sachverhalt:
Nach dem summarischen Verfahren lief dem Handwerker die Frist zum Einleiten des ordentlichen Prozesses zum Eintragen seines Pfandrechts. Er verlangte und erhielt dafür vom Einzelrichter mehrere Erstreckungen. Der Grundeigentümer ist der Meinung, die letzte dieser Erstreckungen hätte nicht mehr gewährt werden dürfen, und daher sei die – mittlerweile erfolgte – Klageanhebung verspätet.
Aus den Erwägungen:
2.1 Die Beklagten weisen zur Begründung ihrer Beschwerde darauf hin, bereits die zweite Fristerstreckung (vom 7. Februar 2014 bis 17. März 2014) sei «letztmals» bewilligt worden. Sodann sei die weitere Erstreckung (vom 13. März 2014 bis 7. April 2014) «einmalig» bewilligt worden. Die Vorinstanz habe beide Erstreckungen grosszügig im Umfang von 20 Tagen bemessen. Die nun angefochtene Fristerstreckung sei sodann mit dem Vermerk «Notfristerstreckung» gewährt worden.
Die in der Begründung des Gesuchs genannten Vergleichsverhandlungen hätten indes in der fraglichen Zeitperiode nicht stattgefunden. Die Parteien hätten ein letztes Mal zwischen dem 9. und 14. März 2014 die Möglichkeit einer aussergerichtlichen Einigung ausgelotet. Ein weiterer Notfall oder schwerwiegende Gründe, welche die Gewährung einer Notfrist erfordert hätten, seien nicht erkennbar gewesen und von der Klägerin auch nicht geltend gemacht worden. Nach dem Scheitern der kurzen Vergleichsbemühungen vom 9. bis 14. März 2014 hätte die Klägerin daher genügend Zeit gehabt, um die Klage fristgerecht am 7. April 2014 einzureichen. Die Klägerin habe die Frist zur Einreichung der Klage am 7. April 2014 somit versäumt. Daher würden, so die Beklagten weiter, die Säumnisfolgen gemäss Urteil vom 5. November 2013 eintreten.
Die Klägerin brachte in der Beschwerdeantwort vor, die Beklagten hätten den Sachverhalt mit Blick auf die Vergleichsbemühungen im relevanten Zeitraum vor dem 7. April 2014 irreführend dargestellt. Insbesondere seien die Vergleichsbemühungen nach einem Schreiben des Rechtsvertreters der Beklagten auch am 31. März 2014 noch aktuell gewesen. Insgesamt sei es im März 2014 an sechs verschiedenen Daten zu teilweise ausführlichen und mehrstündigen direkten Besprechungen zwischen den Parteien oder deren Rechtsvertretern gekommen. Die Klägerin erkennt in der diesbezüglichen Schilderung der Beklagten einen Verstoss gegen Art. 52 ZPO.
Welche Vergleichsbemühungen dem streitgegenständlichen Fristerstreckungsgesuch im Einzelnen vorausgingen, ist aus den nachfolgend aufgezeigten Gründen für die Beurteilung der Beschwerde unerheblich. Darauf ist daher nicht weiter einzugehen.
2.2 Die Klägerin stützt sich (unter anderem) auf den Vertrauensschutz hinsichtlich gewährter Fristerstreckungen. Sie habe im Vertrauen auf die angefochtene Verfügung vom 4. April 2014 die Klage erst am 17. April 2014 eingereicht. In diesem Vertrauen sei sie zu schützen.
Dem ist zuzustimmen. Die Klägerin stellte ihr Fristerstreckungsgesuch am 3. April 2014 und damit vier Tage vor Fristablauf (7. April 2014). In dieser Konstellation darf eine Partei davon ausgehen, das Gericht werde die Frist erstrecken oder einen ablehnenden Entscheid noch vor Fristablauf zustellen (oder allenfalls telefonisch ankündigen). Vorliegend erfolgte keine solche Mitteilung, die Erstreckung wurde am 4. April 2014 und damit drei Tage vor Fristablauf gewährt. Darauf durfte die Klägerin vertrauen. Die beanstandete Abfolge von mehreren vorinstanzlichen Fristerstreckungen, die bereits als letztmals oder ähnlich bezeichnet wurden, ändert daran nichts.
Im Übrigen verweist die Klägerin richtig auf BGer 5A_75/2011 vom 26. Mai 2011, gemäss welchem Entscheid bei der Abweisung eines Fristerstreckungsgesuchs grundsätzlich eine kurze Nachfrist anzusetzen ist. Davon kann nur dann abgesehen werden, wenn konkrete Anzeichen dafür bestehen, dass die Nachfrist ohnehin nicht genutzt würde oder wenn das Gesuch um Fristerstreckung in dem Sinne nicht als ernsthaft betrachtet werden kann, weil die Fristerstreckung auf jeden Fall ausgeschlossen ist. Bei der bekannten Langmut, welche die Gerichte gegenüber anwaltlichen Erstreckungsgesuchen üben (indem «zureichende Gründe» häufig nicht verlangt, ja nicht einmal mehr behauptet werden), ist das Letztere nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen.
Das gilt auch bei Gesuchen um eine weitere Erstreckung einer bereits «letztmals» erstreckten Frist (BGer 5A_75/2011 vom 26. Mai 2011, E. 2). Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin eine kurze Notfrist nicht nutzen würde, waren vorliegend nicht ersichtlich. Daher hätte der Klägerin im Falle der Abweisung des Erstreckungsgesuchs zumindest eine kurze Nachfrist gewährt werden müssen. Eine solche würde nun indes ins Leere laufen, da die Klägerin ihre Klage nach ihrer Schilderung wie eingangs bemerkt bereits am 17. April 2014 angehoben hat.
2.3 Ob die Vorinstanz die streitgegenständliche Frist zu Recht bis 17. April 2014 erstreckte, kann somit offen bleiben. Die Ansicht der Beklagten, wonach die Klägerin die Frist zur Einreichung der Klage im ordentlichen Verfahren am 7. April 2014 versäumte, erweist sich damit als unzutreffend, da die Klägerin sich auf die Fristerstreckung gemäss der angefochtenen Verfügung verlassen durfte. Die Beklagten können sich daher nicht auf die Säumnisfolgen gemäss dem Urteil vom 5. November 2013 berufen (insbesondere Abschreibung des Verfahrens und Löschung des Pfandrechts auf ihr Verlangen hin). Das führt zur Abweisung der Beschwerde.
Urteil PF140019-O/U des Obergerichts des Kantons Zürich vom 15.7.2014
Klagehäufung: Zuständigkeit nach Gesamtstreitwert
Das Handelsgericht ist erst ab Streitwerten über 30 000 Franken zuständig. Bei Klagehäufung werden die Streitwerte der einzelnen Klagen aber zusammengezählt. Deshalb war das Handelsgericht Bern für ein Verfahren eines Klägers zuständig, der gestützt auf 36 Verträge Forderungen von jeweils unter 30 000 Franken einklagte.
Sachverhalt:
Die Klägerin machte 36 Kaufpreisforderungen von jeweils weniger als 30 000 Franken geltend. Gesamthaft ging es um eine Summe von rund 250 000 Franken.
Aus den Erwägungen:
19. Die Klägerin äussert sich bloss rudimentär zur sachlichen Zuständigkeit, und auf Ausführungen zur objektiven Klagehäufung verzichtet sie gänzlich. Sie beziffert den Streitwert ohne nähere Begründung mit über 30 000 Franken und erachtet alle Voraussetzungen für eine handelsrechtliche Streitigkeit ohne weiteres als gegeben.
Die Beklagte äussert sich weder zur sachlichen Zuständigkeit noch zur objektiven Klagehäufung. Eine Einlassung ist bezüglich der sachlichen Zuständigkeit des Handelsgerichts allerdings nicht möglich (vgl. etwa Vock / Nater, Basler Kommentar Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 20 zu Art. 6 ZPO). Es handelt sich hierbei um eine Prozessvoraussetzung, deren Vorliegen von Amtes wegen zu prüfen ist.
21. Die vorliegende Streitigkeit betrifft offenkundig die geschäftliche Tätigkeit der Parteien, und es sind beide im schweizerischen Handelsregister eingetragen, womit die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 2 Bst. a und c ZPO erfüllt sind. Einer näheren Prüfung bedarf hingegen die Beschwerdefähigkeit (Bst. b). Aus diesem Erfordernis wird aufgrund von Art. 74 Abs. 1 Bst. b des Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG) für das Vorliegen einer handelsrechtlichen Streitigkeit ein Mindeststreitwert von 30 000 Franken abgeleitet (vgl. BGE 139 III 67, E. 1.2).
22. Bei den klägerischen Rechtsbegehren, insbesondere Rechtsbegehren 1, handelt es sich um einen Fall der objektiven Klagehäufung, das heisst, es werden gegen eine Person mehrere Ansprüche auf einmal geltend gemacht. Die Klägerin stützt ihre Forderung nämlich auf «etliche Kaufverträge» ab, wie sie auf Seite 5 ihrer Klage selbst ausführt. Die geltend gemachte Gesamtforderung setzt sich also aus mehreren einzelnen Forderungen zusammen, die ihre Grundlage jeweils in separaten Kaufverträgen haben sollen, die je auch Gegenstand eigenständiger Klagen hätten bilden können.
Die von der Klägerin vorgenommene Änderung des Rechtsbegehrens 1, mit welcher sie die Beträge der einzelnen Forderungen zu einer Gesamtsumme zusammenrechnet, ändert am Vorliegen einer objektiven Klagehäufung – und zwar innerhalb des Rechtsbegehrens 1 – nichts. Alle geltend gemachten Forderungen für sich alleine betrachtet weisen einen Streitwert von je unter 30 000 Franken auf, zusammengerechnet beläuft sich der Streitwert auf knapp 250 000 Franken und somit auf weit über 30 000 Franken. Entscheidend ist daher, ob hinsichtlich des erforderlichen Mindeststreitwerts eine Zusammenrechnung der Streitwerte der objektiv gehäuften Ansprüche vorzunehmen ist oder nicht. Dies wiederum hängt auch mit der Zulässigkeit der objektiven Klagehäufung zusammen.
23. Für die Streitwertberechnung bei einer allfälligen Beschwerde ans Bundesgericht ist Art. 52 BGG einschlägig (vgl. zur Massgeblichkeit der Streitwertberechnung nach BGG und nicht nach ZPO bei einer Beurteilung der Voraussetzung gemäss Art. 6 Abs. 2 Bst. b ZPO Vock / Nater, a.a.O., N. 10 zu Art. 6 ZPO; Berger, Berner Kommentar Zivilprozessordnung Band I, 2012, N. 35 zu Art. 6 ZPO). Bei einer objektiven Klagehäufung erfolgt eine Zusammenrechnung, sofern sich die Ansprüche nicht gegenseitig ausschliessen, was hier nicht der Fall ist.
Art. 52 BGG eröffnet damit den Beschwerdeweg zum Beispiel bei zwei objektiv gehäuften Begehren à 20 000 Franken, da der Streitwert zusammengerechnet wird und gesamthaft 30 000 Franken übersteigt (vgl. dazu etwa, wenn auch eine subjektive Klagehäufung betreffend, Urteil des BGer 4A_530/2012 vom 17.12.2012, E. 1). Oder anders gewendet: Art. 52 BGG setzt gerade nicht voraus, dass ein einzelnes Begehren den Streitwert von 30 000 Franken alleine erreicht, um die Streitwertgrenze von Art. 74 Abs. 1 Bst. b BGG zu erfüllen. Die in der ZPO für Fälle der objektiven Klagehäufung vorgesehene Streitwertberechnung stimmt mit dieser Regelung im BGG überein (siehe Art. 93 Abs. 1 ZPO).
24. Art. 90 ZPO setzt für die Zulässigkeit der objektiven Klagehäufung voraus, dass für alle Begehren die gleiche sachliche Zuständigkeit sowie die gleiche Verfahrensart gelten. Dies ist hier an sich der Fall: Bei isolierter Betrachtung der gehäuften Ansprüche wäre aufgrund ihrer Streitwerte von jeweils unter 30 000 Franken für jeden Anspruch einzeln das Regionalgericht im vereinfachten Verfahren zuständig. Durch eine Zusammenrechnung der Streitwerte der einzelnen Ansprüche würde sich sowohl die sachliche Zuständigkeit als auch die Verfahrensart ändern – zuständig für die objektiv gehäuften Ansprüche wäre nunmehr das Handelsgericht im ordentlichen Verfahren, wobei dies für alle objektiv gehäuften Ansprüche der Fall wäre. Die unterschiedliche sachliche Zuständigkeit hängt damit ebenso wie das anwendbare Verfahren einzig und alleine vom Streitwert ab, insbesondere käme das vereinfachte Verfahren hier bezüglich der einzelnen Ansprüche nicht etwa aufgrund der Natur der Streitigkeiten zur Anwendung (vgl. Art. 243 Abs. 2 ZPO e contrario).
25. Es stellt sich zum einen die Frage, ob eine objektive Klagehäufung die sachliche Zuständigkeit ändern kann, mithin eine objektive Klagehäufung zulässig ist, wenn gerade dies ihre Folge wäre. Bundesgerichtlich entschieden wurde diese Frage soweit ersichtlich bislang noch nicht, und die Lehre ist sich hierüber uneins. Zum anderen stellt sich die Frage, ob eine objektive Klagehäufung zu einer Änderung der Verfahrensart führen kann. Nach der Darstellung der Ausgangslage und der vertretenen Ansichten gilt es, diese Fragen vorliegend zu entscheiden.
28. Bezüglich des Kriteriums derselben Verfahrensart sieht Art. 93 Abs. 2 ZPO hinsichtlich Streitwertberechnung ausdrücklich vor, dass bei einer subjektiven Klagehäufung trotz Zusammenrechnung der Streitwerte die Verfahrensart dieselbe bleibt. Im Umkehrschluss ergibt sich hieraus, dass bei einer objektiven Klagehäufung eine Änderung der Verfahrensart, namentlich ein Wechsel vom vereinfachten Verfahren zum ordentlichen Verfahren, erfolgt, wenn die Verfahrensart einzig vom Streitwert abhängig ist (vgl. etwa Gasser / Rickli, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, N. 2 zu Art. 93 ZPO und N. 10 zu Art. 90 ZPO). Dies wiederum impliziert, dass eine solche durch die objektive Klagehäufung bewirkte Änderung der Verfahrensart zulässig sein muss. M.a.W. muss die Verfahrensart, welche auf jeden Anspruch einzeln zur Anwendung gelänge, nicht dieselbe sein, wie sie auf die objektiv gehäuften Ansprüche zur Anwendung gelangt.
30. Erwähnenswert ist aber, dass sich auch hinsichtlich der Verfahrensart eine vergleichbare Frage nach der Anwendungsreihenfolge von Art. 90 und 93 ZPO wie bezüglich der sachlichen Zuständigkeit stellt, namentlich dann, wenn ein im ordentlichen Verfahren zu beurteilender Anspruch von über 30 000 Franken mit einem solchen gehäuft werden soll, der einzig aufgrund seines Streitwerts von unter 30 000 Franken für sich alleine im vereinfachten Verfahren zu beurteilen wäre.
33. Eine ausdrückliche Anwendungsreihenfolge von Art. 90 und 93 ZPO lässt sich dem Wortlaut dieser Bestimmungen nicht entnehmen. Die Botschaft zur ZPO hilft ebenso wenig weiter wie die Gesetzessystematik. Zwar steht Art. 90 ZPO vor Art. 93 ZPO. Allerdings hält bereits Art. 4 Abs. 2 ZPO fest, dass für die Streitwertberechnung die Bestimmungen der ZPO und damit u.a. auch Art. 93 ZPO massgeblich sind, sofern die sachliche Zuständigkeit hiervon abhängt. Ein klarer Anwendungsvorrang der einen Bestimmung vor der anderen lässt sich aus der Gesetzessystematik daher nicht ableiten. Ausschlaggebend sind daher Sinn und Zweck von über die sachliche Zuständigkeit und die anwendbare Verfahrensart entscheidenden Streitwertgrenzen, wie sie in Art. 6 Abs. 2 Bst. b ZPO i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Bst. b BGG und in Art. 243 Abs. 1 ZPO enthalten sind.
34. Die Beschwerdefähigkeit als Voraussetzung der handelsgerichtlichen Zuständigkeit gemäss Art. 6 Abs. 2 Bst. b ZPO begründet sich aus der Durchbrechung des Grundsatzes der double instance. Das Handelsgericht ist die einzige kantonale Instanz, weshalb eine Überprüfung seiner Entscheide durch das Bundesgericht sichergestellt sein muss, andernfalls eine einzige Instanz erst- und zugleich auch letztinstanzlich urteilen würde, was aus rechtsstaatlicher Sicht nicht anginge. Die Streitwertgrenze für die Beschwerde ans Bundesgericht wiederum rechtfertigt sich primär mit dessen Entlastung (vgl. BBl 2001 4229 und 4308).
Das Verhältnis zwischen Art. 74 Abs. 1 Bst. b und Abs. 2 Bst. b BGG hat das Bundesgericht dahingehend geklärt, dass bei von Handelsgerichten entschiedenen Streitigkeiten für die Beschwerde ans Bundesgericht zwar kein Mindeststreitwert zu beachten ist (Art. 74 Abs. 2 Bst. b BGG; damit erübrigt sich übrigens auch die Angabe eines Streitwerts in den Rechtsmittelbelehrungen der Handelsgerichte gemäss Art. 112 Abs. 1 Bst. d BGG), ein solcher für die Bejahung einer handelsrechtlichen Streitigkeit durch das Handelsgericht aber (abgeleitet aus Art. 74 Abs. 1 Bst. b BGG) gleichwohl erforderlich bleibt (BGE 139 III 67 E. 1.2).
Den Zweck dieser dergestalt begründeten Streitwertgrenze erläutert das Bundesgericht zwar nicht. In Anbetracht dessen, dass Handelsgerichte Fachgerichte sind und regelmässig in Dreierbesetzung tagen, rechtfertigt sich eine solche Mindeststreitwertgrenze aber auch bei ihnen aus Entlastungsgründen und wegen des gebotenen schonungsvollen Umgangs mit den beschränkten staatlichen Mitteln. Die spezialisierten Handelsgerichte sollen sich auf «bedeutende» Fälle konzentrieren können und sich nicht mit Streitigkeiten von geringem wirtschaftlichem Wert auseinandersetzen müssen. Damit stimmt überein, dass Handelsgerichte einzig ordentliche Verfahren durchführen können und dürfen (vgl. Art. 243 Abs. 3 ZPO). Andere Beweggründe für das Erfordernis eines Mindeststreitwerts bei handelsgerichtlichen Streitigkeiten sind nicht ersichtlich.
35. Die wirtschaftliche Bedeutung eines einzelnen Anspruchs über 250 000 Franken ist nun dieselbe wie die mehrerer objektiv gehäufter Ansprüche über einen Gesamtbetrag in ebendieser Höhe; eine Erkenntnis, die im Übrigen auch der Regelung von Art. 52 BGG und Art. 93 Abs. 1 ZPO zugrunde liegen dürfte (dahingehend etwa Rüegg, Basler Kommentar Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2013, N. 1 zu Art. 93 ZPO).
Im ersten Fall steht fest, dass der Gesetzgeber nach Abwägung zwischen Bedeutung des Falls einerseits und Arbeitsbe- resp. -entlastung der Handelsgerichte andererseits die Beurteilung eines solchen Falls durch ein Handelsgericht als sachgerecht und angemessen erachtet. Konsequenterweise muss dies auch für den zweiten Fall gelten. Dies hat logischerweise zur Folge, dass in einem ersten Schritt jeweils die Streitwerte zusammenzurechnen sind, um die wirtschaftliche Bedeutung einer Streitigkeit zu eruieren, und erst in einem zweiten Schritt zu prüfen ist, ob für alle Ansprüche dasselbe Gericht sachlich zuständig ist.
36. Gegen dieses Ergebnis spricht nicht, dass dadurch der Klägerschaft in einem gewissen Ausmass die Möglichkeit in die Hand gegeben wird, mittels objektiver Klagehäufung resp. Verzichts hierauf die sachliche Zuständigkeit zu steuern. Denn der ZPO ist ein Wahlrecht bezüglich der sachlichen Zuständigkeit der Handelsgerichte ohnehin nicht fremd, vielmehr ist ein solches in Art. 6 Abs. 3 ZPO für bestimmte Fälle sogar ausdrücklich vorgesehen. Und auch das Institut der Teilklage (Art. 86 ZPO) eröffnet der Klägerschaft eine vergleichbare Beeinflussungsmöglichkeit der sachlichen Zuständigkeit. Ist dies dort angängig, kann es sich hier nicht anders verhalten.
37. Im Ergebnis gleich verhält es sich bezüglich der Verfahrensart. Gemäss Botschaft soll das vereinfachte Verfahren für Streitigkeiten mit einem Streitwert unter 30 000 Franken ein «einfaches, bürgernahes und laienfreundliches Verfahren für den Gerichtsalltag» schaffen (BBl 2006 7245). Der ordentliche Prozess ist demgegenüber «grösseren Fällen vorbehalten» (BBl 2006 7345). Dahinter stehe der Gedanke, dass «ein grosser vermögensrechtlicher Prozess zwischen Gesellschaften nicht gleich ablaufen soll wie eine kleine Streitigkeit zwischen Privatpersonen» (so Killias, Berner Kommentar Zivilprozessordnung Band II, 2012, N. 1 Vorbemerkungen zu Art. 243 ff. ZPO).
Ist die wirtschaftliche Bedeutung eines Prozesses eher gering, so trägt die ZPO dem mit ihren diversen Vereinfachungen und Entlastungen des vereinfachten Verfahrens Rechnung, wodurch gerade auch der Verhältnismässigkeit Nachachtung verschaffen wird. Mit Ausnahme der in Art. 243 Abs. 2 ZPO vorgesehenen Streitigkeiten ist es jedoch nicht die Natur der Ansprüche, die eine Behandlung im vereinfachten Verfahren rechtfertigt, sondern einzig deren wirtschaftliche Tragweite. Ausschlaggebend für die Unterscheidung ist also auch hier nur die wirtschaftliche Bedeutung der Streitigkeit. Aus denselben Überlegungen wie bezüglich der sachlichen Zuständigkeit ist infolgedessen auch bezüglich des Kriteriums der Verfahrensart bei einer objektiven Klagehäufung zunächst die gesamthafte wirtschaftliche Bedeutung des Falls zu eruieren, sind also die Streitwerte zusammenzurechnen, und es ist erst danach zu prüfen, ob alle Ansprüche derselben Verfahrensart unterstehen.
38. Angewendet auf vorliegenden Fall, heisst dies, dass für die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit vom Gesamtstreitwert aller objektiv gehäuften Ansprüche von rund 250 000 Franken auszugehen ist (anders: Urteil des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 16.10.2012, CAN online 2013 Nr. 12, in einem summarischen Verfahren). Damit ist der erforderliche Streitwert erreicht, die Beschwerdefähigkeit i.S.v. Art. 6 Abs. 2 Bst. b ZPO ist zu bejahen. Wie bereits ausgeführt, sind die Voraussetzungen gemäss Art. 6 Abs. 2 Bst. a und c ZPO bei allen Ansprüchen erfüllt, ergo ist die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts für alle Ansprüche gegeben.
Entscheid HG 13 98 des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 23.6.2014
Strafprozessrecht
DNA-Proben auf Vorrat sind nicht zulässig
Die Berner Polizei legte auf Anweisung der Staatsanwaltschaft nach einem Protest gegen ein Asylsymposium DNA-Profile von vier Personen an. Solche routinemässigen Proben in Bagatellfällen sind laut Bundesgericht unzulässig.
Sachverhalt:
A. Am 30. Januar 2013 deponierte X zusammen mit drei weiteren Personen während eines Asylsymposiums in der Universität Bern Mist auf Tischen im Vortragsraum. Die Kantonspolizei nahm die Personalien der vier Personen beim Verlassen des Universitätsgebäudes auf und stellte bei einer der vier Festgenommenen (nicht X) auf dem Polizeirevier ein Informationsblatt über das Asylsymposium sicher. Alle vier Personen machten im Rahmen der polizeilichen Befragung von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch und stimmten einer erkennungsdienstlichen Behandlung nicht zu.
Dennoch veranlasste die Kantonspolizei nach telefonischer Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft bei allen vier Personen die Entnahme einer DNA-Probe mittels Wangenschleimhautabstrichs und die Erstellung von DNA-Profilen. Auf telefonische Nachfrage informierte die Universität Bern die Kantonspolizei am gleichen Tag, dass die Tische ohne Beschädigung hätten gereinigt werden können und dass keine Strafanzeige erstattet werde. Die Staatsanwaltschaft bestätigte die erkennungsdienstliche Erfassung am 31. Januar 2013 schriftlich.
Mit Strafbefehl vom 13. März 2013 verurteilte die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland X wegen Verunreinigung fremden Eigentums zu einer Busse von 100 Franken und auferlegte ihr die Verfahrenskosten von 100 Franken. Zudem verfügte sie die umgehende Löschung der erkennungsdienstlichen Daten und des DNA-Profils nach Eintritt der Rechtskraft des Strafbefehls.
X erhob gegen den Strafbefehl Einsprache mit dem Antrag, ihr sei eine Genugtuung von 1 Franken zuzusprechen, eventualiter sei an Stelle einer finanziellen Genugtuung festzustellen, dass die Durchführung der erkennungsdienstlichen Massnahmen und die Entnahme der DNA-Probe rechtswidrig erfolgt seien. Zudem sei die unverzügliche Löschung der Daten anzuordnen. Das Regionalgericht Bern-Mittelland wies die Einsprache ab, die hiergegen ergriffene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Bern am 23. Juni 2014 ab. Es stellte fest, dass die Zwangsmassnahmen rechtmässig erfolgt seien. X führte darauf Beschwerde in Strafsachen.
Erwägungen:
1.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die Zwangsmassnahmen seien sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht rechtswidrig. Die Kantonspolizei könne lediglich die nicht invasive Entnahme einer DNA-Probe anordnen, nicht hingegen die Erstellung eines DNA-Profils. Die im polizeilichen Auftrag zur DNA-Profil-Erstellung erwähnte generelle Anweisung der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern – mit Ausnahme von tatrelevantem biologischem Material generell von allen nicht invasiv entnommenen DNA-Proben ein Profil zu erstellen – könne die erforderliche staatsanwaltliche Anordnung im konkreten Fall nicht ersetzen. Die erkennungsdienstliche Erfassung sei entgegen den gesetzlichen Vorschriften nicht schriftlich angeordnet worden.
Ein dringender Fall im Sinne von Art. 260 Abs. 3 StPO, in dem ausnahmsweise eine mündliche Anordnung genügt, habe nicht vorgelegen. Zudem könnten bei Antragsdelikten bis zur Stellung des zur Verfahrenseröffnung erforderlichen Strafantrags nur die unaufschiebbaren sichernden Massnahmen getroffen werden. Die Zwangsmassnahmen erwiesen sich angesichts des Bagatellcharakters der Tat als unverhältnismässig.
1.2 Die Vorinstanz hielt fest, die Beschwerdeführerin sei in der Vergangenheit zwar strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten, jedoch soll eine andere an der Anlasstat beteiligte Person versucht haben, zehn Tage zuvor eine ähnlich gelagerte Konferenz mittels Transparent und Kundgebung zu stören. Bei einer weiteren Person sei ein Informationsblatt sichergestellt worden, auf dem die besagte Transparentaktion abgebildet ist. Demnach habe eine erhöhte Wahrscheinlichkeit angenommen werden dürfen, dass die Beschwerdeführerin in ein anderes Delikt von gewisser Schwere, namentlich Sachbeschädigung, verwickelt gewesen sei bzw. werden könnte. Die erkennungsdienstliche Erfassung erweise sich unter Berücksichtigung der konkreten Verdachtsmomente und der Geringfügigkeit der Zwangsmassnahme als verhältnismässig.
1.3.1 Gemäss Art. 197 Abs. 1 StPO können Zwangsmassnahmen (Art. 196–298 StPO) nur ergriffen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können und die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt. Hinweise auf eine strafbare Handlung müssen erheblich und konkreter Natur sein, um einen hinreichenden Tatverdacht begründen zu können (vgl. BGE 137 IV 122 E. 3.2 S. 126; Urteile 6B_1105/2013 vom 18.7.2014 E. 3.1; 6B_830/2013 vom 10.12.2013 E. 1.4; mit Hinweisen).
1.3.2 Gemäss Art. 255 Abs. 2 lit. a StPO kann die Polizei die nicht invasive Probenahme bei Personen anordnen. Die Erstellung eines Profils ist allerdings auch in solchen Fällen von der Staatsanwaltschaft (oder vom Gericht) anzuordnen (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1241 Ziff. 2.5.5; Fricker / Maeder, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 29 zu Art. 255 StPO; Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 12 zu Art. 255 StPO; Thomas Hansjakob, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch / Hansjakob / Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 21 zu Art. 255 StPO).
1.3.3 Zweck einer erkennungsdienstlichen Erfassung gemäss Art. 260 StPO ist die Abklärung des Sachverhaltes, worunter insbesondere die Feststellung der Identität einer Person fällt (vgl. BBl 2006 1243 Ziff. 2.5.6). Die erkennungsdienstliche Erfassung wird in einem schriftlichen, kurz begründeten Befehl angeordnet. In dringenden Fällen kann sie mündlich angeordnet werden, sie ist aber nachträglich schriftlich zu bestätigen (Art. 260 Abs. 3 StPO). Zulässigkeit und Verhältnismässigkeit erkennungsdienstlicher Erfassungen sind von Amtes wegen zu überprüfen (Thomas Hansjakob, a.a.O., N. 12 zu Art. 260).
1.4.1 Die Vorinstanz hält zutreffend fest, dass die erkennungsdienstliche Erfassung im Hinblick auf die Sachbeschädigung in zeitlicher Hinsicht nicht dringlich und auch nicht erforderlich war. Dies gilt auch für die Entnahme der DNA-Probe und die Profilerstellung. Die Ereignisse vom 30. Januar 2013 waren hinsichtlich Ablauf und Beteiligung der Beschwerdeführerin, deren Identität und Wohnort den Strafverfolgungsbehörden bekannt waren, abgeklärt.
Die Zwangsmassnahmen lassen sich auch nicht mit anderen, möglicherweise von der Beschwerdeführerin begangenen oder noch zu begehenden Straftaten begründen. Insoweit fehlt es bereits offensichtlich an konkreten Anhaltspunkten, die einen hinreichenden Tatverdacht im Sinne von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO begründen könnten. Die Vorinstanz geht selbst von einem lediglich eher vagen Tatverdacht aus. Sie legt nicht dar, inwieweit der Versuch einer anderen an der Protestaktion vom 30. Januar 2013 beteiligten Person, eine zehn Tage zuvor abgehaltene Konferenz mittels Transparent und Kundgebung stören zu wollen, und das nicht bei der Beschwerdeführerin sichergestellte Informationsblatt gegen diese einen hinreichenden Tatverdacht auf ein Offizialdelikt begründen sollen, das seinerseits die Anordnung von Zwangsmassnahmen erlaubt. Dies ist auch nicht ersichtlich.
1.4.2 Die Kantonspolizei durfte die Erstellung des DNA-Profils nicht selbst anordnen. Die nicht in den Akten liegende Weisung der Generalstaatsanwaltschaft, «bei nicht invasiven Probeentnahmen gemäss Art. 255 Abs. 2 lit. a StPO (...) in den Fällen von Art. 255 Abs. 1 lit. a, b und c StPO (...) generell die Analyse der DNA-Proben zwecks Erstellung eines DNA-Profils» vorzunehmen, erweist sich in mehrfacher Hinsicht als bundesrechtswidrig.
Art. 255 StPO ermöglicht nicht bei jedem hinreichenden Tatverdacht die routinemässige (invasive) Entnahme von DNA-Proben, geschweige denn deren generelle Analyse (vgl. Urteil 1B_685/2011 vom 23. Februar 2012 E. 3.3; Fricker / Maeder, a.a.O., N. 9 zu Art. 255 StPO; Niklaus Schmid, a.a.O., N. 4 zu Art. 255 StPO; a.A. Thomas Hansjakob, a.a.O. N. 21 zu Art. 255 StPO).
Erforderlich ist eine Prüfung des jeweiligen Einzelfalls. Zudem hebt die Weisung die vom Gesetzgeber vorgesehene Differenzierung von DNA-Entnahme und DNA-Profil-Erstellung und die damit verbundenen unterschiedlichen Anordnungskompetenzen faktisch auf und überträgt diese in einer Vielzahl von Fällen der Polizei.
1.4.3 Die erkennungsdienstliche Erfassung durfte mangels Dringlichkeit nicht mündlich angeordnet werden (vgl. Art. 260 Abs. 3 StPO). Die Vorinstanz legt nicht dar, warum die personenbezogene Zwangsmassnahme im Hinblick auf mögliche weitere (Sachbeschädigungs-)Delikte unaufschiebbar gewesen sein soll.
Identität und Adresse der Beschwerdeführerin waren bekannt und die erkennungsdienstliche Erfassung hätte – wie die Vorinstanz in Bezug auf die Anlasstat in der Universität Bern zutreffend ausführt – jederzeit nachgeholt werden können. Abstrakte Zweckmässigkeitsüberlegungen vermögen die für jeden Einzelfall zu prüfenden gesetzlichen Voraussetzungen nicht zu ersetzen. Dass die sofortige Anordnung und Durchführung der Zwangsmassnahmen (auch) im Interesse der Beschwerdeführerin gelegen haben könnte, ist vor dem Hintergrund, dass sie diesen ausdrücklich widersprochen hat und anschliessend mit allen ihr zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln dagegen vorgegangen ist, nicht nachvollziehbar.
1.5 Die Beschwerde ist gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. Bei diesem Verfahrensausgang erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen einzugehen.
2. Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Urteil 6B_718/2014 der strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 10.12.2014
Staatsanwaltschaft entscheidet über Befangenheit
In einer Strafuntersuchung ist nicht die Beschwerdekammer zuständig für die Beurteilung eines Ausstandsgesuchs gegen einen Sachverständigen. Dieser Entscheid obliegt der Verfahrensleitung.
Sachverhalt:
Im Zusammenhang mit der Untersuchung des aussergewöhnlichen Todesfalls von C sel. beauftragte die Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland am 31. Januar 2014 das Institut für Rechtsmedizin (IRM) mit der Erstellung eines Gutachtens. Der Beauftragte wurde ermächtigt, einen Mitarbeiter des Instituts mit der Ausarbeitung des Gutachtens zu beauftragen. Das Gutachten wurde am 10. März 2014 von B erstellt.
Mit Verfügung vom 3. Juni 2014 ernannte die Staatsanwaltschaft B in der Strafuntersuchung gegen die Beschuldigte als sachverständige Person und zog ihn zur Einvernahme unter anderem der Beschuldigten bei. Zudem wurde er damit beauftragt, im Anschluss an die Einvernahme eine Ergänzung zum Aktengutachten vom 10. März 2014 zu verfassen. Die Beschuldigte stellte in der Folge ein Ausstandsgesuch.
Aus den Erwägungen:
2. Vorab stellt sich die Frage der Zuständigkeit. Die Beschwerdekammer trat in ihrem Entscheid BK 10 588 vom 13. Januar 2011 nicht auf das Ausstandsgesuch gegen einen Sachverständigen ein. Zur Begründung führte sie aus: L’art. 183 CPP stipule que les motifs de récusation prévus à l’art. 56 CPP pour les personnes exerçant une fonction au sein d’une autorité pénale sont applicables aux experts. Ce renvoi ne porte donc que sur les motifs de récusation (cf. Donatsch, Kommentar StPO, Zurich 2010, N 25 ad art. 183) et non pas sur la question de la compétence pour statuer sur la demande de récusation. Il en était du reste de même sous l’ancien droit de procédure (CPP-BE). La question de la compétence peut se déduire en revanche de l’interprétation de l’art. 183 CPP, l’autorité compétente pour statuer sur la demande de récusation étant logiquement la même que celle qui est habilitée à nommer l’expert ou révoquer son mandat soit en l’occurrence le ministère public, au stade actuel de la procédure.
2.1 Daran ist auch in Anbetracht des Urteils des Bundesgerichts 1B_488/2011 vom 2. Dezember 2011 betreffend einen Fall aus dem Kanton Waadt festzuhalten. Das Bundesgericht erachtete analog Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO die Beschwerdekammer als zuständig für den Entscheid über den Ausstand eines Sachverständigen.
Es kam zum Schluss, dass hinsichtlich der Zuständigkeit bei Ausstandsgesuchen gegen Sachverständige eine Gesetzeslücke bestehe, welche durch die analoge Anwendung von Art. 59 Abs. 1 lit. b StPO geschlossen werden könne. Das Bundesgericht hielt weiter fest, dass auch eine Anwendung von Art. 59 Abs. 1 lit. a StPO, also eine Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft in Frage käme. Da die Staatsanwaltschaft aber gemäss Art. 184 StPO bereits für die Ernennung zuständig sei, sei es sinnvoll, sie nicht auch über den Ausstand entscheiden zu lassen. Deshalb sei der Beschwerdekammer der Vorzug zu geben.
2.2 Beim zitierten Urteil des Bundesgerichts handelt es sich nicht um einen publizierten Leitentscheid. Die Zuständigkeitsfrage wurde nicht von den Parteien aufgeworfen und war nicht um- oder bestritten. Die knappe Begründung bestätigt, dass es sich nicht um das zentrale Thema handelte. Das Bundesgericht führte zudem keine zwingenden Gründe an, die gegen eine Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft sprechen würden, sondern sagte einzig, «il est donc préférable de laisser (le soin de statuer sur la demande de récusation visant cet expert) à une autre autorité».
2.3 Der Gesetzgeber hält in Art. 183 Abs. 3 StPO lediglich fest, dass für Sachverständige die Ausstandsgründe nach Art. 56 StPO gelten. Dieser Verweis bezieht sich aber nicht auf die Gesamtheit der Ausstandsregelungen (Art. 56 bis Art. 60 StPO) und sagt damit nichts über die Zuständigkeit aus. Art. 59 StPO regelt denn auch ausschliesslich, wer über den Ausstand entscheidet, wenn eine Strafbehörde befangen sein soll. Zur Zuständigkeit bei Ausstandsgesuchen gegen Sachverständige äussert sich die Bestimmung nicht.
Hingegen hält Art. 184 Abs. 5 StPO fest, dass die Verfahrensleitung einen Auftrag jederzeit widerrufen und neue Sachverständige ernennen kann, wenn es im Interesse der Strafsache liegt. Dasselbe mit weiteren Handlungsmöglichkeiten ergibt sich auch aus Art. 189 StPO. Das Gesetz enthält damit keine Lücke, welche die analoge Anwendung von Art. 59 StPO für die Zuständigkeit bei Ausstandsgesuchen gegen Sachverständige notwendig machen würde, sondern regelt positivrechtlich, dass die Verfahrensleitung für die Auswechslung des Experten zuständig ist. Dies muss auch für den Fall der Befangenheit gelten. Bei Vorliegen von Befangenheit ist es nicht mehr im Interesse der Strafsache, dass dieser Experte weitermacht. Die Verfahrensleitung hat ihn gestützt auf Art. 184 Abs. 5 StPO auszuwechseln, sofern Ausstandsgründe vorliegen. Dies steht auch im Einklang mit dem Umstand, dass nach System und Konzept der Strafprozessordnung die Verfahrensleitung eine (sehr) starke Stellung haben soll. Sie führt und bestimmt den Prozess ganz allein. Im Gegenstück dazu unterliegen ihre Handlungen der Beschwerde.
Die Verfahrensleitung bestimmt (unter Mitwirkungsrecht der Parteien) die Person des Experten, entscheidet, ob überhaupt ein solcher beigezogen wird, bestimmt die Fragen, erlaubt dem Experten den Beizug von Subexperten und überprüft die Fristeinhaltung. Bei der Auswahl ist sie voll verantwortlich (cura eligendo, custodiendo) dafür, dass der Experte den fachlichen Anforderungen genügt und die nötige Unabhängigkeit hat. Die Verfahrensleitung hat bereits bei der Einsetzung des Sachverständigen eine allfällige Befangenheit zu prüfen bzw. allfällig von den Parteien vorgebrachte Ausstandsgründe zu berücksichtigen. Es gibt keinen Grund, weshalb die Verfahrensleitung nicht auch über die Befangenheit entscheiden soll, wenn sie sich erst im Laufe des Verfahrens ergibt bzw. wenn geltend gemacht wird, der von der Verfahrensleitung eingesetzte Experte habe seine Unabhängigkeit verloren. Andernfalls käme es in Fällen, in denen eine Partei einen Experten ablehnt und sachlich konnex weitere Verfahrensanträge stellt, wie beispielsweise den Antrag, das Gutachten sei aus den Akten zu weisen, zu einer kaum vom Gesetzgeber gewollten Aufteilung des Verfahrens.
Die Beschwerdekammer ist für die Beurteilung des Ausstandsgesuchs gegen den Sachverständigen nicht zuständig. Auf das Ausstandsgesuch ist nicht einzutreten.
Beschluss BK 2014 248 der Beschwerdekammer des Kantons Bern vom 25.8.2014
Beweisanträge: Rechtsmittel beschränkt
Verfügungen betreffend Ablehnung von Beweisanträgen sind nach angekündigtem Abschluss der Untersuchung grundsätzlich nicht anfechtbar. Ausnahmsweise ist die Beschwerde zulässig, wenn der Antrag nur mit Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht wiederholt werden kann.
Sachverhalt:
Nach einer tätlichen Auseinandersetzung erstattete der Beschwerdeführer Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen seinen 16-jährigen Sohn. Er machte geltend, dieser habe ihn mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Der Anzeige legte er drei ärztliche Zeugnisse bei. Im polizeilichen Vorverfahren sowie im Untersuchungsverfahren der Jugendanwaltschaft Z wurden der Beschwerdeführer, der Beschwerdegegner sowie B, die Ehefrau des Beschwerdeführers und Stiefmutter des Beschwerdegegners, einvernommen. Die Jugendanwaltschaft holte zudem einen ärztlichen Bericht bei Dr. med. M ein. In der Folge kündigte die Jugendanwaltschaft den Parteien schliesslich den Abschluss der Untersuchung an. Daraufhin stellte der Beschwerdeführer verschiedene Beweisanträge, welche die Jugendanwaltschaft vollumfänglich abwies. Das Obergericht trat auf die dagegen erhobene Beschwerde nicht ein.
Aus den Erwägungen:
II. 1.1 Im Untersuchungsverfahren liess der Beschwerdeführer beantragen, zu den von ihm erlittenen Verletzungen seien nebst dem Beschwerdeführer Dr. med. M, Dr. med. N, Dr. med. O, B sowie Wm mbA S (Polizeistation Y) als Zeugen zu befragen. Ferner sei zu den Örtlichkeiten ein Augenschein am Tatort vorzunehmen. Schliesslich sei ein polizeilicher Rapport über einen Vorfall zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschwerdegegner vom 31. Oktober 2011 beizuziehen.
1.2 Die Jugendanwaltschaft erwog in der angefochtenen Verfügung zusammengefasst, die vom Beschwerdeführer erlittenen Verletzungen seien durch die bei den Akten liegenden ärztlichen Zeugnisse bereits umfassend dokumentiert. Damit erübrigten sich eine Befragung der Ärzte sowie weiterer Zeugen. Aufgrund der übereinstimmenden Aussagen des Beschwerdeführers sowie des Beschwerdegegners stehe sodann fest, dass sich die Auseinandersetzung im Wohnzimmer der Familienwohnung, unmittelbar neben dem Esstisch, ereignet habe.
Als einziger Punkt sei strittig, ob der Beschwerdeführer dem Beschwerdegegner seinerseits einen Faustschlag verpasst habe bzw. ob der Beschwerdegegner in Notwehr gehandelt habe. Diese Frage könne durch einen Augenschein der Örtlichkeit nicht geklärt werden.
1.3 In seiner Beschwerde macht der Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend, die beantragte Befragung von B, eine Befragung des Beschwerdeführers sowie der beantragte Augenschein am Tatort seien wesentlich für die zu klärende Frage, wer den Angriff gestartet habe.
2. Gemäss Art. 39 Abs. 1 JStPO richten sich die Zulässigkeit der Beschwerde und die Beschwerdegründe – abgesehen von besonderen Beschwerdemöglichkeiten gemäss Art. 39 Abs. 2 lit. a-e JStPO – nach Art. 393 StPO. Gemäss Art. 3 Abs. 1 JStPO sind die Bestimmungen der StPO anwendbar, sofern die JStPO keine besondere Regelung vorsieht.
2.1 Der Beschwerdeführer verlangt die Aufhebung der angefochtenen Verfügung betreffend Ablehnung von Beweisanträgen durch die Jugendanwaltschaft nach angekündigtem Abschluss der Untersuchung. Solche Entscheide sind gemäss Art. 318 Abs. 3 StPO nicht anfechtbar. Die Beweisanträge können im Hauptverfahren erneut gestellt werden (Art. 318 Abs. 2 bzw. Art. 331 Abs. 1 StPO).
Diese Bestimmung steht jedoch im Widerspruch zu Art. 394 lit. b StPO, wonach die Beschwerde gegen die Ablehnung von Beweisanträgen ausnahmsweise zulässig ist, wenn der Antrag nur mit Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht (oder mit Beschwerde gegen eine Einstellungsverfügung) wiederholt werden kann. Entgegen dem Wortlaut von Art. 318 Abs. 3 StPO ist die Beschwerde daher unter den Voraussetzungen von Art. 394 lit. b StPO zulässig (vgl. Landshut / Bosshard, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. A., Zürich / Basel / Genf 2014, Art. 318 N 13 mit Hinweisen; Bürgin / Biaggi, Basler Kommentar Jugendstrafprozessordnung, Basel 2011, Art. 39 N 7).
2.2 Nach der Rechtsprechung ist der in Art. 394 lit. b StPO genannte Rechtsnachteil gleichbedeutend mit dem nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Von einem solchen Nachteil wird gesprochen, wenn dieser auch durch ein nachfolgend gestelltes Urteil nicht oder nicht mehr vollständig behoben werden kann (BGE 135 I 261 E. 1.2 m. H.; Urteil des Bundesgerichts 1B_55/2013 vom 7. März 2013 E. 1.2 m. H.). Dies ist im Zusammenhang mit der Ablehnung eines gestellten Beweisantrags der Fall, wenn ein Beweisverlust droht (Urteile des Bundesgerichts 1B_189/2012 vom 17. August 2012 E. 2.1; 1B_92/2013 vom 7. März 2013 E. 2.3).
Beispiele für einen Beweisverlust sind der Zeuge, der lebensbedrohlich erkrankt ist oder kurz vor der Ausschaffung in sein Heimatland steht, eine Unfallkreuzung, an der noch ein Augenschein durchgeführt werden soll, bevor sie umgebaut wird, oder der Ablauf der Aufbewahrungsfrist für Akten (Keller, in: Donatsch / Hansjakob / Lieber, a.a.O., Artikel 394 N 3; Stephenson / Thiriet, Basler Kommentar Schweizerische StPO, Basel 2011, Artikel 394 N 6).
Der Nachweis eines solchen Nachteils bzw. Beweisverlusts obliegt dem Beschwerdeführer, ansonsten auf die Beschwerde nicht einzutreten ist (BGE 137 III 324 E. 1.1; BGE 136 IV 92 E. 4; je mit Hinweisen). Somit muss er einerseits darlegen, weshalb der abgelehnte Beweisantrag für das Verfahren von entscheidender Bedeutung ist, und andererseits den Nachweis erbringen, dass ein Zuwarten mit der Beweisabnahme aller Voraussicht nach zu einem Beweisverlust führen würde (Beschlüsse der hiesigen Kammer UH120006 vom 23. Januar 2012 E. II/3.3; UH130318 vom 11. Dezember 2013 E. 3.5; je mit Hinweisen; Beschluss der Beschwerdekammer des Bundestrafgerichts BB.2012.186 vom 27. Dezember 2012 E. 1.2 mit Hinweis).
3. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, inwiefern ihm ein Beweisverlust droht. Ein Beweisverlust ist auch nicht ersichtlich. Sowohl die Befragung der angerufenen Zeugen als auch der beantragte Augenschein sowie die Einholung des verlangten Polizeirapports könnten ohne Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt beziehungsweise nötigenfalls durch das Gericht erfolgen, sollte sich dies als erforderlich erweisen. Auf die Beschwerde ist folglich nicht einzutreten.
III. 1.2 Vorliegend erhob die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers Beschwerde gegen die Ablehnung von Beweisanträgen, obwohl sich deren Unzulässigkeit klar aus dem Gesetz ergibt, welches eine Beschwerde gegen die Ablehnung von Beweisanträgen explizit ausschliesst (Art. 318 Abs. 3 StPO) bzw. nur ausnahmsweise zulässt, nämlich wenn ein Beweisverlust droht (Art. 394 lit. b StPO). Weiter besteht hierzu – wie gezeigt – publizierte Rechtsprechung, welche unmissverständlich festhält, dass der Nachweis eines drohenden Beweisverlustes dem Beschwerdeführer obliegt.
Nichtsdestotrotz äusserte sich die Rechtsanwältin in ihrer Beschwerde mit keinem Wort zur Frage eines drohenden Beweisverlusts, noch begründete sie auf andere Weise, weshalb auf ihre Beschwerde trotz gegenteiliger gesetzlicher Bestimmungen einzutreten sei. Dass eine solche Beschwerde aussichtslos ist, muss einem Rechtsanwalt sofort ins Auge springen. Das sorgfältige Abschätzen der Prozessaussichten und damit auch die Auseinandersetzung mit den Eintretensvoraussetzungen eines Rechtsmittels gehören zu den grundlegenden Pflichten eines Rechtsanwalts. Dass die Rechtsvertreterin, ohne sich auch nur ansatzweise mit der Eintretensfrage zu befassen, eine gesetzlich nur in Ausnahmefällen zulässige Beschwerde erhob, muss daher als eine Verletzung elementarster Sorgfalt gewertet werden.
Entsprechend sind durch das vorliegende Beschwerdeverfahren unnötige Kosten entstanden. Diese sind in Anwendung von Art. 417 StPO Rechtsanwältin V aufzuerlegen.
Beschluss UH140272 des Obergerichts des Kantons Zürich vom 2.10.2014
Sozialversicherungsrecht
Stempeln bis zur Rechtskraft des IV-Entscheids
Während des IV-Verfahrens ist die Arbeitslosenversicherung vorleistungspflichtig. Diese Pflicht dauert an, bis die Invalidenversicherung ihre Abklärungen über die Erwerbsfähigkeit abgeschlossen hat.
Sachverhalt:
A arbeitete seit 2008 Vollzeit in D. Am 12. Juli 2012 wurde ihr Pensum aufgrund häufiger Absenzen durch chronische gesundheitliche Beschwerden mit einer Änderungskündigung per 1. Oktober 2012 von 100 auf 50 Prozent reduziert. Mit Verfügung vom 5. Oktober 2012 wies die Sozialversicherungsanstalt des Kantons D das Begehren von A um Ausrichtung einer Invalidenrente ab. Diese Verfügung wurde von A, die in den Kanton Appenzell Ausserrhoden umzog, angefochten. Am 1. Februar 2013 wies die Arbeitslosenkasse Appenzell Ausserrhoden den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung gestützt auf Art. 15 Abs. 3 AVIV ab. Mit Einspracheentscheid wurde diese Verfügung bestätigt. Dagegen liess A (nachfolgend Beschwerdeführerin) durch ihren Rechtsvertreter beim Obergericht Appenzell Ausserrhoden Beschwerde erheben.
Aus den Erwägungen:
1. Die Vorinstanz hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Arbeitslosenentschädigung mit der Begründung abgelehnt, dass die Sozialversicherungsanstalt des Kantons D (SVA) das Begehren um Ausrichtung einer Invalidenrente abgewiesen habe.
Damit sei die in Art. 15 Abs. 3 AVIV enthaltene gesetzliche Vermutung – ungeachtet des Umstands, dass der Entscheid der SVA noch nicht in Rechtskraft erwachsen sei – umgestossen und die allgemeinen Regeln zur Vermittlungsfähigkeit gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG würden wieder zur Anwendung gelangen. Es sei somit darauf abzustellen, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer subjektiven Selbsteinschätzung und des Attests des Schmerzzentrums des Kantonsspitals D für eine ein 50-Prozent-Pensum übersteigende Stelle offensichtlich vermittlungsunfähig sei. Da die Beschwerdeführerin weiterhin im Umfang von 50 Prozent erwerbstätig sei, bestehe kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung.
2. Den Kern der Streitsache bildet die Frage, ob die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenkasse gemäss Art. 15 Abs. 3 AVIV nur bis zum Erlass der Verfügung der Invalidenversicherung oder bis zum rechtskräftigen Abschluss des invalidenversicherungsrechtlichen Verfahrens andauert.
3.1 Art. 70 Abs. 1 ATSG sieht vor, dass die berechtigte Person Vorleistung verlangen kann, wenn ein Versicherungsfall einen Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen begründet, aber Zweifel darüber bestehen, welche Sozialversicherung die Leistungen zu erbringen hat. Gemäss Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG ist die Arbeitslosenversicherung für Leistungen, deren Übernahme durch die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, die Unfallversicherung oder die Invalidenversicherung umstritten ist, vorleistungspflichtig.
3.2 Das Bundesgericht hat in BGE 136 V 95 in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass Sinn und Zweck von Art. 15 Abs. 3 AVIV darin liegen, für die Zeit, in welcher der Anspruch auf Leistungen einer anderen Versicherung abgeklärt wird und somit noch nicht feststeht (Schwebezustand), Lücken im Erwerbsersatz zu vermeiden. Dies wird durch die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung im Sinne von Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG und Art. 15 Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 AVIV bewerkstelligt. Aufgrund dieser Bestimmungen hat die Arbeitslosenversicherung arbeitslose, bei einer anderen Versicherung angemeldete Personen zu entschädigen, falls ihre Vermittlungsunfähigkeit nicht offensichtlich ist.
Dieser Anspruch auf eine ungekürzte Arbeitslosenentschädigung besteht namentlich, wenn die voll arbeitslose Person nurmehr aus gesundheitlichen Gründen lediglich noch teilzeitlich arbeiten könnte, solange sie im Umfang der ihr ärztlicherseits attestierten Arbeitsfähigkeit eine Beschäftigung sucht und bereit ist, eine neue Anstellung mit entsprechendem Pensum anzutreten. Die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung gemäss Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG und Art. 15 Abs. 3 AVIV ist auf die Dauer des Schwebezustandes begrenzt, denn sobald das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit feststeht, wird der versicherte Verdienst (Art. 23 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 37 AVIV) – gemäss Art. 25 ATSG in Verbindung mit Art. 95 Abs. 1 sowie Abs. 1bis AVIG – im Sinne von Art. 40b AVIV angepasst (BGE 136 V 95).
3.3 Der Sinn der vollumfänglichen Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung während der Dauer des Schwebezustandes liegt in der Gewährleistung des Lebensunterhalts der arbeitslosen Neubehinderten bis zum Abschluss des Verfahrens der Invalidenversicherung (oder der anderen Versicherung im Sinne von Art. 15 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 AVIV). In dieser Phase kann bei der Berechnung der Arbeitslosentaggelder die verbleibende Erwerbsfähigkeit noch nicht berücksichtigt werden, weil die diesbezüglichen Abklärungen bei der Invalidenversicherung (oder einer anderen Versicherung) noch nicht abgeschlossen sind. Die Erwerbsfähigkeit kann auch nicht mit der subjektiven oder der ärztlich attestierten Arbeitsfähigkeit gleichgesetzt werden.
3.4 Aus dem Sinn der in Art. 15 Abs. 3 AVIV statuierten Koordinationsregel, für die Dauer des Schwebezustandes bis zum Abschluss der Abklärung der Erwerbsfähigkeit durch die Invalidenversicherung den Lebensunterhalt der versicherten Person zu gewährleisten, wird klar, dass die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenkasse bis zum rechtskräftigen Abschluss des invalidenversicherungsrechtlichen Verfahrens andauert (vgl. den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Zürich AL.2010.00222 vom 11. Januar 2011 E. 3.2 und den Entscheid des Verwaltungsgerichts Graubünden S 11 56 vom 16. November 2011 E. 3; demgegenüber AVIG-Praxis ALE B256e).
Erst zu diesem Zeitpunkt sind die Abklärungen der Invalidenversicherung abgeschlossen und ist der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung geklärt.
4. Nachdem die Beschwerdeführerin eine Kürzung der anbegehrten Arbeitslosenentschädigung im Umfang des von der SVA D anerkannten Invaliditätsgrades von 16 Prozent ausdrücklich anerkennt, ist die Arbeitslosenentschädigung antragsgemäss auf der Basis eines versicherten Verdienstes von 34 Prozent ab dem 1. Dezember 2012 zu gewähren.
Urteil O5V 13 4 des Obergerichts des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 11.12.2013