Zivilrecht
Schulkind: Für Elternteil 35-Prozent- Pensum zumutbar
Bis das jüngste Kind das 6. Altersjahr vollendet hat, wird vom betreuenden Elternteil keine Erwerbstätigkeit erwartet – danach aber ein Erwerbspensum von 35 Prozent und ab dem vollendeten 12. Altersjahr von 55 Prozent. Damit weicht das Kantonsgericht St. Gallen von der Regel ab, dass bis zum 10. Altersjahr eines Kindes keine Erwerbstätigkeit verlangt werden kann.
Sachverhalt:
Die Eltern (Mutter Jahrgang 1981, Vater Jahrgang 1974) liessen sich 2011 scheiden. Für das ältere Kind mit Jahrgang 2005 wurde der Hauptwohnsitz bei der Mutter, für das jüngere Kind mit Jahrgang 2007 beim Vater festgelegt. Das Scheidungsurteil wurde in der Folge mehrfach abgeändert.
Im letzten (und vorliegend) relevanten Abänderungsentscheid stellte die Vorinstanz beide Kinder unter die elterliche Sorge desVaters und verpflichtete die Mutter, einen monatlichen Kinderunterhaltsbeitrag von 570 Franken bis zum vollendeten 12. Altersjahr und danach 780 Franken bis zur Mündigkeit beziehungsweise bis zum ordentlichen Abschluss einer angemessenen Ausbildung, zuzüglich allfälliger Kinderzulagen zu bezahlen. Zwischen der Mutter und den Kindern finden seit über zwei Jahren keine Besuchskontakte statt. Die Mutter arbeitet in einem 60-Prozent-Pensum. Ihr wird allerdings ein 100-Prozent-Pensum zugemutet und ein hypothetisches monatliches Nettoeinkommen von 4000 Franken angerechnet. Der Bedarf der Mutter beträgt rund 2490 Franken.
Aus den Erwägungen:
2. Vorliegend sind nur noch die Kinderunterhaltsbeiträge strittig. Beim Kinderunterhalt gilt der Offizialgrundsatz (Art. 296 ZPO), und daher besteht keine Bindung an die Parteianträge. Seit dem 1. Januar 2017 ist das neue Kindesunterhaltsrecht in Kraft. Für Verfahren wie das vorliegende, die am 1. Januar 2017 bei einer kantonalen Instanz hängig sind, bedeutet das eine zweiphasige Unterhaltsberechnung: in einer ersten Phase bis am 31. Dezember 2016 ohne Betreuungsunterhalt und in einer zweiten Phase für die Zeit ab dem 1. Januar 2017 mit Betreuungsunterhalt (Dolder, «Betreuungsunterhalt: Verfahren und Übergang», in: FamPra.ch 2016, S. 917, 921).
6. b) Per 1. Januar 2017 sind die revidierten Bestimmungen zum Kindesunterhalt in Kraft getreten, die insbesondere das neue Institut des Betreuungsunterhalts einführen (Änderung des ZGB vom 20. März 2015). Diese sind bereits im vorliegenden Berufungsverfahren anzuwenden (Art. 13cbis Abs. 1 SchlT ZGB). Das sofortige Inkrafttreten des neuen Rechts hat zur Folge, dass für den ab 1. Januar 2017 geschuldeten Unterhalt die Beurteilung nach neuem Unterhaltsrecht erfolgt (Schwander, «Grundsätze des intertemporalen Rechts und ihre Anwendung auf neuere Gesetzesrevisionen», in: AJP 2016, S. 1575, 1584; Dolder, a.a.O., 919 ff.). Keine Änderung erfuhr mit dem neuen Recht der Grundsatz der Unantastbarkeit des Existenzminimums des Unterhaltsschuldners (vgl. Botschaft, BBl 2014, S. 529, 560 f.).
Nach Art. 13c Satz 2 SchlT ZGB sind Anpassungen von Kinderunterhaltsbeiträgen, die gleichzeitig mit Unterhaltsbeiträgen an den Elternteil festgelegt worden sind, nur bei einer erheblichen Veränderung der Verhältnisse zulässig. Im Scheidungsurteil vom 13. Januar 2011 verzichteten die Parteien gegenseitig auf nachehelichen Unterhalt. Hintergrund hierfür war wohl zum einen, dass Kind X in die Obhut der Mutter kam und Kind Y zum Vater, und zum anderen, dass aufgrund der finanziellen Leistungsfähigkeit der Parteien die Zusprechung eines solchen gar nicht möglich war. Ein Verzicht, der einer Abänderung der Kinderunterhaltsbeiträge nach Art. 13c Satz 2 SchlT ZGB entgegenstehen würde, ist somit nicht ersichtlich.
Die Berufungsklägerin bringt vor, dass auch gemäss bisherigem Recht die Betreuungskosten zu berücksichtigen gewesen seien. Da der Gesetzgeber die Frage, wie berechnet werden müsse, ausdrücklich offen gelassen habe und sich diverse Berechnungsweisen ergeben würden, sei es zumindest haltbar, die bisherige Berechnungsweise beizubehalten.
Es ist zutreffend, dass grundsätzlich auch gemäss dem bisherigen Recht die Betreuungskosten (vgl. z. B. Zürcher Tabellen) bei der Unterhaltsberechnung zu berücksichtigen waren. Diese Kosten sind (waren) allerdings viel zu gering veranschlagt worden (Geiser, «Übersicht über die Revision des Kindesunterhaltsrechts», in: AJP 2016, S. 1279, 1280). Ebenfalls ist zutreffend, dass der Gesetzgeber die Berechnungsweise des «neuen» Kinderunterhalts offen gelassen hat und den Gerichten den bis anhin bestehenden Ermessensspielraum weiter zugesteht (Botschaft, a.a.O., S. 553 f.; Schwizer / Della Valle, «Kindesunterhalt und Vorsorgeausgleich», in: AJP 2016, S. 1589, 1594; Geiser, a.a.O., S. 1280 f.).
Für den Betreuungsunterhalt wird im Kanton St. Gallen in diesem Zusammenhang in Anwendung einer pauschalisierten Betrachtungsweise für durchschnittliche Verhältnisse grundsätzlich von einem Betrag von 2800 Franken pro Monat für eine Betreuung von 100 Prozent ausgegangen, entsprechend den durchschnittlich anzunehmenden Lebenshaltungskosten einer erwachsenen Person. Was sodann den konkreten Betreuungsanspruch des Kindes anbelangt, galt bisher (im Bereich des ehelichen bzw. nachehelichen Unterhalts) die 10/16-Regel, wonach dem betreuenden Elternteil ab dem vollendeten 10. Altersjahrs des (jüngsten) Kindes eine 50-Prozent- und ab vollendetem 16. Altersjahr ein 100-Prozent-Erwerbstätigkeit zuzumuten sei. Daraus ergäben sich für den Betreuungsunterhalt ein Betreuungsbedarf von 100 Prozent bis zum 10. Altersjahr und danach von 50 Prozent bis zum 16. Altersjahr.
Es ist unbestritten, dass die Einführung des Betreuungsunterhalts Anlass gibt, die 10/16-Regel zu überdenken (vgl. Botschaft, a.a.O., S. 577), wobei aber unterschiedliche Auffassungen dazu bestehen, wie eine allfällige Anpassung aussehen könnte (vgl. den Leitfaden des Obergerichtes Zürich, der sich gegen eine Abweichung von der bisherigen Regel ausspricht [S. 14 Ziff. 4.4], Spycher, Betreuungsunterhalt, in FamPra.ch 2017, S. 198, 218 ff., die ebenfalls die weitere, allerdings flexible Anwendung der Regel befürwortet, und Jungo / Aebi-Müller / Schweighauser, Der Betreuungsunterhalt, in: FamPra.ch 2017, S. 163, 166 ff., welche eine Anpassung im Sinne einer 40–50-Prozent-Erwerbstätigkeit ab dem 6. Altersjahr und 70– 80 Prozent ab dem 11. Altersjahr in den Raum stellen). Insbesondere angesichts der Tatsache, dass Eltern regelmässig trotz Betreuungspflichten einer (Teilzeit-)Erwerbstätigkeit nachgehen (vgl. Jungo / Aebi-Müller /Schweighauser, a.a.O., S. 168) und mit Rücksicht auf die Schulstrukturen auch nachgehen können, nimmt das Kantonsgericht die Revision zum Anlass, die fragliche Regel zu modifizieren und den Altersstufen gemäss Betreibungsrecht (vgl. Ziff. 3.2 Kreisschreiben der Aufsichtsbehörde SchKG über die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums vom Dezember 2008) anzupassen, die sich wiederum im Wesentlichen an den Schulstufen orientieren.
Daraus ergeben sich Abstufungen bis zum vollendeten 6., danach bis zum vollendeten 12. und schliesslich bis zum vollendeten 16. Altersjahr, wobei – vorbehältlich besonderer Betreuungsbedürfnisse des Kindes oder der Kinder – in der 1. Phase keine Erwerbstätigkeit, in der 2. Phase eine solche im Umfang von ca. 1/3 (35 Prozent) und in der 3. Phase eine solche von 55 Prozent unterstellt beziehungsweise erwartet werden. Der Festsetzung der erwarteten Pensen in der 2. und in der 3. Phase liegt dabei die Überlegung zugrunde, dass im 11. und 12. Altersjahr die zugemutete Erwerbstätigkeit etwas unter der 10/16-Regel liegt, diese Unterschreitung danach aber mit einem leicht höheren Ansatz als bisher ausgeglichen wird. Im Übrigen ist, wenn der betreuende Elternteil schon früher in höherem Umfang erwerbstätig ist, grundsätzlich – wie schon nach der bis anhin geltenden Rechtsprechung – von den tatsächlichen Verhältnissen auszugehen.
Entscheid FO.2016.5 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 15.5.2017
Zivilprozessrecht
Konsumkreditgesetz: Bank muss Angaben des Kunden prüfen
Die Bank erfüllt die ihr gesetzlich auferlegte Pflicht zur Abklärung der Kreditfähigkeit des Schuldners nicht, wenn sie ihn auffordert, das von ihr zusammengestellte Budget selbst zu überprüfen. Ist eine solche Pflichtverletzung glaubhaft, muss das Rechtsöffnungsbegehren der Bank abgewiesen werden.
Sachverhalt:
Die Bank A. hatte B. einen Kredit nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Konsumkredit (KKG) gewährt, den B. nicht zurückzahlen konnte. Die Bank betrieb in der Folge den Schuldner, der Rechtsvorschlag erhob. Die Vorinstanz wies das Rechtsöffnungsgesuch der Bank ab. Sie erachtete Einwände des Kreditnehmers, wonach die Bank ihre gesetzliche Pflicht zur Kreditfähigkeitsprüfung in schwerwiegender Weise verletzt habe, als glaubhaft. Die Bank erhob gegen diesen Entscheid Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
20.1 Bei Kreditvergaben im Rahmen des Konsumkreditgesetzes (KKG) ist der Kreditgeber verpflichtet, die Kreditfähigkeit des Kreditnehmers zu prüfen (Art. 22 i.V.m. Art. 28 Abs. 1 KKG). Diese wird bejaht, wenn der Kreditnehmer den Konsumkredit zurückzahlen kann, ohne den nicht pfändbaren Teil seines Einkommens nach Art. 93 Abs. 1 SchKG beanspruchen zu müssen (Art. 28 Abs. 2 KKG). Gemäss Art. 28 Abs. 3 KKG wird der pfändbare Teil des Einkommens nach den Richtlinien über die Berechnung des Existenzminimums des Wohnsitzkantons der Konsumentin oder des Konsumenten ermittelt. Im Kanton Bern war zur Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums im damaligen Zeitpunkt das Kreisschreiben aB 3 massgebend.
20.2 Die Kreditgeberin darf sich dabei grundsätzlich auf die Angaben der Konsumentin oder des Konsumenten zu den finanziellen Verhältnissen verlassen (Art. 31 Abs. 1 Satz 1 KKG), soweit diese nicht offensichtlich unrichtig sind oder denjenigen der Informationsstelle widersprechen (Art. 31 Abs. 2 KKG). Sie kann von der Konsumentin oder dem Konsumenten einen Auszug aus dem Betreibungsregister und einen Lohnnachweis einfordern (Art. 31 Abs. 1 Satz 2 KKG). Zweifelt die Kreditgeberin an der Richtigkeit der Angaben einer Konsumentin oder eines Konsumenten, so muss sie deren Richtigkeit anhand einschlägiger amtlicher oder privater Dokumente überprüfen und darf sich bei der Überprüfung nicht mit den Dokumenten nach Art. 31 Abs. 1 KKG begnügen (Art. 31 Abs. 3 KKG).
20.3 Die Pflicht des Kreditgebers zur Durchführung der Kreditfähigkeitsprüfung beinhaltet somit im Wesentlichen zwei Elemente. So ist der Kreditgeber zum einen verpflichtet, Informationen zu beschaffen, die Auskunft über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kreditnehmers geben, und muss sich dabei bestimmter Quellen bedienen. In einem zweiten Schritt muss der Kreditgeber auf der Grundlage dieser Informationen prüfen, ob der Konsument als kreditfähig anzusehen ist, und hierauf die Entscheidung stützen, ob beziehungsweise in welcher Höhe er einen Kredit vergibt (Barnikol, Die Schutzinstrumente des schweizerischen Konsumkreditrechts, 2014, S. 114 f.). Zur Beschaffung des Informationsmaterials hat der Kreditgeber u. a. vom Konsumenten Auskunft über dessen finanzielle und wirtschaftliche Verhältnisse zu verlangen (Barnikol, a.a.O., S. 115).
20.8 Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass der Beschwerdegegner im Rechtsöffnungsverfahren ausreichend glaubhaft gemacht hat, dass die Abklärungen bezüglich der Quellensteuer als auch bezüglich der «unumgänglichen Berufsauslagen» (gemäss Kreisschreiben aB 3, Ziff. 4) ungenügend ausgefallen sind und die Beschwerdeführerin damit die Bestimmungen zur Kreditfähigkeitsprüfung (Art. 28 KKG) verletzt hat. Die Beschwerde erweist sich somit in diesem Punkt als unbegründet.
21.1 Verstösst die Kreditgeberin gegen Art. 28 KKG, so verliert sie bei einem schwerwiegenden Verstoss die von ihr gewährte Kreditsumme samt Zinsen und Kosten (Art. 31 Abs. 1 KKG), bei einem geringfügigen Verstoss nur die Zinsen und die Kosten (Art. 31. Abs. 2 KKG). Liegt ein Fehler bei der Informationsgewinnung vor, ist der Verstoss als schwerwiegend einzustufen, wenn die der Berechnung zugrundeliegenden Informationen grob lückenhaft sind oder wenn der Kreditgeber ganz elementare Regeln der Kreditfähigkeitsprüfung missachtet (Barnikol, a.a.O., S. 211).
21.2 Vorliegend können die vom Beschwerdegegner glaubhaft gemachten Mängel bei der Abklärung der Kreditfähigkeit nicht mehr als geringfügig bezeichnet werden. Die «unumgänglichen Berufsauslagen» gemäss Kreisschreiben aB 3 gehören bei erwerbstätigen Kreditnehmern zu den grösseren Ausgabenposten (neben Grundbetrag, Miete, Steuern und Krankenkassenprämien) und stellen die Regel dar. Werden diese Berufsauslagen bei einer um Kredit ersuchenden, erwerbstätigen Person nicht erfragt bzw. ermittelt, können sich deutlich zu hohe Budgetüberschüsse bei der Existenzminimumsberechnung ergeben, die nicht der Realität entsprechen und eine zu hohe Kreditfähigkeit des Kreditnehmers suggerieren.
21.3 Sollte die Beschwerdeführerin ‒ wie vom Beschwerdegegner im Rahmen des Rechtsöffnungsverfahrens glaubhaft gemacht ‒ es tatsächlich unterlassen haben, diese Auslagen vor der Prüfung der Kreditfähigkeit zu erfragen resp. zu ermitteln, dürfte es sich um einen schwerwiegenden Verstoss gegen Art. 28 KKG handeln, der für die Beschwerdeführerin den Verlust der Kreditsumme samt Zinsen und Kosten zur Folge hat (Art. 31 Abs. 1 KKG). Der Beschwerdegegner hat damit im Rechtsöffnungsverfahren Einwendungen glaubhaft gemacht, welche die Schuldanerkennung zu entkräften vermögen (Art. 82 Abs. 2 SchKG). Die Vorinstanz hat der Beschwerdeführerin somit zu Recht die provisorische Rechtsöffnung verweigert. Die Beschwerde ist folglich abzuweisen.
21.4 Um abschliessend beurteilen zu können, ob und gegebenenfalls welche Abklärungen die Beschwerdeführerin traf respektive auf welchen Angaben des Beschwerdegegners sie sich bei der Erstellung des Budgets abstützte, wären weitere Beweiserhebungen erforderlich (zum Beispiel mittels Befragung des Beschwerdegegners und des Kreditvermittlers). Das Rechtsöffnungsverfahren, welches als summarisches Verfahren kein ausgedehntes Beweisverfahren vorsieht und als Beweismass das Glaubhaftmachen der Einwände genügen lässt, ist hierfür nicht geeignet.
22.1 Die Vorinstanz wertete als weiteren Verstoss gegen Art. 28 KKG, dass die Beschwerdeführerin bei der Beurteilung der Kreditfähigkeit des Beschwerdegegners neben der Darlehenssumme von 33000 Franken nur die bei einer fiktiven Laufzeit von 36 Monaten anfallenden Zinsen und Kosten (effektiver Jahreszins 9,9 Prozent) berücksichtigt hatte.
22.2 Gemäss Art. 28 Abs. 4 KKG muss bei der Beurteilung der Kreditfähigkeit von einer Amortisation des Konsumkredits innerhalb von 36 Monaten ausgegangen werden, selbst wenn vertraglich eine längere Laufzeit vereinbart worden ist. Es handelt sich dabei nicht um eine Laufzeitbeschränkung des Kredits, sondern um ein Berechnungsmodell (vgl. Giger, a.a.O., S. 327, N. 313). Der Konsument muss aufgrund der prognostischen Einschätzung seiner Finanzlage durch den Kreditgeber fähig sein, den Bruttokredit (Kapital plus Zinsen und Kosten) innerhalb von 36 Monaten ohne Anlastung des erweiterten Existenzminimums zurückzuzahlen (vgl. Giger, a.a.O., S. 327 f., N. 313 f.).
22.3 Ob mit dem zu amortisierenden «Konsumkredit» in Art. 28 Abs. 4 KKG der effektiv gewährte Konsumkredit (Kapital plus Zinsen und Kosten über die gesamte Vertragsdauer) oder ein «fiktiver Konsumkredit» mit einer Laufzeit von 36 Monaten gemeint ist (Kapital plus Zinsen und Kosten über die fiktive Laufzeit von 36 Monaten), lässt sich dem Gesetzestext nicht entnehmen.
In der Botschaft betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über den Konsumkredit vom 14. Dezember 1998 (BBl 1999, S. 3155) wird implizit und ohne nähere Begründung von Letzterem ausgegangen, indem in den Rechenbeispielen lediglich die Laufzeit angepasst wird, während das Kapital und der effektive Jahreszins unverändert bleiben (vgl. Botschaft, a.a.O., S. 3184). In den Räten wurde diese Frage nicht thematisiert (vgl. Amtliches Bulletin [AB] 1999, S. 1908 ff. und AB 2000, S. 564 ff.; Giger, a.a.O. S. 323, N. 308).
22.6 Wie die Vorinstanz ist auch die 2. Zivilkammer der Ansicht, dass die Bestimmung von Art. 28 Abs. 4 KKG im Lichte ihres Schutzzwecks auszulegen ist, nämlich der Verhinderung der Umgehung des Konsumentenschutzes durch Vereinbarung überlanger Laufzeiten. Der durch die Kreditfähigkeitsprüfung gewährte Schutz darf nicht durch eine (über)lange Laufzeit mit entsprechend tiefen Raten umgangen werden. Diesem gesetzgeberischen Willen wird nur dann effektiv Rechnung getragen, wenn verlangt wird, dass die gesamte Konsumkreditbelastung (inkl. Zinsen und Kosten über die vertragliche Laufzeit) innerhalb der fiktiven Laufzeit von drei Jahren mit dem errechneten Freibetrag × 36 (theoretisch) amortisiert werden kann. Andernfalls blieben bei Laufzeiten von deutlich über drei Jahren jeweils erhebliche Zins- und Kostenlasten bei der Kreditfähigkeitsprüfung unberücksichtigt, die mit zunehmender Vertragsdauer einen immer grösseren Anteil des Bruttokredits bilden. Bei einem auf zehn Jahre abgeschlossenen Konsumkreditvertrag mit einer Darlehenssumme von 30000 Franken und einem effektiven Jahreszins von 10 Prozent blieben beispielsweise bereits mehr als 12000 Franken an Kosten- und Zinsen bei der Kreditfähigkeitsprüfung unberücksichtigt.
Wird zudem davon ausgegangen, dass (selbst vorhersehbare) Ereignisse, die nach der fiktiven Laufzeit von drei Jahren eintreten (zum Beispiel Pensionierung, vgl. E. 20.7 oben), bei der Kreditfähigkeitsprüfung nicht zu berücksichtigen sind, muss auf der anderen Seite konsequenterweise gefordert werden, dass der gesamte Bruttokredit (inkl. Zinsen und Kosten über die gesamte Vertragsdauer) auch innert diesen drei Jahren mit dem errechneten Freibetrag × 36 (theoretisch) amortisierbar ist. Mit der Berechnungsmethode in Art. 28 Abs. 4 KKG wird denn auch bezweckt, bei Konsumkrediten mit einer Laufzeit über drei Jahren eine ausreichende Reserve zwischen Freibetrag und Annuität zu schaffen, da niemand voraussehen kann, wie sich die Einkommenssituation des Kreditnehmers mittel- und langfristig entwickeln wird (vgl. Botschaft, S. 3184 und AB 1999, S. 1908 ff.). Der Kreditnehmer soll auch im Falle einer längeren Vertragsdauer und den daraus folgenden Unsicherheiten betreffend die zukünftigen finanziellen Verhältnisse effektiv vor Überschuldung geschützt werden. Dies ist nur bei Berücksichtigung der gesamten Konsumkreditbelastung hinreichend gewährleistet.
Für die von der Vorinstanz gewählte Variante spricht nicht zuletzt auch, dass im Informationssystem über Konsumkredite lediglich der Vertragsbeginn, die Anzahl Raten und der Bruttobetrag der gemeldeten Kredite ersichtlich ist (vgl. Anhang zur Verordnung zum Konsumkreditgesetz; VKKG, SR 221.214.11), nicht aber der effektive Jahreszins oder der Nettobetrag. Bei den nach Art. 28 Abs. 4 letzter Satz KKG zu berücksichtigenden früheren Konsumkrediten kann damit ebenfalls nur der (noch offene) Bruttobetrag zur Bestimmung des maximal erlaubten Konsumkreditvolumens herangezogen werden.
22.7 Nach dem Gesagten ist der Argumentation der Vorinstanz zuzustimmen. Die mögliche finanzielle Belastung durch den Konsumkredit (inkl. Zinsen und Kosten über die gesamte Laufzeit) muss mit dem zur Verfügung stehenden Freibetrag innert 36 Monaten amortisiert werden können. Nur so wird dem Anliegen des Gesetzgebers, das Überschuldungsrisiko zu minimieren, effektiv Rechnung getragen. Indem die Beschwerdeführerin nur die Zinsen und Kosten einer fiktiven Laufzeit von drei Jahren berücksichtigte, verstiess sie gegen Art. 28 Abs. 4 KKG. Die Beschwerde erweist sich somit auch in diesem Punkt als unbegründet.
Entscheid ZK 16 148 der 2. Zivilkammer des Obergerichts Bern vom 23.9.2016
Kommentar
Die 2. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern macht im Beschwerdeentscheid über eine Rechtsöffnung klar, welchen Ansprüchen eine sorgfältige Kreditfähigkeitsprüfung zu genügen hat. Die Kernpunkte der obergerichtlichen Argumentation:
Wenn eine Kreditgeberin dem Kreditnehmer einfach ein von ihr ausgefülltes Budget zur Unterschrift vorlegt, werden die einzelnen Budgetposten damit nicht zu «Angaben des Konsumenten» im Sinne von Art. 31 Abs. 1 KKG, auf welche sie sich verlassen darf. Eine sorgfältige Kreditgeberin muss bei der Kreditfähigkeitsprüfung die Arbeitswegkosten und die Mehrkosten der auswärtigen Verpflegung ermitteln. Setzt sie wie im vorliegenden Fall für den Arbeitsweg einfach eine Pauschale von 100 Franken und für die auswärtige Verpflegung gar 0 Franken ins Budget ein, ohne dass sie Abklärungen getroffen hätte, können sich deutlich zu hohe Budgetüberschüsse ergeben. Damit wird eine zu hohe Kreditfähigkeit des Kreditnehmers suggeriert. Die Kreditgeberin dürfte mit diesem Vorgehen in schwerwiegender Weise gegen ihre Pflichten bei der Kreditfähigkeitsprüfung verstossen und damit jeden Anspruch auf Zinsen und Kosten und auf Rückzahlung des Darlehens verlieren (Art. 32 Abs. 1 KKG).
Art. 28 Abs. 4 KKG verlangt, dass das Budget die Rückzahlung des Kredits unabhängig von der effektiv vereinbarten Laufzeit in 36 Monaten erlauben würde. Die Kreditgeberin rechnete den gewährten Kredit auf eine 36-monatige Laufzeit um, wie es der Bundesrat in der Botschaft zur KKG-Revision vorgesehen hatte (BBl 1999 3155). Bei dieser Berechnungsweise werden die Zinsen nicht berücksichtigt, welche nach Ablauf der 36 Monate geschuldet sind. Das Obergericht entscheidet sich für eine Lösung, welche dem Konsumentenschutz besser dient: Es teilt einfach die Bruttobelastung (also die Darlehensvaluta plus die Gesamtheit der verabredeten Zinsen und Kosten) durch 36. Damit soll verhindert werden, dass durch die Vereinbarung überlanger Laufzeiten der Konsumentenschutz umgangen wird.
Mario Roncoroni, Berner Schuldenberatung, Bern
Parteientschädigung: Hohe Hürden für Verrechnungseinrede
Eine zur Verrechnung gestellte Forderung muss sich mindestens auf einen Rechtsöffnungstitel im Sinne von Artikel 83 SchKG stützen können, wenn sie geeignet sein soll, die Pflicht zur Leistung einer Sicherheit für eine allfällige Prozessentschädigung aufzuheben.
Sachverhalt:
Der Kläger schuldet dem Beklagten aus einem abgeschlossenen Verfahren eine Parteientschädigung. Das Gericht setzte dem Kläger deshalb eine Frist an zur Leistung einer Sicherheit für die Prozessentschädigung im neuen Verfahren. Dieser machte geltend, der Beklagte schulde ihm seinerseits noch diverse Beträge – jedenfalls mehr als die Parteientschädigung.
Aus den Erwägungen:
5. b) Mit Verfügung vom 6. September 2016 trat das Einzelgericht im summarischen Verfahren des Bezirksgerichts auf das Gesuch des heutigen Klägers nicht ein und verpflichtete ihn, der Beklagten eine Parteientschädigung von 3500 Franken zuzüglich 8 Prozent Mehrwertsteuer zu bezahlen.
Auf die vom Kläger dagegen erhobene Berufung trat das Obergericht mit Beschluss vom 17. Oktober 2016 nicht ein. Mit Ausfällung des obergerichtlichen Entscheides wurde die vorinstanzliche Verfügung rechtskräftig und damit die Prozessentschädigung fällig. Es brauchte nicht eine zusätzliche Rechnungsstellung an den Kläger.
Deshalb ist nicht von Belang, ob der Kläger eine Rechnung erhalten hat. Er behauptete nicht, er habe die Schuld inzwischen bezahlt. Der Kläger behauptete auch nicht, dieser Entscheid sei durch ein Gericht aufgehoben worden. Vielmehr machte er geltend, er habe gleichzeitig mit der vorliegenden Beschwerde eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Dieser Einwand unterliegt jedoch dem im Beschwerdeverfahren geltenden Novenverbot (Art. 326 Abs. 1 ZPO) und kann deshalb nicht berücksichtigt werden. Im Übrigen würde diese Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts daran ändern, dass der Entscheid des Einzelgerichtes aktuell noch Bestand hat und daher die Entschädigung geschuldet ist.
Der Kläger beschreibt ausführlich, wie und warum ihm gegen die Beklagte verschiedene Forderungen zustehen sollen. Für die Frage der Sicherstellungspflicht ist das nicht von Bedeutung. Abgesehen vom Problem der Unzulässigkeit neuer Behauptungen in der Beschwerde behauptet er nicht, die offene Entschädigungsforderung durch Verrechnung getilgt zu haben – und wenn er das täte, hülfe es ihm nicht, da eine Verrechnung analog der Praxis zur Rechtsöffnung nur stechen könnte, wenn sich die zur Verrechnung gestellte Forderung mindestens auf einen Rechtsöffnungstitel im Sinne von Art. 83 SchKG stützen könnte, und das ist nach der Darstellung des Klägers selbst nicht der Fall. Damit sind die Voraussetzungen von Art. 99 Abs. 1 lit. c ZPO erfüllt und der Kläger hat entsprechend dem Antrag der Beklagten für eine allfällige Parteientschädigung Sicherheit zu leisten.
Wie sich aus obigen Erwägungen ergibt, hat das Gericht bei Vorliegen eines Antrages auf Sicherheitsleistung und bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen keinen Ermessensspielraum bei seiner Entscheidfällung. Auch hat das Gericht nicht zu prüfen, welche Ziele die Beklagte mit ihrem Gesuch effektiv verfolgt. Auf die Argumente des Klägers, wonach ihn die Beklagte mit dem Antrag auf Bevorschussung schädigen wolle, ist daher nicht näher einzugehen. Die Kautionspflicht besteht im Übrigen unabhängig davon, ob das Entscheidverfahren gestützt auf Art. 114 ZPO kostenlos ist.
Urteil PF170017 des Obergerichts Zürich vom 24.5.2017
Kinderanwalt: Nachträgliche Kostenfestlegung zulässig
Die Kosten der Kindesvertretung können wie die Honorare der unentgeltlichen Vertretungen nachträglich festgesetzt werden.
Sachverhalt:
In einem Verfahren der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) war ein Anwalt zur Vertretung der Kinder bestellt worden. Nach Abschluss des Verfahrens reichte der Anwalt eine Aufstellung über seine Bemühungen ein und ersuchte um Festsetzung seines Honorars. Der Vater wandte sich dagegen, an diese Kosten beitragen zu müssen. Er habe davon ausgehen können, dass nicht nachträglich noch Kosten auf ihn zukämen.
Aus den Erwägungen:
2. Der Erstbeschwerdeführer macht geltend, der Kindesvertreter hätte seine Honorarnote spätestens vor der Urteilsberatung einreichen müssen. Er stützt sich dabei auf eine Tarifordnung für Anwältinnen und Anwälte. Da der Kindesvertreter vor dem Urteil keine Kostennote eingereicht und im Endurteil keine Parteientschädigung zugesprochen worden sei, sei keine Entschädigung mehr zuzusprechen. Als rechtsunkundige Partei habe er davon ausgehen dürfen, dass die Frage der Parteientschädigung erledigt sei.
3. Der Erstbeschwerdeführer weist zutreffend darauf hin, dass gemäss Art. 104 Abs. 1 ZPO das Gericht über die Prozesskosten in der Regel im Endentscheid entscheidet. Prozesskosten sind einerseits die Gerichtskosten, andererseits die Parteientschädigung (Art. 95 Abs. 1 ZPO). Zu den Gerichtskosten – und nicht zur Parteientschädigung – zählen auch die Kosten für die Vertretung des Kindes (Art. 95 Abs. 2 lit. e ZPO).
Mit Beschluss und Urteil vom 29. Mai 2015 wurden den Parteien sämtliche Kosten des obergerichtlichen Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte auferlegt. Auch wenn die Kindesvertretungskosten nicht explizit erwähnt wurden, fallen sie wie gesehen darunter, was dem damals anwaltlich vertretenen Erstbeschwerdeführer auch bekannt sein musste. Die Kammer hält es bei Anwälten als Kindesvertreter gleich wie beim unentgeltlichen Vertreter, der seine Aufwendungen nach der Vorschrift von § 23 Abs. 2 AnwGebV nach Abschluss des Verfahrens und wenn alle Rechtsmittel erledigt sind spezifiziert und dessen Honorar dann in einem separaten Beschluss festgesetzt wird. Wenn die Kammer keine Parteientschädigungen zusprach, wie der Erstbeschwerdeführer zutreffend ausführt, dann hat dies keinen Einfluss auf die Kindesvertretungskosten, welche Gerichtskosten darstellen. Diese sind von den Parteien je hälftig zu tragen. Allfälligen Zahlungsschwierigkeiten kann im Rahmen des Bezugs gegebenenfalls Rechnung getragen werden.
Da die Kosten der Kindervertretung im Zeitpunkt des Urteils im Quantitativ noch nicht feststanden, erhielten die Parteien Gelegenheit, sich zur nun geltend gemachten Höhe zu äussern.
Beschluss PQ140068 des Obergerichts Zürich vom 1.6.2017
Fristbeginn: Zustellung durch Gericht zu beweisen
Voraussetzung für den Beginn eines Fristenlaufs ist eine Mitteilung. Diese ist den Parteien oder ihren Vertretern in den Formen von Artikel 138 ff. ZPO zu-zustellen. Der Fristbeginn ist vom fristansetzenden Gericht zu belegen. Eine Zustellung mit A-Post+ eignet sich nicht, den Zeitpunkt der Kenntnisnahme einer Verfügung zu belegen.
Sachverhalt:
Der Kläger stellt sich auf den Standpunkt, er habe die Verfügung vom 30. Dezember 2016 erst nach seiner Abwesenheit am 13. Januar 2017 erhalten. Deshalb habe er mit seiner Eingabe vom 16. Januar 2017 die Beschwerdefrist gewahrt. Demgegenüber bestreitet die Beklagte, dass die Verfügung dem Kläger tatsächlich erst am 13. Januar 2017 zugegangen und damit die Beschwerde fristgerecht erfolgt sei.
Aus den Erwägungen:
3.1 Eine Sistierungsverfügung kann innert zehn Tagen seit Zustellung mit Beschwerde angefochten werden (Art. 126 Abs. 2 i.V.m. Art. 321 Abs. 2 ZPO). Ebenfalls mit Beschwerde anfechtbar sind Fälle von Rechtsverzögerung (Art. 319 lit. c ZPO), wobei eine Beschwerde wegen Rechtsverzögerung jederzeit eingereicht werden kann (Art. 324 Abs. 4 ZPO).
Der Kläger macht geltend, er habe die Verfügung vom 30. Dezember 2016 erst nach seiner Abwesenheit am 13. Januar 2017 erhalten und deshalb mit seiner Eingabe vom 16. Januar 2017 die Beschwerdefrist gewahrt. Die Beklagte bestreitet, dass die Verfügung dem Kläger tatsächlich erst am 13. Januar 2017 zugegangen und damit die Beschwerde fristgerecht erfolgt sei.
3.2 Voraussetzung für den Beginn eines Fristenlaufs ist eine Mitteilung. Diese ist den Parteien oder ihren Vertretern in den Formen von Art. 138 ff. ZPO zuzustellen. Die Zustellung von Vorladungen, Verfügungen und Entscheiden hat durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung zu erfolgen (Art. 138 Abs. 1 ZPO). Nur andere Sendungen kann das Gericht durch gewöhnliche Post zustellen (Art. 138 Abs. 4 ZPO). Nur bei eingeschriebenen Postsendungen, die nicht abgeholt wurden, gilt die Sendung, sofern mit einer Zustellung gerechnet werden musste, am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellversuch als zugestellt.
Der Fristbeginn ist vom fristansetzenden Gericht zu belegen. Dieser Nachweis wird erbracht durch Zustellung als eingeschriebene Postsendung oder gegen Empfangsschein. Erfolgt die fristauslösende Zustellung versehentlich uneingeschrieben, kann der Nachweis vom Gericht auf jede andere Weise erbracht werden. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist im Zweifel auf die Darstellung des Empfängers abzustellen (Benn, Basler Komm., 2. Aufl. 2013, Art. 142 ZPO N 16).
3.3 Vorliegend erfolgte der Versand der (Sistierungs-) Verfügung an den Kläger nicht per Einschreiben, sondern lediglich per A-Post+ und damit nicht gehörig.
Bei der – vorliegend unter Missachtung von Art. 138 Abs. 1 ZPO gewählten – Versandart A-Post+ wird die Sendung im Unterschied zu den herkömmlichen Versandarten A-Post und B-Post mit einer individuellen Sendungsnummer versehen und die Ablage in das Postfach oder der Einwurf in den Briefkasten des Empfängers elektronisch erfasst. Auf diese Weise ist es möglich, mithilfe des elektronischen Suchsystems «Track & Trace» den Sendungsverlauf der A-Post+ bis zum Empfangsbereich des Empfängers nachzuverfolgen.
Im Unterschied zu den eingeschriebenen Briefpostsendungen wird beim Versand mittels A-Post+ der Empfang allerdings nicht durch den Empfänger mit einer Empfangsbestätigung quittiert und dementsprechend wird der Empfänger bei Abwesenheit auch nicht durch Hinterlegung einer Abholungseinladung avisiert. Wird von einer Zustellung gegen Empfangsbestätigung abgesehen, wie dies mit der Versandart A-Post+ der Fall ist, ist daher nicht erstellt, dass der Empfänger bei der postalischen Zustellung tatsächlich vom Zugang der Mitteilung Kenntnis erhält.
Aus den vorinstanzlichen Akten ist ersichtlich, dass die per A-Post+ versandte Verfügung gemäss dem Sendungsverfolgungsbeleg der Post am 31. Dezember 2016 in den Empfangsbereich des Klägers gelangte. Dass die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Kläger vor dem 13. Januar 2017 erfolgt wäre, ist damit indes nicht erstellt.
3.4 Nach dem Gesagten ist davon auszugehen, dass der Kläger entsprechend seiner Darstellung tatsächlich erst am 13. Januar 2017 Kenntnis von der Verfügung erhielt und damit mit seiner Eingabe vom 16. Januar 2017 die Beschwerdefrist wahrte. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten, zumal mit ihr auch eine Rechtsverzögerung gerügt wird und gegen eine solche jederzeit Beschwerde geführt werden kann.
Entscheid 1C 17 3 des Kantonsgerichts Luzern vom 2.3.2017
Vorladung zur Schlichtung: Keine Zustellfiktion
Ein Auftrag des Empfängers, die Post zurückzubehalten, kann den Zeitpunkt der Zustellfiktion nicht hinausschieben. Die Zustellfiktion greift indes nur dann, wenn der Empfänger mit der Zustellung eines behördlichen Aktes rechnen musste. Dies gilt nicht für die Vorladung einer Beklagten zur Schlichtungsverhandlung, soweit sie nicht anderweitig Kenntnis von der Einleitung des Schlichtungsverfahrens haben konnte. Im Schlichtungsverfahren ist somit nur die effektive Zustellung der Vorladung rechtsgenügend.
Sachverhalt:
Die Klägerin stellte beim Friedensrichteramt den Antrag, die vermögensrechtliche Streitigkeit sei vom Amt zu entscheiden. Die Beklagte erschien nicht zur Schlichtungsverhandlung. Das Friedensrichteramt entschied daraufhin im Säumnisverfahren.
Aus den Erwägungen:
4.1 Die Vorinstanz, das Friedensrichteramt, erwog, da die Klägerin einen Antrag im Sinne von Art. 212 Abs. 1 der Schweizerischen Zivilprozessordnung gestellt habe und der Streitwert aufgrund der nach Zahlungseingängen in WIR von der Klägerin anlässlich der Verhandlung reduzierten Hauptforderung nicht höher als 2000 Franken sei, könne sie ein Urteil fällen. Nachdem die Beklagte nicht zur Schlichtungsverhandlung erschienen sei, sei die Verhandlung im Säumnisverfahren durchgeführt worden. Dies bedeute, dass aufgrund der Akten und der mündlichen Vorbringen der Klägerin zu entscheiden sei.
4.2 Bei Säumnis der beklagten Partei verfährt die Schlichtungsbehörde, wie wenn keine Einigung zustande gekommen wäre (Art. 206 Abs. 2 ZPO, mit Verweis auf Art. 209 – 212 ZPO). Gemäss Art. 212 Abs. 1 ZPO kann die Schlichtungsbehörde Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 2000 Franken entscheiden, sofern die klagende Partei einen entsprechenden Antrag stellt.
Eine Partei hat die Säumnisfolgen indes nur dann zu tragen, wenn die Säumnisvoraussetzungen gegeben sind. Grundvoraussetzung, damit Säumnisfolgen ausgesprochen werden können, ist die ordnungsgemässe, das heisst, nach Massgabe von Art. 136 ff. ZPO vorgenommene Vorladung der Parteien. Die Hauptverantwortung für die ordnungsgemässe Zustellung obliegt der Schlichtungsbehörde. Erscheint eine Partei aufgrund einer falschen oder verspäteten Zustellung der Vorladung, die die Schlichtungsbehörde zu verantworten hat, nicht zur Schlichtungsverhandlung, so können keine Säumnisfolgen ausgelöst werden (Infanger, Basler Komm., 2. Aufl. 2013, Art. 206 ZPO N 4 f.).
Die Beklagte macht geltend, sie habe nicht an der Schlichtungsverhandlung vom 21. November 2016 teilnehmen können.
4.3 Die Zustellung von Vorladungen hat durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung zu erfolgen (Art. 138 Abs. 1 ZPO). Im Normalfall gilt die Sendung als zugestellt, wenn ihr Adressat oder eine der zu ihrer Entgegennahme berechtigten Personen sie tatsächlich empfangen hat (vgl. Art. 138 Abs. 2 ZPO).
Kann eine Sendung nicht ausgehändigt werden, hinterlegt die Post im Briefkasten des Adressaten eine Abholungseinladung, mit der dem Adressaten eine Frist von sieben Tagen zum Bezug der darauf vermerkten Sendung angesetzt wird. Bei einer eingeschriebenen Sendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt die Zustellung am siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellversuch als erfolgt (sogenannte Zustellfiktion), sofern die Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO; Gschwend/Bornatico, Basler Komm., a.a.O., Art. 138 ZPO N 14 ff.).
Aus den Akten ist ersichtlich, dass die am 21. Oktober 2016 per Einschreiben versandte Vorladung der Beklagten am 24. Oktober 2016 zur Abholung gemeldet wurde (Abholungseinladung mit Frist bis 31. Oktober 2016). Am 2. November 2016 teilte die Post dem Friedensrichteramt mit, dass die erwähnte Sendung aufgrund eines Zurückbehaltungsauftrags des Empfängers noch nicht habe zugestellt werden können. Der Zurückbehaltungsauftrag lief bis 28. November 2016, wie sich aus dem vom Friedensrichteramt am 16. November 2016 erstellten Ausdruck der Sendungsverfolgung ergibt.
Begehren für das Zurückbehalten von Postsendungen ändern grundsätzlich nichts daran, dass eine solche Anweisung den Zeitpunkt der Zustellfiktion nicht hinauszuschieben vermag, denn ein Zurückbehaltungsauftrag befreit nicht von der Pflicht, dafür zu sorgen, dass Gerichtsurkunden zugestellt werden können. Andernfalls könnte mit einem solchen Auftrag ein Verfahren leichthin um Wochen oder gar Monate verzögert werden, was dem Beschleunigungsgebot zuwiderliefe. Deshalb gilt auch bei Vorliegen eines Zurückbehaltungsauftrags, dass die eingeschriebene Sendung grundsätzlich am letzten Tag einer Frist von sieben Tagen ab Eingang bei der Poststelle am Ort des Empfängers als zugestellt gilt (Gschwend / Bornatico, a.a.O., Art. 138 ZPO N 22; BGer-Urteil 2C_832/2014 vom 20.2.2015 E. 4.3.2 mit Hinweisen).
4.4 Wie Art. 138 Abs. 3 lit. a ZPO ausdrücklich festhält, kann die Zustellung eines behördlichen Aktes indes nur dann fingiert werden, wenn der Empfänger mit der Zustellung rechnen musste. Nach der Rechtsprechung entsteht erst mit der Rechtshängigkeit ein Prozessrechtsverhältnis, das die Parteien verpflichtet, sich nach Treu und Glauben zu verhalten, das heisst, unter anderem dafür zu sorgen, dass ihnen behördliche Akte zugestellt werden können, die das Verfahren betreffen.
Diese prozessuale Pflicht entsteht folglich mit der Begründung eines Verfahrensverhältnisses und gilt insoweit, als während des hängigen Verfahrens mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit der Zustellung eines behördlichen Aktes gerechnet werden muss (BGE 138 III 225 E. 3.1 und 130 III 396 E. 1.2.3).
Vorliegend handelte es sich um die Vorladung zu einer Schlichtungsverhandlung und damit um die erste Zustellung an die Beklagte im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens. Aus den Akten ergibt sich nicht, dass die Beklagte seitens der Klägerin vorgängig von der erfolgten Einleitung des Schlichtungsverfahrens in Kenntnis gesetzt worden wäre oder dass ihr die Einleitung eines solchen konkret angekündigt worden wäre.
Die Beklagte hatte somit keine Kenntnis vom Schlichtungsverfahren und musste deshalb nicht mit einer gerichtlichen Zustellung rechnen. Daran ändert auch die offenbar vorgängig erfolgte Betreibung nichts. Im Schlichtungsverfahren ist nur die effektive Zustellung der Vorladung zur Schlichtungsverhandlung rechtsgenüglich (so schon LGVE 1998 I Nr. 21 zur damaligen kantonalen ZPO).
4.5 Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz die Zustellung der Vorladung zur Schlichtungsverhandlung an die Beklagte zu Unrecht als erfolgt fingiert und ist in der Folge zu Unrecht vom Säumnis der Beklagten an der Verhandlung vom 21. November 2016 ausgegangen.
Das gestützt darauf gleichentags ergangene Urteil ist zufolge der – von Amtes wegen zu beachtenden – Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das Friedensrichteramt wird die Parteien nochmals bzw. ordnungsgemäss zu einer Schlichtungsverhandlung vorzuladen haben (vgl. Gschwend / Bornatico, a.a.O., Art. 138 ZPO N 26).
Entscheid 1C 16 53 des Kantonsgerichts Luzern vom 28.2.2017
Strafprozessrecht
Honorar: Kürzung bei Verteidigung durch Praktikant
Bei einer Abrechnung nach Honorarpauschale ist die Ausübung von Verteidigertätigkeiten durch einen Praktikanten zu berücksichtigen. Vorausgesetzt werden muss dabei allerdings mit Blick auf die Pauschalisierung, dass der Praktikant im Einzelfall tatsächlich einen massgeblichen Anteil an der Verteidigerarbeit mit spürbarer Auswirkung auf das Honorar übernommen hat.
Sachverhalt:
Ein amtlicher Verteidiger verlangt vom Gericht die Entschädigung seiner Aufwendungen. Er verlangt eine Entschädigung nach Zeitaufwand.
Aus den Erwägungen:
3. a) Die Vorinstanz kürzte die vom Verteidiger eingereichte Kostennote über Fr. 1909.30 (Aufwand von 7 Stunden) um 1,5 Stunden mit der Begründung, dass ein zeitlicher Aufwand von 1,67 Stunden für ein Aktenstudium nach Ankündigung der Einstellung überhöht erscheine.
b) Der Beschwerdeführer macht anlässlich der Beschwerde im Wesentlichen geltend, dass die Bemessung des Honorars nicht nach Zeitaufwand, sondern als Pauschale erfolgt sei. Der Tätigkeitsnachweis sei lediglich aus Transparenzgründen eingereicht worden. Für die Beurteilung von einzelnen Positionen der Honorarrechnung sei bei der Bemessung nach Pauschalen kein Platz. Wenn der Aufwand auf die Minute genau nachgeprüft werde, laufe dies dem Sinn und Zweck der Pauschale zuwider. Das pauschale Honorar von 1750 Franken liege klar in der unteren Hälfte der Pauschale und erweise sich als moderat und den konkreten Verhältnissen angemessen. Der Aufwand sei auf das absolut Notwendige beschränkt worden. Er setze sich im Wesentlichen aus der Erstbesprechung mit dem Mandanten und seiner Beiständin, der Vorbereitung und Teilnahme an der Einvernahme sowie dem Aktenstudium zusammen. Nicht aufgeführt worden sei der notwendige Aufwand nach Zustellung der Einstellungsverfügung (Schlussbesprechung mit Mandant etc.), dies sei jedoch, weil eben nach Pauschale abgerechnet werde, auch nicht nötig gewesen.
4. a) In der Honorarrechnung vom 20. April 2016 wird als Grundlage des Honorars auf Art. 21 HonO verwiesen, der grundsätzlich die Pauschaltarife regelt. Gleichzeitig wird aber auch ein detaillierter Stundenaufschrieb beigelegt, welcher die Aufwendungen vom 12. November 2015 bis zum 20. April 2016 ausweist. Damit ist auf den ersten Blick nicht klar, ob der Strafverteidiger nach Pauschale oder aber doch nach Stundenaufwand abrechnen wollte. Der Umstand, dass einerseits in der Honorarrechnung auf Art. 21 HonO verwiesen wird und dass andererseits der Aufwand für den Mandatsabschluss (Schlussbesprechung/Zusendung Verfügung etc.) im Stundenaufschrieb fehlen, lässt den vom Beschwerdeführer in der Beschwerde vertretenen Standpunkt, dass nach Pauschale abgerechnet werden sollte und der Tätigkeitsnachweis lediglich aus Transparenzgründen eingereicht wurde, plausibel erscheinen.
b) Das Mandat dauerte etwas mehr als sechs Monate (12. November 2015 bis 24. Mai 2016). Der dem Beschwerdeführer gegenüber erhobene Vorwurf – versuchte Geldwäscherei – war zwar von einer gewissen Tragweite, die zu untersuchenden Handlungen waren hingegen nicht komplex. Dennoch hatte zu Beginn des Mandats eine Instruktion und Aufgleisung einer Verteidigungsstrategie zu erfolgen.
Mit dieser Instruktion, der Teilnahme an der Einvernahme und deren Vorbereitung, dem Aktenstudium sowie der Korrespondenz fiel fraglos notwendiger Aufwand an. Es fand insgesamt eine polizeiliche Einvernahme in Anwesenheit des Rechtsvertreters beziehungsweise seines Praktikanten statt. Der Aktenumfang war eher gering. Ein gewisser Mehraufwand kann im Umstand erblickt werden, dass der Beschwerdeführer verbeiständet ist. Ebenso erfolgten verschiedene Zwangsmassnahmen (Edition von Bankunterlangen, Kontosperre, Durchsuchungen), die auf ihre Zulässigkeit beziehungsweise (bei Einstellung) auf allfällige Entschädigungsansprüche zu überprüfen waren. Ein Grundhonorar innerhalb der unteren Hälfte der Pauschale (500 Franken bis 2250 Franken) beziehungsweise an der unteren Grenze des mittleren Drittels der Pauschale (1667 Franken bis 2834 Franken) erscheint insgesamt als angemessen. Das beantragte Grundhonorar von 1750 Franken ist daher grundsätzlich nicht zu beanstanden.
c) Die Staatsanwaltschaft wirft im Beschwerdeverfahren sodann die Frage auf, ob dann, wenn der Praktikant Verteidigungstätigkeiten ausführe, der volle Anwaltstarif verrechnet werden könne. Wird nach Zeitaufwand abgerechnet, so werden üblicherweise für den Einsatz von juristischen Mitarbeitern oder Praktikanten reduzierte Ansätze festgelegt (vgl. Fellmann, in: Fellmann / Zindel, Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2. Aufl., Zürich 2011, Art. 12 N 164).
Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es mit der Verfassung vereinbar, dass die Entschädigung eines Praktikanten geringer ausfällt als jene eines patentierten Rechtsanwalts (BGer. 5D_175/2008 E. 4 [Stundenansatz von 120 Franken oder zwei Drittel des Stundenansatzes für patentierte Anwälte]). Damit wird nicht zuletzt dem Umstand Rechnung getragen, dass ein Praktikant mehr Zeit beansprucht als ein patentierter und erfahrener Anwalt (BGer. 5D_175/2008 E. 5.5; BGer. 1P.161/2006 E. 3.5.3; BGer. 1B_94/2010 E. 6.3).
Auch bei einer Abrechnung nach Honorarpauschale dürfte die Ausübung von Verteidigertätigkeiten durch einen Praktikanten vor diesem Hintergrund ebenfalls zu berücksichtigen sein. Vorausgesetzt werden muss dabei allerdings mit Blick auf die (gewollt vereinfachende) Pauschalisierung, dass der Praktikant im Einzelfall tatsächlich einen massgeblichen Anteil an der Verteidigerarbeit mit spürbarer Auswirkung auf das (Pauschal-)Honorar übernommen hat. Dies war vorliegend mit der Teilnahme an (nur) einer polizeilichen Einvernahme bei Honorierung im unteren Bereich der Pauschale nicht der Fall.
Entscheid AK.2016.207 des Kantonsgerichts St. Gallen vom 20.7.2016