Zivilrecht
Die Ausschlagung einer Erbschaft ist zu protokollieren
Die Ausschlagung einer Erbschaft muss protokolliert werden, auch wenn die zuständige kantonale Behörde der Ansicht ist, dass sie verspätet erfolgte.
Sachverhalt:
Die zuständige Behörde wies eine Ausschlagungserklärung zurück, weil diese verspätet sei und sich der Gesuchsteller in die Erbschaft «eingemischt» habe. Das Obergericht erachtet das als nicht klar erstellt, hebt den angefochtenen Entscheid auf und nimmt die Ausschlagungserklärung zu Protokoll.
Aus den Erwägungen:
3.3 Gesetzliche und eingesetzte Erben haben die Möglichkeit, durch Erklärung die Erbschaft auszuschlagen mit der Wirkung, dass sie nicht Erben sind (BSK ZGB II-Schwander, 5. Aufl., Art. 566 N 1). Die Frist zur Ausschlagung beträgt drei Monate und beginnt für gesetzliche Erben, soweit sie nicht nachweisbar erst später von dem Erbfall Kenntnis erhalten haben, mit dem Zeitpunkt, da ihnen der Tod des Erblassers bekannt geworden ist (Art. 567 Abs. 1 und 2 ZGB).
Gestützt auf Art. 576 ZGB kann die zuständige Behörde aus wichtigen Gründen den gesetzlichen Erben eine Fristverlängerung gewähren oder eine neue Ausschlagungsfrist ansetzen. Ist die Zahlungsunfähigkeit des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes amtlich festgestellt oder offenkundig, wird die Ausschlagung vermutet (Art. 566 Abs. 2 ZGB). Bei einer überschuldeten Erbschaft bedarf es mit anderen Worten keiner Ausschlagung, sondern der Annahme mittels einer ausdrücklichen Erklärung (BSK ZGB II-Schwander, 5. Aufl., Art. 566 N 8). Die Ausschlagung ist zufolge Verwirkung dann nicht mehr möglich, wenn sich ein Erbe vor Ablauf der Ausschlagungsfrist in die Angelegenheiten der Erbschaft eingemischt oder Handlungen vorgenommen hat, die nicht durch die blosse Verwaltung der Erbschaft und durch den Fortgang der Geschäfte des Erblassers gefordert waren (Art. 571 Abs. 2 ZGB).
Das Einzelgericht (Art. 28 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 137 lit. e GOG) hat als zuständige Behörde im Sinne von Art. 570 Abs. 3 ZGB die Ausschlagungserklärung entgegenzunehmen und zu protokollieren. Die Protokollierung schafft lediglich den Beweis für die Abgabe und den Zeitpunkt der Ausschlagungserklärung und hat keinerlei Rechtskraftwirkung zwischen den (ausschlagenden) Erben und den Gläubigern des Erblassers. Wie die Vorinstanz zu Recht festhielt, hat das Protokoll auf die zivilrechtliche Gültigkeit einer Ausschlagung somit keinen Einfluss. Selbst wenn eine Ausschlagungserklärung zurückgewiesen wird, bleibt es dem betroffenen Erben unbenommen, sich auf die erklärte Ausschlagung zu berufen, sollte er für Erbschaftsschulden belangt werden. Umgekehrt steht den Gläubigern des Erblassers ungeachtet der Protokollierung der Ausschlagungserklärung die Möglichkeit offen, gegen einen Erben vorzugehen, der die Ausschlagung erklärt hat (BGer 5A_578/2009 vom 12. Oktober 2009 E. 2.2 m.w.H. und 4A_394/2014 vom 1. Dezember 2014 E. 2.; Häuptli, Praxiskommentar Erbrecht, 3. Aufl., Art. 570 N 9; ZR 96 [1997] Nr. 29 E. III./1.).
3.4 Uneinheitlich sind die Ansichten zur Kognition der protokollierenden Behörde. Die Vorinstanz hielt dafür, dass eine Ausschlagungserklärung grundsätzlich entgegenzunehmen und zu protokollieren sei, ohne dass sie als zuständige Behörde befugt wäre, die Gültigkeit (namentlich die Rechtzeitigkeit) der eingereichten Ausschlagungserklärung zu prüfen. Lediglich ausnahmsweise, wenn die Verwirkung der Ausschlagungsbefugnis anerkannt oder offenkundig sei, dürfe die Protokollierung abgewiesen werden. Sie stützt sich damit auf eine ältere Rechtsprechung des Obergerichts (ZR 96 [1997] Nr. 29 E. III./1.), auf welche in späteren Entscheiden verschiedentlich Bezug genommen wurde (OGer ZH LF120057 vom 3. Oktober 2012 E. III./1.; LF120066 vom 29. November 2012 E. 2.4.; LF130062 vom 27. November 2013 E. 2.b). In der Lehre billigen einige Autoren der protokollierenden Behörde eine beschränkte Kognition hinsichtlich der Gültigkeit einer Ausschlagungserklärung zu, wenn sie davon abhängige Massnahmen wie die Anordnung der konkursamtlichen Liquidation zu treffen hat (Häuptli), a.a.O., Art. 570 N 9; BSK ZGB II-Schwander, 5. A., Art. 571 N 14; Weber, «Gerichtliche Vorkehren bei der Nachlassabwicklung», AJP 1997, S. 558; a.M. aber Tuor / Picenoni, Berner Kommentar, Art. 570 N 5; Breitschmid, «Erbausschlagung und Kognition der protokollierenden Behörde», successio 2014, S. 157). Das Bundesgericht liess die Frage der Kognition der protokollierenden Behörde in seiner neuesten Rechtsprechung offen (BGer 5A_44/2013 vom 25. April 2013 E. 3.).
Weil sich nach Ansicht der Vorinstanz im vorliegenden Fall Zweifel hinsichtlich der Rechtzeitigkeit der Ausschlagungserklärung stellten, sei die Prüfung der Einhaltung der Dreimonatsfrist gerechtfertigt. Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass die Frist des Art. 567 ZGB abgelaufen sei, da der Berufungskläger einerseits einen Erbschein bestellt habe, was als Annahme der Erbschaft zu qualifizieren sei, und anderseits zwei Monate danach und überdies nach Ablauf von drei Monaten seit dem Tod der Erblasserin ausgeschlagen habe. Aus diesem Grund sei das Begehren um Protokollierung abzuweisen.
3.5 Soweit sich die Vorinstanz auf den Standpunkt stellt, die Bestellung eines Erbscheins sei als Einmischung bzw. Annahme der Erbschaft zu qualifizieren, ist ihr entgegenzuhalten, dass die Tatsache des Einholens einer Erbbescheinigung für sich allein keine Einmischung in die Erbschaft bedeutet (BSK ZGB II-Schwander, a.a.O., Art. 571 N 5). Vielmehr ist nach dem Zweck des Gesuchs und den Umständen von Fall zu Fall zu entscheiden, ob sich der Gesuchsteller mit dem Einholen der Erbenbescheinigung als Erbe betätigt oder bloss eine Verwaltungshandlung vorgenommen hat (BGE 133 III 1 E. 3.3.1 f.). Diese Grenze zu ziehen, ist nicht immer einfach und bedarf einer genaueren Prüfung, die auf alle Fälle über die Kognition der protokollierenden Behörde – soweit man ihr eine zugestehen will – hinausgeht (vgl. auch OGer ZH LF120057 vom 3. Oktober 2012 dort E. III./7.).
3.6 In Bezug auf die Rechtzeitigkeit der abgegebenen Ausschlagungserklärung ist festzuhalten, dass der Berufungskläger ebenfalls davon auszugehen scheint, dass er die dreimonatige Ausschlagungsfrist seit Kenntnis vom Tod der Erblasserin verpasst habe. Zu Recht weist er aber auf Art. 566 Abs. 2 ZGB hin, wonach die Ausschlagung vermutet wird – und somit eine Ausschlagungserklärung gar nicht nötig ist –, wenn die Zahlungsfähigkeit des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes amtlich festgestellt oder offenkundig ist.
Der Betreibungsregisterauszug der Erblasserin weist 29 nicht getilgte Verlustscheine aus den vergangenen 20 Jahren im Gesamtbetrag von Fr. 35 341.20 aus. Dass Verlustscheine bestehen, war auch im vorinstanzlichen Verfahren bekannt. Folglich liegen ernsthafte Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Überschuldung des Nachlasses bestehen könnte. Dies zu prüfen ist aber wiederum nicht Aufgabe der protokollierenden Behörde (ZR 96 [1997] Nr. 29 E. III./2.; OGer ZH LF130062 E. 4.a); Breitschmid, a.a.O., S. 157).
3.7 Aus dem Gesagten folgt, dass die Ausschlagungserklärung des Berufungsklägers zu protokollieren ist. Selbst wenn man der protokollierenden Behörde eine beschränkte Kognition zugesteht, kann und muss sie nicht abschliessend beurteilen, ob eine Einmischung vorliegt oder die Ausschlagungsvermutung zufolge Überschuldung des Nachlasses greift (welche die Einhaltung der Dreimonatsfrist entbehrlich macht). Die Rechtsdurchsetzung obliegt vielmehr den Gläubigern, die im ordentlichen Verfahren vorzubringen haben, weshalb sie den Berufungskläger trotz Ausschlagungserklärung sollten belangen können (vgl. BGer 4A_394 vom 1. Dezember 2014 E. 2.).
Urteil LF170020 des Obergerichts Zürich vom 28.4.2017
Auskunftsrechte sind höchstpersönlicher Natur
Auskunftsrechte nach Artikel 8 des Datenschutzgesetzes gehören zu den Persönlichkeitsrechten und beziehen sich auf die eigene Person. Die auf dem Verordnungsweg erfolgte Erweiterung auf Verstorbene, insbesondere auf Verwandte und Ehegatten, ist bundesrechtswidrig.
Aus den Erwägungen:
IV. 2. Der Kläger verlangt Auskunft über Daten betreffend seinen verstorbenen Vater. Wie es sich mit dem datenschutzrechtlichen Auskunftsrecht der Erben betreffend Daten des Erblassers verhält, ist umstritten. Art. 1 Abs. 7 der DSV lautet: «Wird Auskunft über Daten von verstorbenen Personen verlangt, so ist sie zu erteilen, wenn der Gesuchsteller ein Interesse an der Auskunft nachweist und keine überwiegenden Interessen von Angehörigen der verstorbenen Person oder von Dritten entgegenstehen. Nahe Verwandtschaft sowie Ehe mit der verstorbenen Person begründen ein Interesse.»
James Peter (Das Datenschutzgesetz im Privatbereich, Zürcher Studien zum Privatrecht, Band 155, Zürich 1994, S. 216) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach schweizerischer Rechtspraxis beim Tod des Betroffenen auch das Persönlichkeitsrecht und der damit verfolgte Schutzzweck dahinfallen, sodass das Auskunftsrecht nicht auf den Rechtsnachfolger übergehe. Das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht sei ein aus dem Persönlichkeitsrecht fliessender Anspruch über Daten betreffend die eigene Person (so z. B. auch PraxKomm Erbrecht-Häuptli [3. Auflage 2015], N. 16a zu Art. 560). Art. 1 Abs. 7 DSV sei deshalb nicht nur am falschen Ort, sondern beschlage eine andere Thematik als das Auskunftsrecht. Ausserdem fehle es an der Grundlage für diese Bestimmung im Datenschutzgesetz (Peter, a.a.O., S. 217; ähnlich: Beat Rudin, in Baeriswyl / Pärli, Stämpflis Handkommentar zum DSG, N. 28 zu Art. 8, wonach es sich um die Bekanntgabe von Personendaten und nicht um einen Anwendungsfall des Rechts auf Auskunft handle, das sich immer nur auf Daten über die eigene Person beziehen könne).
Belser / Epiney / Waldmann (Datenschutzrecht, Bern 2011, N. 21 zu § 11, S. 611) erwähnen im vorliegenden Zusammenhang, dass das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht eigene Daten betreffe, mithin ein subjektives, höchstpersönliches Recht, das unvererblich sei. Und BSK DSG-Niggli /Maeder (3. Auflage 2014, N. 29 zu Art. 34) führen in diesem Zusammenhang Folgendes aus: «Auskunft muss über Daten der anfragenden Person (‹über sie›, Art. 8 Abs. 1 DSG) erteilt werden. Diese gesetzliche Formulierung sucht Art. 1 Abs. 7 VDSG zu erweitern, wenn es um Daten über Tote geht (und der Gesuchsteller durch nahe Verwandtschaft oder Ehe mit dem Verstorbenen oder sonstwie ein berechtigtes Interesse an der Information dartut). Diese Bestimmung dürfte gesetzwidrig sein. Drittpersonen sind gerade nicht ‹betroffene› Personen i.S. des Gesetzes. Zudem kann strafrechtlich nur das im Tatbeststand des DSG (Art. 34 DSG i.V.m. Art. 8 DSG) umschriebene Verhalten entscheidend sein. Eine Ausdehnung der Norm (mittels Verordnung!) auf Auskünfte über Verstorbene ist strafrechtlich nicht zulässig.»
Auch die Ausführungen in BSK DSG-Gramigna / Maurer-Lambrou weisen in dieselbe Richtung: «Das Auskunftsrecht ist nicht vererblich. Nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 7 VDSG kann jedermann Auskunft über Daten von verstorbenen Personen erhalten, wobei ein Interesse nachgewiesen werden muss. Der Verordnungsgeber hat zudem die Fiktion aufgestellt, dass ‹nahe Verwandtschaft oder Ehe mit der verstorbenen Person› ein Interesse begründen. Zu Recht wurde die Bestimmung kritisiert und als blosse Wiedergabe des bei Einführung des DSG aktuellen Stands der Rechtsprechung zum Akteneinsichtsrecht im öffentlichen Recht bezeichnet.»
Ausgehend von der dogmatischen Einordnung der Auskunftsrechte nach DSG bei den Persönlichkeitsrechten und der Kritik an der Datenschutzverordnung, mit der der gesetzlich abgesteckte Rahmen des Datenschutzgesetzes offensichtlich erweitert wurde, stellt sich tatsächlich die Frage, ob Erben/Angehörige Daten von Verstorbenen erhältlich machen können.
Die Persönlichkeit endet mit dem Tod (Art. 31 Abs.1 ZGB), wobei bestimmte Persönlichkeitsrechte den Tod überdauern können (vgl. BSK ZGB I-Beretta [5. Auflage 2014], N. 40 ff. zu Art. 31). A.a.O., N. 47 zu Art. 31 wird zusätzlich der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Angehörigen, insbesondere deren Pietätsgefühl, genannt (vgl. BGE 127 I 115 E. 6; BGE 104 II 225 E. 5b). Dass es sich im vorliegenden Fall um eine solche Thematik handeln könnte, kann aufgrund der Parteivorbringen nicht angenommen werden. Hält man mit Blick auf die überzeugende Ansicht der Mehrheit der vorstehend zitierten Autoren Art. 7 Abs. 1 DSV für bundesrechtswidrig, so muss dem Kläger – auf Grundlage des Persönlichkeitsrechts – die datenschutzrechtliche Auskunft bezüglich seines Vaters versagt werden.
4. Fraglich kann daher nur noch sein, ob die Klage unter dem Gesichtspunkt eines erbrechtlichen oder eines ererbten Informationsanspruchs geprüft werden kann.
a) Der Kläger hat sein Rechtsbegehren ausdrücklich unter Hinweis auf das Datenschutzrecht formuliert. Diesbezüglich schreibt KuKo ZPO-Oberhammer (2. Auflage 2014), N. 4 zu Art. 57: «Nicht ausreichend geklärt ist die Frage, ob das Gericht an eine vom Kläger ausdrücklich vorgenommene Beschränkung des geltend gemachten Rechtsgrundes gebunden ist. Nach Ansicht des BGer ergibt sich für ein Gericht eine Beschränkung hinsichtlich der rechtlichen Beurteilung, wenn der Kläger seine Ansprüche im Rechtsbegehren selbst qualifiziert oder beschränkt, womit das Gericht an den «Gegenstand und Umfang des Begehrens gebunden» sei (BGer 4A_307/2011 E. 2.4, SZZP 2012, S. 293 ff. mit Anmerkung Bohnet und Droese). Auch wenn das Gericht im Geltungsbereich des Dispositionsgrundsatzes zweifellos an das Rechtsbegehren des Klägers gebunden ist, ist dieses vom geltend gemachten Rechtsgrund bzw. der rechtlichen Qualifikation des geltend gemachten Anspruchs zu unterscheiden. Auch hier handelt es sich um ein Streitgegenstandsproblem». Grundsätzlich steht Oberhammer, wie er weiter ausführt, der Beschränkung des Rechtsbegehrens auf einzelne Rechtsgründe kritisch gegenüber, erwähnt jedoch auch, dass rechtliche Wertungen zu einer engeren Umgrenzung des massgebenden Lebenssachverhalts führen können.
Im zitierten BGer 4A_307/2011 E. 2.4 heisst es: Die Dispositionsmaxime bedeutet, dass die Parteien über den Streitgegenstand bestimmen, d.h. ob, wann, in welchem Umfang und wie lange sie als Kläger einen Anspruch gerichtlich geltend machen bzw. als Beklagter anerkennen wollen (vgl. BGE 134 III 151 E. 3.2, S. 158; 111 II 358 E. 1, S. 360; 110 II 113, E. 4). Ob ein Gericht mehr oder anderes zugesprochen hat, als eine Prozesspartei verlangt hat, misst sich in erster Linie an den gestellten Rechtsbegehren. Auf deren Begründung wird nur zurückgegriffen, wenn das Begehren unklar ist und einer Auslegung bedarf. Wo das Gericht gehalten ist, das Recht von Amtes wegen anzuwenden, verletzt es die Dispositionsmaxime nicht, wenn es den gestellten Antrag mit einer anderen rechtlichen Begründung gutheisst, als der Antragsteller vorgebracht hat.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt eine Verletzung des Grundsatzes «ne eat iudex ultra petita partium» nicht vor, wenn ein Gericht den eingeklagten Anspruch in rechtlicher Hinsicht ganz oder teilweise abweichend von den Begründungen der Parteien würdigt, sofern er vom Rechtsbegehren gedeckt ist (BGE 120 II 172 E. 3a, S. 175). Das Gericht ist aber an den Gegenstand und Umfang des Begehrens gebunden, insbesondere wenn der Kläger seine Ansprüche im Rechtsbegehren selbst qualifiziert oder beschränkt (Urteil 4A_464/2009 vom 15. Februar 2010 E. 4.1 m.H.).
b) Das materielle Privatrecht kennt keine allgemeinen Informationsansprüche (BGE 132 III 677 E. 4.2.1; Peter Breitschmid / Isabel Matt, «Informationsansprüche der Erben und ihre Durchsetzung», Successio 2010, S. 85 ff., S. 89 f.; Tarkan Göksu, «Informationsrechte der Erben», AJP 2012 S. 953 ff., S. 953). Hingegen sind die Erben gemäss Art. 610 Abs. 2 ZGB gegenseitig auskunftspflichtig und -berechtigt. Auskunftsrechte und -pflichten bestehen auch im Verhältnis zum Willensvollstrecker (PraxKomm Erbrecht-Christ / Eichner, 3. Auflage 2015, N. 33 zu Art. 518 ZGB). Bezüglich Auskunftsansprüchen von Erben gegenüber Dritten wird in BGE 132 III 677 E. 4.2.4 ausgeführt: «Daraus ergibt sich, dass jeder geltend gemachte Auskunftsanspruch, der sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergibt, sorgfältig auf seine Berechtigung geprüft werden muss. Tritt ein Erbe kraft Universalsukzession an die Stelle des Erblassers (Art. 560 ZGB), so besteht kein Bedarf, ihm über das aufgrund einer Vertragsbeziehung – beispielsweise mit der Bank – bestehende und nun durch Erbrecht erworbene Auskunftsrecht hinaus noch ein eigenes erbrechtliches Auskunftsrecht einzuräumen (Schröder, a.a.O., S. 148).»
Wie bereits erwähnt, ist der Kläger als Teil einer Erbengemeinschaft für die gemeinsam ererbten Rechte und Pflichten gegenüber den Miterben und natürlich auch gegenüber dem Willensvollstrecker auskunftsberechtigt. Gegenüber der Beklagten als Darlehensnehmerin des verstorbenen Vaters gab es – anders als etwa aus Auftragsrecht – keinen Auskunftsanspruch des verstorbenen Vaters, welche als erebte Informationsansprüche auf den Erben übergehen könnten, bestehen die vertraglichen Auskunftsansprüche doch nur in demjenigen Umfang, wie sie für den Erblasser gegolten hätten (Tarkan Göksu, a.a.O., S. 959).
Damit können im Rahmen des vorliegenden Verfahrens auch keine erbrechtlichen oder ererbten Auskunftsansprüche geltend gemacht werden. Die Klage ist daher abzuweisen.
Urteil NP160017 des Obergerichts Zürich vom 16.11.2016
Zivilprozessrecht
Sanierungsaussicht unklar: Kein automatischer Konkurs
Lässt das Gesuch um provisorische Nachlassstundung keine Prüfung der finanziellen Verhältnisse und damit der Sanierungsaussichten zu, darf der Konkurs nicht ohne weiteres eröffnet werden. Dem Gesuchsteller ist Gelegenheit zu geben, das Fehlende zu ergänzen. Erfolgt die Klärung nicht, so ist auf das Gesuch nicht einzutreten und der Konkurs nicht zu eröffnen.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin hatte beim Bezirksgericht ein unvollständiges Gesuch um Bewilligung der provisorischen Nachlassstundung gestellt. Dieses wurde abgewiesen und gleichzeitig der Konkurs eröffnet. Dagegen richtet sich die Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
3.3 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe aufgrund eines unvollständigen bzw. falschen Sachverhalts entschieden. Sie bringt in ihrer Beschwerdeschrift vor, sie (die Beschwerdeführerin) sei sich nicht bewusst gewesen, dass sie dem Nachlassgericht zum Entscheid über die Gewährung der Nachlassstundung eine professionell erstellte Zwischenbilanz hätte zur Verfügung stellen müssen und diese nicht auf provisorischen sowie unvollständigen Zahlen beruhen könne. Sie habe die bei der Vorinstanz eingereichte Bilanz und Erfolgsrechnung explizit als «provisorisch» bezeichnet und angefügt, dass ihr für die Erstellung der behelfsmässigen Bilanz und Erfolgsrechnung «nicht alle Angaben bekannt» gewesen seien.
Die Unvollständigkeit der Angaben habe der Vorinstanz somit klar sein müssen, das Gesuch um Gewährung der Nachlassstundung sei offensichtlich unvollständig gewesen. Die Vorinstanz wäre gehalten gewesen, sie (die Beschwerdeführerin) als juristischen Laien darauf hinzuweisen und ihr die Möglichkeit zu eröffnen, das Gesuch zu verbessern. Die Beschwerdeführerin macht geltend, bei Vorliegen resp. Erfragen der effektiven Betriebszahlen hätte die Vorinstanz zumindest darauf verzichtet, von Amtes wegen den Konkurs zu eröffnen.
3.4 Zur Einleitung eines Nachlassverfahrens bedarf es eines Gesuchs. Dieses kann vom Schuldner gestellt werden (Art. 293 lit. a SchKG). Er hat das Gesuch zu begründen und zu belegen. Mit dem neuen Sanierungsrecht (in Kraft seit 1. Januar 2014) soll der Zugang zum Nachlassverfahren erleichtert werden. Der definitiven Nachlassstundung geht immer zunächst eine provisorische Stundung von maximal vier Monaten voraus, während welcher das Vorhandensein von Sanierungsaussichten näher abgeklärt werden soll. An die Bewilligung der provisorischen Stundung sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Nur wenn offensichtlich keine Aussicht auf Sanierung oder Bestätigung eines Nachlassvertrages besteht, eröffnet das Nachlassgericht den Konkurs von Amtes wegen (Art. 293a Abs. 1 und Abs. 3 SchKG; Botschaft BBl 2010, S. 6455 ff., 6467 und 6480; Kuko-Hunkeler, a.a.O., vor Art. 293 – 336 N. 24 f.). Die Anwendung dieser Möglichkeit bedarf der Zurückhaltung (siehe dazu etwa Spühler/Dolge, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht II, 6. Aufl., Zürich 2014, N. 397a).
Das Mass an Sanierungschancen, welches vorhanden sein muss, damit nicht von offensichtlich fehlenden Sanierungsaussichten auszugehen ist, liegt im Ermessen des Nachlassgerichts. Zur Beurteilung dienen die Unterlagen, welche der Gesuchsteller gemäss Art. 293 lit. a SchKG einzureichen hat. Diese sollen dem Nachlassgericht erlauben, sich unter dem Aspekt der offensichtlich fehlenden Sanierungsaussichten eine Meinung zu bilden. Dabei reicht es aus, wenn der Schuldner aufzeigt, dass realistischerweise mit gewissen Sanierungschancen gerechnet werden kann, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass eine Sanierung gelingt, deutlich geringer ist als die Wahrscheinlichkeit ihres Scheiterns. Es muss gerechtfertigt erscheinen, das Bestehen von Sanierungschancen während der provisorischen Stundung durch einen Sachwalter näher abklären zu lassen (vgl. Kuko SchKG-Hunkeler, a.a.O., Art. 293 N. 18 ff. und N. 26).
3.5 Die vorinstanzlichen Erwägungen präsentieren sich als nicht stringent bzw. widersprüchlich, indem sie sich einerseits auf die von der Beschwerdeführerin eingereichte Bilanz abstützten, diese andererseits jedoch als lediglich «provisorisch» erkennen und zudem festgehalten wurde, dass keine der gemäss Art. 293 lit. a SchKG verlangten Unterlagen eingereicht worden seien. Liegen die Unterlagen, aus denen die derzeitige und künftige Vermögens-, Ertrags- oder Einkommenslage des Schuldners hervorgeht, – wie von der Vorinstanz selber festgestellt – nicht vor, so fehlt es an der Grundlage für einen Entscheid, insbesondere für einen solchen über die Konkurseröffnung gestützt auf Art. 293a Abs. 3 SchKG. Im summarischen Verfahren der Nachlassstundung gilt der Untersuchungsgrundsatz (Art. 251 Abs. 1 lit. a ZPO i.V.m. Art. 248 ff. ZPO und insbes. i.V.m. Art. 255 Abs. 1 lit. a ZPO). Das Nachlassgericht hat den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen, es kann die Verfahrensbeteiligten (v.a. den Schuldner) zur Mitwirkung anhalten. Art. 293a Abs. 1 SchKG sieht zwar eine unverzügliche Entscheidung über die provisorische Nachlassstundung vor, schliesst die Ansetzung einer allfälligen Nachfrist zur gehörigen Begründung und Dokumentation des Gesuchs, insbesondere zum Nachweis der Vermögenslage, jedoch nicht aus (vgl. Kuko SchKG-Hunkeler, a.a.O., Art. 293a N. 11; siehe auch Kren Kostkiewicz, a.a.O., § 11 N. 1650). Der Beschwerdeführerin ist daher darin zuzustimmen, dass ihr die Vorinstanz eine (kurze) Nachfrist zur Nachreichung der Unterlagen hätte ansetzten müssen. Die Beschwerde ist insofern gutzuheissen.
3.6.1 Gemäss Art. 327 Abs. 3 ZPO hat die Beschwerdeinstanz, soweit sie eine Beschwerde gutheisst, die Möglichkeit, den vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben und selber neu zu entscheiden oder aber die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Vorliegend wurde der Sachverhalt infolge unterlassener Ansetzung einer Nachfrist zur gehörigen Begründung resp. Einreichung der gemäss Art. 293 lit. a SchKG geforderten Belege nicht hinreichend durch die Vorinstanz abgeklärt. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin – entgegen den vorinstanzlichen Feststellungen – die Äusserung, sämtliche Gläubiger könnten ihre Debitoren als Verluste verbuchen, nicht als Sanierungsplan angab. Es handelte sich dabei lediglich um eine von der Beschwerdeführerin geäusserte, befürchtete Konsequenz, sollte über sie der Konkurs eröffnet werden.
Im Gesuch vom 20. September 2016 gab die Beschwerdeführerin an, ihre Schulden aus eigener Kraft mit dem ihrem Gesuch angefügten Sanierungsplan langfristig tilgen zu können. Den eingereichten Sanierungsplan würdigte die Vorinstanz nicht, womit sie zudem einen Teil des Gesuchs unbehandelt gelassen hat. Die von der Beschwerdeführerin in der Beschwerde vorgetragenen neuen Tatsachenbehauptungen und die von ihr neu eingereichten Urkunden können aufgrund des Novenverbots im Beschwerdeverfahren keine Berücksichtigung finden. Sie werfen ferner einige weitere (zu klärende) Fragen auf: So bezeichnete die Beschwerdeführerin die Darstellung ihrer Finanzlage im Gesuch vom 20. September 2016 zwar als provisorisch bzw. sinngemäss als unvollständig, jedoch fällt auf, dass diese ganz erheblich von der nunmehr im Beschwerdeverfahren aufgezeigten finanziellen Situation abweicht. Wäre auf Letztere abzustellen, müsste das Gesuch um Nachlassstundung allenfalls als verfrüht bzw. unnötig angesehen werden.
In ihrer Beschwerde bezeichnet sich die Beschwerdeführerin sodann als nicht resp. in keiner Weise sanierungsbedürftig. Weiter erklärt die Beschwerdeführerin, aus dem Betreibungsregisterauszug, gemäss welchem offene Betreibungen über Fr. 52 442.85 bestehen, ergebe sich nicht der effektive Schuldenstand. Wie hoch der effektive Schuldenstand ist, liess die Beschwerdeführerin aber offen.
3.6.2 Aus all den vorgenannten Gründen erscheint es daher sachgerecht, das Urteil des Nachlassgerichtes des Bezirksgerichtes vom 27. September 2016, mit welchem das Gesuch um Bewilligung der Nachlassstundung abgewiesen und über die Beschwerdeführerin der Konkurs eröffnet wurde, aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird der Beschwerdeführerin eine kurze Nachfrist zur Ergänzung ihres Gesuchs sowie Belegeinreichung anzusetzen und alsdann erneut über die Bewilligung der provisorischen Nachlassstundung zu befinden haben.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass eine falsche Darstellung der Vermögenslage (beispielsweise durch eine falsche Buchführung oder Bilanz) zur Strafbarkeit führen kann (vgl. etwa Art. 170 StGB bedroht mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, Art. 251 StGB bzw. Art. 146 StGB mit noch höherer Strafandrohung). Die Vorinstanz kann die Bewilligung der provisorischen Stundung von der Leistung eines Kostenvorschusses (Gerichtskosten Art. 54 GebV SchKG, Honorar des provisorischen Sachwalters Art. 55 Abs. 1 GebV SchKG) abhängig machen (Botschaft BBl 2010, S. 6455 ff., 6480).
Anzumerken ist, dass der vorliegende Fall ein Problem bei der Anwendung des neuen Nachlassverfahrensrechts – unverzügliche Konkurseröffnung, wenn die provisorische Nachlassstundung nicht erteilt werden kann (Art. 293a Abs. 3 SchKG) – aufzeigt. Fehlen genügende Unterlagen zur Beurteilung des Gesuchs, sollte nicht gestützt auf ein unvollständiges Bild über die finanziellen Verhältnisse ohne weiteres der Konkurs eröffnet werden. Das neue Nachlassrecht bezweckt, Sanierungen frühzeitig anzugehen (Botschaft BBl 2010, S. 6479). Kontraproduktiv wäre es, wenn ein Gesuchsteller wegen eines unvollständigen Gesuches riskieren würde, nicht nur keine provisorische Nachlassstundung zu erhalten, sondern gleichzeitig in den Konkurs getrieben zu werden.
Überzeugend ist daher die Ansicht von Karl Spühler /Annette Dolge (Schuldbetreibungs- und Konkursrecht II, 6. Aufl., Zürich 2014, N. 393), welche sich dafür aussprechen, bei ungenützter Nachreichung von Gesuchunterlagen auf das Gesuch nicht einzutreten und den Konkurs folgerichtig nicht zu eröffnen. Anders dürfte es gegebenenfalls dort sein, wo das Konkurseröffnungsverfahren gemäss Art. 173a SchKG bereits pendent ist.
Urteil PS160185 des Obergerichts Zürich vom 21.11.2016
Zustellung einer Abholungseinladung ist zu beweisen
Es gibt nur eine schwache Vermutung dafür, dass die Post eine Abholungseinladung richtig zugestellt hat. Diese Vermutung kann erschüttert werden. Eine allfällige Beweislosigkeit geht zulasten des Gerichts.
Sachverhalt:
Die Beklagte war Partei in einem Prozess, der mit Urteil abgeschlossen wurde. Das an ihren Anwalt per Post versandte Urteil wurde ans Gericht zurückspediert mit dem Vermerk «nicht abgeholt». Der Anwalt wurde stutzig, als er die eingelegten Akten zurückerhielt, und erkundigte sich sofort am Gericht, was es damit auf sich habe. Dort hiess es, die Sache sei längst rechtskräftig entschieden. Die Beklagte reicht Berufung ein. Dabei ist strittig, ob sie rechtzeitig erfolgte – oder ob das Urteil schon rechtskräftig war.
Aus den Erwägungen:
2. Zunächst ist zu prüfen, ob die Berufung rechtzeitig erhoben wurde, was eine Prozessvoraussetzung darstellt. Wenn die gescheiterte Zustellung an den Anwalt der Beklagten massgebend ist, hat sie die Frist versäumt; rechnet sie zulässigerweise ab dem tatsächlichen Erhalt des Urteils, ist die Berufung unter Berücksichtigung der Gerichtsferien rechtzeitig.
2.1 Die Beklagte argumentiert, sie habe das Urteil des Einzelrichters nicht erhalten, insbesondere sei ihr von der Post keine Einladung zugegangen, die entsprechende Sendung abzuholen. Die beiden Assistentinnen des Anwaltsbüros R. (welcher die Beklagte vertrat und vertritt) bestätigten, dass sie keine Abholungseinladung für das heute angefochtene Urteil gesehen hätten und dass ihnen insbesondere auch für eine andere Sendung, welche das Büro in jenen Tagen erwartete, keine Abholungseinladung zugegangen sei. Die Assistentinnen hätten festgestellt, dass gerade in der fraglichen Zeit auf der betreffenden Poststelle ein personeller Wechsel erfolgte.
Aus diesen Gründen werde eine allfällige Vermutung für die einwandfreie Geschäftsabwicklung bei der Post so weit erschüttert, dass der Zugang der Abholungseinladung für die Sendung mit dem angefochtenen Urteil nicht mehr unterstellt werden dürfe. Nach Zustellung des angefochtenen Urteils am 20. Juni 2016 sei die Berufung innert Frist erhoben worden.
Demgegenüber geht der Kläger davon aus, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge sei die Sendung mit dem angefochtenen Urteil am Tag nach der Aufgabe durch die Kanzlei des Einzelrichters für die Beklagte zur Abholung auf der Post bereitgelegen. Diese bestätige, dass der Kanzlei des Vertreters der Beklagten am 1. April 2016 eine Abholungseinladung ins Postfach gelegt worden sei. Dabei müsse es sich um die Sendung mit dem angefochtenen Urteil handeln, denn die Beklagte behaupte nicht, sie habe an dem Tag noch etwas anderes erhalten. Da die Beklagte mit der Zusendung einer gerichtlichen Sendung rechnen musste, gelte diese mit Ablauf der siebentägigen Abholfrist als zugestellt, und die Berufung sei verspätet.
Die Bestätigung der beiden Assistentinnen seien nicht geeignet, den Standpunkt der Beklagten zu stützen, da man nicht auf der Post kontrolliere, was man erhalten habe, sondern erst zurück im Büro, und ein Abholschein gut auf diesem Weg verloren gehen könne. Ob schon früher dem Büro R. eine Sendung nicht zugestellt werden konnte, sei für den hier vorliegenden Fall ohne Bedeutung. Der behauptete Personalwechsel sei unbewiesen, und es stimme nicht, dass Personalwechsel bei der Post der Dienstleistungsqualität abträglich seien. In dem von der Beklagten angeführten Fall der Fehlleitung eines Abholscheines habe der versehentliche Empfänger ausfindig gemacht werden können, wie die Beklagte selber konzediere.
Mit Nichtwissen bestreitet der Beklagte, dass R. Rechtsanwälte schon Briefe erhielt, welche nicht dieses Büro betrafen. Die Post habe auch keine Veranlassung, Missstände zu vertuschen, und daher sei ihre Bestätigung beweiskräftig, dass die Abholungseinladung ins Postfach von R. Rechtsanwälte gelegt worden sei. Zudem habe der Anwalt der Beklagten am 18. Mai 2016 die Einlegerakten zurückerhalten. Dass er das Urteil erst am 20. Juni 2016 erhielt, bedeute mangelnde Bemühung um die nachträgliche Zustellung. Damit sei die Berufungsfrist ebenfalls abgelaufen.
2.2 Die Beklagte stand in einem Prozess, und sie und ihr Anwalt mussten mit Zustellungen in dieser Sache rechnen. Wenn das Büro R. Rechtsanwälte die Abholungseinladung für die Sendung mit dem Urteil erhalten hat, trat mit Ablauf der siebentägigen Abholfrist die Zustellfiktion ein (Art. 139 Abs. 3 lit. a ZPO). Das ist nicht streitig. Umstritten ist, ob der Zugang der Abholungseinladung erstellt sei.
Nach einer allgemeinen Regel muss das Gericht den Beweis für seine Zustellungen sicherstellen. Das geschieht, indem es seine Sendungen eingeschrieben verschickt, denn dann muss der Empfänger unterschriftlich quittieren. Früher geschah das im Zustellbüchlein des Postboten, heute wird die Unterschrift auf einem elektronischen Kästchen angebracht, von wo die Quittung auf Papier ausgedruckt oder aber auch elektronisch übermittelt werden kann.
Der wichtigste Schwachpunkt dieses Vorgehens ist der Zugang der Abholungseinladung, wenn der Empfänger vom Zustellboten nicht angetroffen wird, oder wenn der Empfänger ein Postfach unterhält. Aus praktischen Gründen wird das richtige Hinterlassen dieses Papiers vermutet (BGer 5A_98/2011 vom 3. März 2011), allerdings kann diese Vermutung erschüttert werden, worüber in Würdigung aller Umstände zu entscheiden ist. Wenn der Einwand, man habe keine Abholungseinladung erhalten, von vorneherein als «Ausrede» qualifiziert wird (KuKo ZPO-Weber, 2. Aufl., Art. 138 N 9 S. 696 oben), ist das doch sehr pragmatisch und eher am Ergebnis orientiert. Es kann der Eindruck entstehen, der Einwand werde nicht ernst genommen, und das wäre verfehlt. Die Überlegung des Bundesgerichts, der irrtümliche Empfänger einer Abholungseinladung gebe diese dem richtigen Adressaten weiter oder sende sie gar der Post zurück, kann zutreffen, muss es aber nicht. Sie wird denn auch kritisiert (BSK ZPO-Gschwend/Bornatico, 2. Aufl., Art. 138 N 18; BK ZPO-Frei, Art. 138 N 29). Diese Kritik ist berechtigt, und zwar auch ohne dass man der Post grundsätzlich schlechte Arbeit unterstellen muss.
Es ist eine Erfahrungstatsache, dass die Mitarbeitenden der Post zunehmend unter Zeit- und Effizienzdruck arbeiten müssen, was – nicht weiter erstaunlich – immer wieder zu Fehlern führt. Die Gerichte erfahren das etwa in ihrer alltäglichen Praxis, wenn Sendungen retourniert werden: Nicht selten finden sich auf solchen Umschlägen offenkundig falsche Aufkleber; immer wieder wird die den Empfang quittierende Person mit einer unrichtigen Bezeichnung angegeben (etwa «Empfänger persönlich» statt «Vertreter» und umgekehrt), und auch in den privaten Briefkästen finden sich mitunter Irrläufer.
Wie häufig Irrtümer vorkommen, ist statistisch wohl nicht erfasst. Diese Möglichkeit als «rein theoretisch» abzutun und dem Privaten damit von vorneherein faktisch die Einwendung abzuschneiden, in seinem Fall müsse ein Versehen passiert sein, wäre aber jedenfalls zu streng. Es bleibt daher nur, im Einzelfall die Bestreitung des Adressaten zu würdigen und auf ihre Plausibilität hin zu prüfen (OGerZH NP150016 vom 29. Juli 2015). Dabei ist wesentlich, dass dem Adressaten wenn auch nicht das Beweisen, so doch das Plausibel-Machen eines negativen Umstandes zugemutet wird, was streng genommen gar nicht möglich ist.
Die Assistentin E. des Büros R. Rechtsanwälte schildert den üblichen Ablauf so: sie leere das Postfach und prüfe die Papiere auf Abholungseinladungen; wenn sie eine solche vorfinde, werde die Sendung umgehend am Schalter abgeholt. Am Freitag, 1. April 2016, als sie statt ihrer Kollegin B. den Postdienst versah, habe sie keinen solchen Zettel vorgefunden. Der 1. April 2016 ist der Tag, an welchem gemäss Bestätigung der Post die Sendung mit dem angefochtenen Urteil avisiert wurde. Ob das Anwaltsbüro R. auch am 22. März 2016 eine Abholungseinladung nicht erhielt und ob mitunter Sendungen für andere Adressaten irrtümlich in sein Postfach gelangen, muss und kann offenbleiben. Ebenso ist nicht näher zu prüfen, ob um die in diesem Verfahren fragliche Zeit auf der Post Zürich- (…) personelle Wechsel erfolgten. Dem Kläger ist auch darin recht zu geben, als eine Abholungseinladung zwischen anderen Sendungen liegend übersehen werden und dann verloren gehen kann. Das ändert allerdings nichts daran, dass eben auch Fehler beim Hinterlassen der Abholungseinladungen möglich sind. Die Post bestätigte nicht, wann wer unter welchen Umständen die fragliche Sendung avisiert hat, sondern sie stützte sich offenkundig auf die elektronischen Aufzeichnungen über den Ablauf der Zustellung resp. des Zustellversuches. Damit muss ihr keineswegs eine bewusste Unwahrheit unterstellt werden, wie der Kläger argumentiert. Ebenso wenig darf allerdings dem Vertreter der Beklagten und seiner Assistentin unlautere Absicht unterstellt werden. Der Kläger behauptet nicht und es ist keineswegs gerichtsnotorisch, dass das Anwaltsbüro R. aufgrund früherer Vorfälle im Verdacht stehe, den Zugang von Gerichtsurkunden resp. die Abholungseinladungen dafür wider besseres Wissen zu bestreiten. Am Ende bleibt nur die Feststellung, dass im vorliegenden konkreten Fall ein Irrtum der Post beim Ablegen der Abholungseinladung mindestens möglich ist (was der Kläger indirekt auch einräumt). Das genügt, um die Vermutung der einwandfreien Zustellung zu erschüttern.
Die Fiktion der Zustellung des angefochtenen Urteils durch Ablauf der siebentägigen Abholfrist greift daher nicht.
2.4 Eine andere Frage ist, ob die Beklagte die Berufung durch langes Zuwarten verwirkt hat. Der Kläger verweist richtig darauf, dass eine Partei nicht beliebig lange warten darf, wenn sie Kenntnis von einem Urteil erhält, auch wenn ihr dieses nicht korrekt zugestellt worden ist. Grundsatz bleibt aber, dass die Berufungsfrist nur durch eine korrekte Zustellung ausgelöst wird; die Verwirkung ist eine Ausnahme und bedarf besonderer Umstände, aufgrund welcher der Partei ein Verhalten gegen Treu und Glauben vorgeworfen werden kann.
Am 18. Mai 2016 quittierte die Kanzlei des Anwaltsbüros R. für die Rücksendung der im Verfahren des Einzelrichters eingelegten Akten. Der Anwalt hielt sich beruflich im Ausland auf. Am folgenden Tag erkundigte er sich beim zuständigen Gerichtsschreiber, was es damit auf sich habe, erfuhr, dass ein Urteil gefällt und an ihn versandt worden sei und liess sich die Nummer der Postsendung geben, mit welcher diese nachverfolgt werden kann. In der Folge liess er bei der Post nachforschen, was es mit der Sendung auf sich habe. Am 17. Juni 2016 gab der Einzelrichter das Urteil noch einmal zur Post, und der Anwalt der Beklagten nahm es am 20. Juni 2016 entgegen.
Am Tag nach Empfang der zurückgesandten Akten telefonierte der Anwalt also dem Bezirksgericht und erkundigte sich, was es mit der Sendung auf sich habe. Als Erstes versuchte er dann, den Weg der Sendung nachzuverfolgen, was seitens der Post mit einer ersten Antwort sehr knapp beantwortet wurde, und auf ergänzende Nachfrage am 26. Mai 2016 wurde ihm beschieden, «Ihr Anliegen werden wir gerne erneut überprüfen. Bitte beachten Sie, dass diese einige Zeit in Anspruch nimmt.» Wann und wie insistent der Anwalt der Beklagten vom Einzelrichter eine erneute Zustellung des Urteils verlangte, ergibt sich aus den Akten nicht. Es kommt aber darauf nicht an.
Der Anwalt kümmerte sich umgehend um das Problem, als er es erkannte. Zwar verlangte er nicht als Erstes erneute Zustellung des Urteils, sondern suchte den Ablauf des gescheiterten Zustellversuches zu rekonstruieren. Sein erster Schritt – am Tag nach Zustellung der retournierten Akten – war aber das Telefon mit dem Gericht. Dieses hätte in der Situation Anlass gehabt, das Urteil noch einmal zur Post zu geben. In analogen Situationen pflegt das die Kammer von sich aus zu tun, wobei im Begleitbrief vermerkt wird, diese (zweite) Zustellung sei nicht mehr fristauslösend für das Rechtsmittel, diese Mitteilung wird selbstverständlich in Kopie zu den Akten gelegt. Sei dem wie wolle: Der Beklagten respektive ihrem Anwalt ist kein treuwidriges Verhalten vorzuwerfen, wenn sie nicht darauf drangen, das verloren gegangene Urteil sofort zugestellt zu erhalten und abwarteten, bis es ihnen mit Postaufgabe am 17. Juni 2016 zugestellt wurde. Es ist noch einmal daran zu erinnern, dass mangels korrekter Zustellung resp. mangels Eintritt der Zustellfiktion von Art. 138 ZPO die Rechtsmittelfrist gar nie zu laufen begonnen hatte – und als der Einzelrichter der Beklagten die Akten retournierte, womit das Problem erkannt wurde, war die Berufungsfrist unter Annahme der Zustellfiktion längst verstrichen, besondere Eile also eigentlich nicht (mehr) geboten.
Wie vorstehend erwogen, löste erst die tatsächlich erfolgte (zweite) Zustellung die Frist aus. Die Beklagte resp. ihr Anwalt blieben im Übrigen auch bis zum 20. Juni 2016 (der tatsächlichen Zustellung) nicht untätig, sondern suchten das Problem mit der Eingabe an die Kammer und den dort gestellten Anträgen zu lösen, welche die Kammer im Verfahren NP160024 behandelte. Wenn sich die Beklagte nun für den Fristbeginn auf die zweite Zustellung des Urteils am 20. Juni 2016 stützt, ist das jedenfalls nicht klar missbräuchlich. Massgebend ist diese zweite Zustellung, und die Berufung ist damit rechtzeitig.
Urteil NP160032 des Obergerichts Zürich vom 6.2.2017
Strafprozessrecht
Interessenkonflikt bei Verteidigung Mitbeschuldigter
Hat ein Rechtsanwalt einen von zwei Mitbeschuldigten verteidigt, so ist in Bezug auf den anderen ein Interessen-konflikt so lange zu vermuten und zu bejahen, bis sich jegliche Interessenkollision ausschliessen lässt.
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft führt gegen den Beschuldigten E eine Strafuntersuchung wegen des Verdachts auf Betrug und Urkundenfälschung. Das gegen den Mitbeschuldigten A geführte Strafverfahren wurde rechtskräftig eingestellt. Als dessen Verteidiger amtete Rechtsanwalt M. Dieser teilte der Staatsanwaltschaft nach der Einstellung des Strafverfahrens gegen A mit, dass er die Interessen des Beschuldigten E vertrete. Im Nachgang dazu entschied die Staatsanwaltschaft, dass Rechtsanwalt m nicht als Rechtsbeistand und Verteidiger des Beschuldigten E zugelassen werde. Gegen diesen Entscheid erhob der Beschuldigte E, vertreten durch Rechtsanwalt M, Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
3.1 Die beschuldigte Person kann im Strafverfahren zur Wahrung ihrer Interessen grundsätzlich einen Rechtsbeistand ihrer Wahl bestellen (Art. 127 Abs. 1 und Art. 129 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung, Art. 32 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Art. 6 Ziff. 3 lit. c der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Art. 14 Abs. 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte).
Das Recht auf freie Verteidigerwahl ist aber nicht unbeschränkt. So kann zwar ein Rechtsbeistand nach Art. 127 Abs. 3 StPO in den Schranken von Gesetz und Standesregeln im gleichen Verfahren die Interessen mehrerer Verfahrensbeteiligter wahren. In diesem Zusammenhang zu beachten ist aber insbesondere Art. 12 lit. c des Anwaltsgesetzes, wonach Anwältinnen und Anwälte jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und denjenigen Personen, mit denen sie geschäftlich oder privat in Beziehung stehen, zu meiden haben (vgl. auch Art. 12 lit. a und b BGFA).
Diese Regeln bezwecken den Schutz der Interessen der Klientel sowie die Garantie eines korrekten Verfahrens; die Möglichkeiten eines Anwalts bei der Vertretung eines Mandanten dürfen nicht eingeschränkt sein. Diese Grundsätze sind im Strafprozess, wo es um die Verteidigung eines Beschuldigten geht, besonders bedeutsam; es lässt sich nämlich nicht von vornherein ausschliessen, dass im Verlauf des Verfahrens eine beschuldigte Person ihre Schuld einem anderen anzulasten oder zumindest zulasten eines anderen zu verringern versucht (vgl. BGE 141 IV 257 ff. = Pra 2/2016 Nr. 20).
Die Vertretung widerstreitender Interessen ist sowohl bei gleichzeitig laufenden Mandaten wie auch bei zeitlich gestaffelten, also zwischen einem laufenden gegenüber einem früher abgeschlossenen Mandat, strikte verboten (Ruckstuhl, Basler Komm., 2. Aufl. 2014, Art. 127 StPO N 9; Fellmann, in: Komm. zum Anwaltsgesetz [Hrsg. Fellmann / Zindel], 2. Aufl. 2011, Art. 12 BGFA N 85).
3.3.3 Vorliegend steht unbestritten fest, dass der Beschwerdeführer Mitbeschuldigter im selben Fallkomplex «B» ist, wie es der (ehemals) Mitbeschuldigte A war. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist bei dieser Ausgangslage die Möglichkeit einer Interessenkollision nicht nur «absolut hypothetisch». Aufgrund der eingangs aufgezeigten Literatur und Rechtsprechung zu Art. 12 lit. c BGFA ist bei Konstellationen wie der vorliegenden ein Interessenkonflikt jedenfalls so lange zu vermuten und zu bejahen, bis sich jegliche Interessenkollision ausschliessen lässt. Letzteres ist vorliegend im jetzigen Zeitpunkt nicht der Fall, wie die Staatsanwaltschaft in der angefochtenen Verfügung zutreffend ausführte.
Entscheid 2N 16 56 des Kantonsgerichts Luzern vom 27.5.2016
Strafbare Vorbereitung restriktiv auszulegen
Der Straftatbestand der strafbaren Vorbereitungshandlungen gemäss Art. 260bis StGB ist restriktiv auszulegen. Ein wiederholtes Ausfragen über einen in Betracht gezogenen Tatort eines möglichen Raubs vermag den Tatbestand im Regelfall nicht zu erfüllen.
Sachverhalt:
Ein ehemaliger Angestellter einer GmbH gelangte wiederholt an einen Kollegen und stellte ihm Fragen über die organisatorischen Belange in einem Laden der GmbH. Die GmbH reichte daraufhin Strafanzeige gegen den Ex- Angestellten wegen strafbaren Vorbereitungshandlungen zu Raub im Sinne von Art. 260bis StGB. Die Staatsanwaltschaft stellte die Strafuntersuchung ein. Dagegen erhob die GmbH Beschwerde an das Kantonsgericht Luzern.
Aus den Erwägungen:
4.2 Gemäss Art. 260bis Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer planmässig konkrete technische oder organisatorische Vorkehrungen trifft, deren Art und Umfang zeigen, dass er sich anschickt, eine der folgenden strafbaren Handlungen auszuführen: vorsätzliche Tötung; Mord; schwere Körperverletzung; Verstümmelung weiblicher Genitalien; Raub; Freiheitsberaubung und Entführung; Geiselnahme; Brandstiftung; Völkermord; Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Kriegsverbrechen.
Das Bundesgericht hatte in einem Grundsatzentscheid von 1985 Gelegenheit, den objektiven Tatbestand dieser Bestimmung, die anlässlich der Teilrevision von 1981 von den eidgenössischen Räten in das StGB aufgenommen wurde, zu konkretisieren. Es führte aus, Wortlaut und Entstehungsgeschichte würden deutlich machen, dass der Gesetzgeber die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen zu bestimmten Kapitalverbrechen mit einer Reihe einschränkender Kautelen umgeben habe, um der Verfolgung blosser deliktischer Gesinnung oder Absicht vorzubeugen. Er habe – allgemein ausgedrückt – ihre Strafbarkeit nur vorgesehen, wo äussere Akte des Täters auf eine solche Intensität des deliktischen Willens schliessen liessen, dass eine Ausführung der Straftat normalerweise bevorstehe (BGE 111 IV 155 E. 2a m.w.H.).
Gemäss Praxis und Lehre wird mit der Formel «sich zur Ausführung anschicken» zum Ausdruck gebracht, dass nicht jede entfernte und in ihrer Zielrichtung noch vage Vorbereitungshandlung den Tatbestand erfüllt. Die Vorbereitungshandlungen müssen vielmehr nach ihrer Art und ihrem Umfang so weit gediehen sein, dass vernünftigerweise angenommen werden kann, der Täter werde seine damit manifestierte Deliktsabsicht ohne Weiteres in Richtung der Ausführung einer Zieltat von Art. 260bis StGB weiterverfolgen. Nicht verlangt ist, dass die Vorkehren auf ein nach Ort, Zeit und Begehungsweise individualisiertes Delikt hindeuten. Der Täter muss mit anderen Worten zumindest psychologisch an der Schwelle der Tatausführung angelangt sein, was aber nicht voraussetzt, dass er auch materiell im Begriff ist, zur Ausführung der Tat anzusetzen. Unverbindliches Gerede, Gedankenspielereien und – auch konkrete – Angebereien werden vom Tatbestand nicht erfasst (BGE 111 IV 155 E. 2b m.w.H.; Engler, Basler Komm., 3. Aufl. 2013, 260bis StGB N 11; Stratenwerth / Bommer, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil Bd. II, 7. Aufl. 2013, § 40 N 9; Trechsel /Vest, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskomm., 2. Aufl. 2013, Art. 260bis StGB N 5).
5.3 Selbst wenn man zulasten des Beschuldigten davon ausginge, er habe den Plan gehegt, den Laden der Beschwerdeführerin auszurauben, und zu diesem Zweck die bestrittenen Fragen – zum Schlüssel und zur Kamera – tatsächlich gestellt, könnte darin kein strafbares Verhalten erblickt werden. Der objektive Tatbestand von Art. 260bis Abs. 1 lit. d StGB – wonach Art und Umfang der planmässig getroffenen Vorkehrungen zeigen müssen, dass der Täter sich anschickt, einen Raub auszuführen – wäre selbst bei einem solchen Beweiswürdigungsergebnis nicht erfüllt. Einerseits deuten die angeblich gestellten Fragen nicht unzweifelhaft auf einen geplanten Raub hin, sondern könnten genauso gut der Vorbereitung eines Diebstahls dienen. Es fehlte den angeblichen Fragen somit an der tatbestandlich geforderten Konkretheit hinsichtlich einer Zieltat von Art. 260bis Abs. 1 StGB.
Zudem vermöchten solche Fragen – sofern sie tatsächlich gestellt worden wären – die zeitlich nahestehende Begehung einer Zieltat von Art. 260bis StGB nicht hinreichend eindeutig zu indizieren, unbesehen davon, wie oft sie wiederholt worden wären. Auch wenn das wiederholte Ausfragen über einen möglichen Tatort «intensiv» erscheinen mag, könnte nicht von Vorkehrungen gesprochen werden, die eine Intensität erreicht haben, welche darauf schliessen lässt, dass die Begehung der Tat vernünftigerweise bevorsteht. Wer bezüglich der Beschaffenheit eines möglichen Tatorts Fragen stellt, steht regelmässig nicht in einem Stadium, bei dem die Straftat üblicherweise bevorsteht. Denn ob überhaupt eine beabsichtigte Straftat ausgeführt wird, welche (technischen) Vorkehrungen dafür sonst noch erforderlich sind und wie sie (in organisatorischer Hinsicht) durchgeführt werden soll, hängt wesentlich von der Beantwortung solcher Fragen über den ins Auge gefassten Tatort ab. Mit anderen Worten könnte nicht davon gesprochen werden, der Beschuldigte habe durch seine angebliche Fragerei Vorkehrungen getroffen, von denen vernünftigerweise angenommen werden muss, er werde seine damit manifestierte Deliktsabsicht ohne Weiteres in Richtung der Ausführung des Raubs weiterverfolgen. Die Einstellung des Verfahrens ist daher auch bezüglich der mangelnden Tatbestandsmässigkeit im Sinne von Art. 319 Abs. 1 lit. b der Schweizerischen Strafprozessordnung nicht zu beanstanden.
Entscheid 2N 16 119 des Kantonsgerichts Luzern vom 23.11.2016
Staatsrecht
Sozialhilfe nicht zurückgezahlt: Keine Einbürgerung
Im Kanton Bern darf niemand mehr eingebürgert werden, wenn er Sozialhilfe bezieht oder bezogen hatte und diese nicht zurückzahlte. Das Bundesgericht hat erstmals dazu Stellung genommen. Es lehnte die Einbürgerung ab, obwohl die Familie keine Sozialhilfe mehr bezieht. Früher bezogene Gelder hatte sie aber nicht zurückerstattet.
Sachverhalt:
Das Gesuch um ordentliche Einbürgerung der Beschwerdeführenden, einem Ehepaar mit zwei minderjährigen Kindern, war von den kantonalen Einbürgerungsbehörden nach Inkrafttreten des neuen Art. 7 der Kantonsverfassung abgelehnt worden, da die Beschwerdeführenden in der Vergangenheit Sozialhilfe bezogen und diese nicht innert einer Frist von zehn Jahren zurückerstattet hatten. Zuvor – und vor Annahme der Verfassungsinitiative – hatten die Wohngemeinde und das damalige Bundesamt für Migration die Erteilung des Gemeindebürgerrechts und der eidgenössischen Einbürgerungsbewilligung bereits zugesichert.
Die Beschwerdeführenden rügen vor Bundesgericht eine Verletzung des Legalitätsprinzips und des Gewaltenteilungsprinzips (Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 51 Abs. 1 BV), des Rechtsgleichheitsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV), des Willkürverbots (Art. 9 BV) und des Anspruchs auf ein gerechtes Verfahren (Art. 29 Abs. 1 BV).
Aus den Erwägungen:
4.3 Die Beschwerdeführer bringen vor, massgeblicher Gesichtspunkt für die Einbürgerung könne gemäss den bundesrechtlichen Vorgaben nur die erfolgreiche Integration in die schweizerische Gesellschaft sein (Art. 11 nBüG), welche sich wiederum in der Teilnahme am Wirtschaftsleben oder am Erwerb von Bildung manifestiere (Art. 12 Abs. 1 lit. d nBüG). Gemäss Art. 7 Abs. 3 nBüG sei dieses Kriterium nicht erfüllt, wenn in den drei Jahren vor der Gesuchstellung oder während des Einbürgerungsverfahrens Sozialhilfe bezogen worden sei. Hingegen erscheine die Zehn-Jahres-Frist sachfremd und willkürlich. Eine Person, die während acht oder neun Jahren ohne fremde Hilfe für ihre wirtschaftliche Existenz gesorgt habe, nehme offensichtlich am Wirtschaftsleben teil.
4.4 Nach der Rechtsprechung ist es den Kantonen grundsätzlich erlaubt, über die in Art. 38 Abs. 2 BV ausdrücklich als Mindestvorschriften bezeichneten Voraussetzungen des Bundes für die ordentliche Einbürgerung hinauszugehen. Solange sich die Kantone an die Mindestnormen des Bundes halten, können sie in diesem Sinne die Einbürgerung erleichtern, indem sie etwa im Unterschied zum Bund einen Anspruch darauf vorsehen, oder sie erschweren, indem sie die Voraussetzungen verschärfen.
Diese Möglichkeit steht den Kantonen nicht nur bei den materiellen, sondern auch bei den formellen Voraussetzungen zu. Art. 38 Abs. 2 BV schreibt insoweit keine einheitliche Rechtslage für die ganze Schweiz vor, sondern belässt den Kantonen im Rahmen der bundesrechtlichen Vorgaben einen gewissen Gestaltungsspielraum bei der Festlegung der Einbürgerungsvoraussetzungen. Das wird sich trotz weitergehender Harmonisierung als bisher auch mit dem nBüG nicht völlig ändern; der Spielraum für die Kantone wird zwar kleiner, nicht aber ganz aufgehoben (vgl. zum Ganzen das Urteil des Bundesgerichts 1D_1/2014 vom 1. Oktober 2014 E. 3.6 mit zahlreichen Hinweisen zum Schrifttum; Alberto Achermann / Barbara von Rütte, in: Basler Kommentar BV, N. 33 ff. zu Art. 38 BV; Sow Dieyla / Pascal Mahon, in: Amarelle / Ngyuen [Hrsg.], Code annoté de droit des migrations, vol. V: Loi sur la nationalité [LN], 2014, N. 23 ff. zu Art. 38 BV; Uebersax, a.a.O., S. 196 ff.).
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer ist es dem Kanton Bern daher bundesverfassungsrechtlich nicht untersagt, gegenüber Art. 7 Abs. 3 nBüG – selbst wenn diese Bestimmung bereits in Kraft wäre (E. 2.6 und 3.4 hiervor) – eine strengere Referenzperiode für den Nichtbezug von Sozialhilfeleistungen vorzusehen. Auch die Limitierung der Rückzahlungspflicht auf zehn Jahre (vgl. Art. 10 Abs. 2 lit. h EbüV; zum Rechtssatzcharakter bereits E. 2.6 hiervor) kann nicht als unhaltbar bezeichnet werden, selbst wenn sich grosszügigere Regelungen gut vertreten liessen; die bernische Lösung erscheint vertretbar, zumal zahlreiche Forderungen des öffentlichen oder privaten Rechts nach Ablauf dieser Frist absolut verjähren (vgl. beispielsweise Art. 45 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons Bern über die öffentliche Sozialhilfe [SHG/BE; BSG 860.1]; Art. 127 OR; Art. 123 Abs. 2 ZPO [Rückforderungsanspruch des Kantons betreffend unentgeltliche Rechtspflege]; etc.).
Soweit die Beschwerdeführer weiter behaupten, es treffe nicht zu, dass die Bindung der Einbürgerung an die Rückzahlung bezogener Sozialhilfe keinen Bezug zur wirtschaftlichen Integration habe, setzen sie sich mit der ausführlichen und sorgfältigen Begründung der Vorinstanz (vgl. E. 5.2 und 7.3 des angefochtenen Entscheids) nicht rechtsgenüglich auseinander. Darauf ist nicht einzutreten.
4.5 Die Beschwerdeführer geben zu bedenken, dass sowohl ihre frühere Wohnsitzgemeinde Domat/Ems als auch der Kanton Graubünden die in den Jahren 2004 bis 2006 im Umfang von Fr. 73 394.10 bezogene Sozialhilfe nie zurückgefordert haben. Nach der Erlangung der wirtschaftlichen Selbständigkeit seien die Beschwerdeführer weder rechtlich noch moralisch verpflichtet, noch wirtschaftlich in der Lage gewesen, den Betrag zurückzuerstatten. Trotzdem seien sie in die schweizerische Gesellschaft bestens integriert, was die positiven Einbürgerungsentscheide der Wohnsitzgemeinde und des Bundes bestätigen würden. Der weit zurückliegende Bezug von Sozialhilfe könne folglich einem Einbürgerungsgesuch in keiner Weise entgegenstehen. Dass die Behörden des Kantons Bern nun plötzlich zum Ende des Verfahrens auf dieses bisher irrelevante und in der Sache unverhältnismässige Kriterium abstellten, könne nur als krasser Verstoss gegen Art. 9 BV qualifiziert werden.
4.6 Art. 7 Abs. 3 lit. b KV/BE verlangt als Einbürgerungsvoraussetzung die vollumfängliche Rückzahlung bezogener Sozialhilfebeiträge, unabhängig davon, ob die zuständigen Behörden eine Rückerstattung verfügt haben oder nicht. Würden ausserkantonale Bezüge ausser Acht gelassen, liefe das auf eine Privilegierung derjenigen Gesuchsteller hinaus, deren ausserkantonaler Sozialhilfebezug ausgeblendet würde, während den einbürgerungswilligen ausländischen Personen, die ausschliesslich im Kanton Bern Sozialhilfe bezogen hätten, dieser Bezug vollumfänglich zugerechnet würde.
Ob die Beschwerdeführer zur Rückzahlung moralisch verpflichtet sind oder nicht, spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle. Das Einbürgerungshindernis des Art. 7 Abs. 3 lit. b KV/BE gilt nicht ewig, sondern ist, wie dargelegt, zeitlich begrenzt und entfällt im Kanton Bern nach Ablauf von zehn Jahren für alle zahlungsfähigen Personen, welche die in der Vergangenheit bezogene Sozialhilfe nicht zurückzahlen. Durch die Rückzahlung wird die Einbürgerung lediglich befördert. Die Verweigerung des Kantonsbürgerrechts ist auch nicht schon deshalb unverhältnismässig, weil die Beschwerdeführer seit etlichen Jahren keine Sozialhilfe mehr beziehen. Dies hiesse, wie die Vorinstanz zutreffend hervorhebt, die mit der Verfassungsrevision getroffene Wertentscheidung zu unterlaufen.
Mit Blick auf die Chronologie der Ereignisse erweist sich auch der von den Beschwerdeführern erhobene Vorwurf, die Behörden hätten sich ihnen gegenüber willkürlich und treuwidrig verhalten, als unbegründet. Rund neun Monate nach Einreichung ihres Einbürgerungsgesuchs bei der Einwohnergemeinde wurde der revidierte Art. 7 KV/BE vom Stimmvolk des Kantons Bern angenommen. Damit mussten die Beschwerdeführer bereits in einem relativ frühen Verfahrensstadium zumindest in Erwägung ziehen, dass ihrem Gesuch angesichts ihres vergangenen und nicht zurückgezahlten Sozialhilfebezugs kein Erfolg beschieden sein könnte, zumal auch noch keine Einbürgerungsbewilligung des Bundes vorlag.
Auch von einem plötzlichen Meinungsumschwung seitens der Behörden kann keine Rede sein. Als das Einbürgerungsgesuch der Beschwerdeführer im Mai 2014 bei der zuständigen Stelle des Kantons hängig war, informierte diese über die Änderungen im Einbürgerungsverfahren, forderte die fehlenden Dokumente ein (Bescheinigung über den Nichtbezug von Sozialhilfeleistungen oder deren Rückzahlung) und signalisierte gegenüber den Beschwerdeführern deutlich, dass eine Weiterbearbeitung des Gesuchs nur in Frage komme, wenn die Voraussetzungen der neuen Verfassungsbestimmung erfüllt seien. Damit konnten die Beschwerdeführer spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr davon ausgehen, dass Art. 7 Abs. 3 lit. b KV/BE für ihr Einbürgerungsgesuch «irr