Mietrecht
Zahlungsverzug: Kündigung trotz Zahlung rechtens
Ein Mieter darf erklären, welche von mehreren Schulden er mit einer Überweisung zuerst tilgt. Bestimmt er nichts, entscheidet der Vermieter, sofern der Mieter nicht umgehend reklamiert.
Sachverhalt
Die Mieterin einer Wohnung im Kanton Aargau hatte eine Monatsmiete nicht bezahlt. Der Vermieter ermahnte sie, sie müsse innert 30 Tagen zahlen, sonst werde er kündigen. Die Frau überwies innert Frist zwar einen Mietzins. Beim Zahlungszweck gab sie jedoch nicht an, für welchen Monat die Zahlung gilt. Der Vermieter kündigte und schrieb, er habe angenommen, das Geld sei für die folgende Monatsmiete. Die Mieterin reklamierte einen Monat später, das Geld sei für die älteste Forderung gewesen. Das Bezirksgericht Baden und das Obergericht Aargau beurteilten die Kündigung aber als gültig.
Aus den Erwägungen
3.1.4 Hat der Schuldner mehrere Schulden an denselben Gläubiger zu bezahlen, so ist er gemäss Art. 86 Abs. 1 OR berechtigt, bei der Zahlung zu erklären, welche Schuld er tilgen will. Die Anrechnungserklärung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Sie kann sich ausdrücklich oder aufgrund des Verhaltens des Schuldners ergeben, muss aber dem Gläubiger in jedem Fall erkennbar sein.
Ein stillschweigender Anrechnungswille liegt in der Regel dann vor, wenn der Zahlungsbetrag nur mit einem Forderungsbetrag und nicht mit den anderen Forderungsbeträgen übereinstimmt (Rolf H. Weber, Berner Kommentar, 2. Aufl. 2005, N. 29 zu Art. 86 OR). Mangelt eine solche Erklärung, so wird die Zahlung auf diejenige Schuld angerechnet, die der Gläubiger in seiner Quittung bezeichnet, vorausgesetzt, dass der Schuldner nicht sofort Widerspruch erhebt (Art. 86 Abs. 2 OR).
3.2.2.2 Nachdem eine Anrechnungserklärung der Beklagten als Schuldnerin fehlte, wurde die Zahlung gemäss Art. 86 Abs. 2 OR auf diejenige Schuld angerechnet, die die Klägerin in ihrer Quittung bezeichnet hat. Die Klägerin hielt in der Kündigung vom 9. Januar 2023, die als Quittung gilt, fest, die Zahlung vom 1. Dezember 2022 beziehe sich auf die Monatsmiete Dezember 2022, welche am 1. Dezember 2022 fällig gewesen sei. Die Beklagte hat ihren Widerspruch gegen diese Erklärung zu beweisen sowie, dass sie ihn sofort erhoben hat.
Dies ist ihr nicht gelungen und sie brachte es auch nicht in den vorinstanzlichen Rechtsschriften vor. Vielmehr gab sie erst über mehr als einen Monat später mit Schreiben vom 21. Februar 2023 an die Schlichtungsbehörde an, dass sie den Mietzins vom November 2022 am 1. Dezember 2022 bezahlt habe. Folglich hat die Beklagte den Mietzins für den Monat November 2022 nicht innert der angesetzten Frist bezahlt. Demnach bestand ein Zahlungsrückstand der Beklagten im Zeitpunkt der Kündigung des Mietverhältnisses, weshalb die Klägerin zu Recht am 9. Januar 2023 auf den 28. Februar 2023 kündigte. Die Gründe für das Ausbleiben der Zahlung der Beklagten sind irrelevant.
Obergericht Aargau, Entscheid ZSU.2023.120 vom 8.8.2023
Arbeitsrecht
Vorsorgliches Konkurrenzverbot zulässig
Konkurriert ein ehemaliger Angestellter die Firma «besonders treuwidrig», kann ihm das Gericht diese Tätigkeit vorsorglich verbieten. Dies ist etwa zulässig, wenn der Betroffene Mittel des bisherigen Arbeitgebers verwendet, um Kunden abzuwerben.
Sachverhalt
Ein Aargauer Unternehmen stellt medizinaltechnische Produkte für körperinterne Untersuchungen, sogenannte endoskopische Geräte, her. Eine Produktemanagerin der Firma verpflichtete sich im Arbeitsvertrag, nach Vertragsende für zwei Jahre landesweit in keiner Firma tätig zu sein, die endoskopische Geräte herstellt, verkauft oder repariert. Die Angestellte kündigte den Vertrag und begann für eine Konkurrenzfirma aus einem anderen Kanton zu arbeiten. Der frühere Betrieb stellte beim Bezirksgericht Zurzach AG ein Gesuch um vorsorgliche Massnahmen.
Der ehemaligen Mitarbeiterin sei für zwei Jahre eine konkurrenzierende Tätigkeit unter Strafandrohung zu verbieten. Das Bezirksgericht hiess das Gesuch teilweise gut. Es erachtete das Konkurrenzverbot als gültig, beschränkte dieses jedoch auf ein Jahr und verbot der Beklagten, für die neue Firma C. für ein Jahr lang zu arbeiten. Die Beklagte argumentierte, es reiche aus, das Tätigkeitsverbot auf die fünf Kantone zu beschränken, in denen die bisherige Firma tätig war. Damit blitzte sie auch vor dem Obergericht Aargau ab.
Aus den Erwägungen
5.1.1 Das Konkurrenzverbot ist nach Ort, Zeit und Gegenstand angemessen zu begrenzen, sodass eine unbillige Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens des Arbeitnehmers ausgeschlossen ist; es darf nur unter besonderen Umständen drei Jahre überschreiten (Art. 340a Abs. 1 OR).
6.1 Übertritt der Arbeitnehmer das Konkurrenzverbot, so hat er dem Arbeitgeber den erwachsenden Schaden zu ersetzen (Art. 340b Abs. 1 OR). Ist es besonders schriftlich verabredet, so kann der Arbeitgeber neben der Konventionalstrafe und dem Ersatz weiteren Schadens die Beseitigung des vertragswidrigen Zustandes verlangen, sofern die verletzten oder bedrohten Interessen des Arbeitgebers und das Verhalten des Arbeitnehmers dies rechtfertigen (Art. 340b Abs. 3 OR). Die Realexekution ist damit nur in Ausnahmefällen zu gewähren; die verbotene Konkurrenzierung reicht für sich genommen nicht.
Materiell wird vorausgesetzt, dass der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass der ihm entstandene (oder drohende) Schaden erheblich und schwer wiedergutzumachen ist und die Verletzung der vertraglichen Verpflichtung durch den Arbeitnehmer besonders schwer gegen Treu und Glauben verstösst (BGE 131 III 473, E. 3.2; Räber, Das nachvertragliche Konkurrenzverbot im Arbeitsvertrag, de lege lata und de lege ferenda, Diss. 2020, Rz. 830).
Ein besonders treuwidriges Verhalten im Sinne von Art. 340b Abs. 3 OR kann in der Art der Vertragsauflösung, in der Konkurrenztätigkeit oder in den besonderen Umständen liegen, so beispielsweise darin, dass der Arbeitnehmer die Konventionalstrafe durch den neuen Arbeitgeber bezahlen lässt, Mittel des früheren Arbeitgebers benutzt, diesem die Kunden mit falschen Behauptungen abspenstig macht oder sonst rücksichtslos vorgeht bzw. jegliche Bereitschaft missen lässt, sich an das vereinbarte Konkurrenzverbot zu halten.
6.2.1 Die Vorinstanz erwog, dass nicht bestritten worden sei, dass die Beklagte bei der Klägerin für einen Umsatz von knapp fünf Millionen Franken verantwortlich gewesen sei. Ohne Frage könne ein solcher Betrag als substanzieller Umsatzanteil betrachtet werden. Dies allein genüge aber regelmässig noch nicht, um das besonders hohe Schadenspotenzial bejahen zu können.
Die Tatsache, dass die Beklagte gleich an ihrem ersten Arbeitstag im Konkurrenzbetrieb einen Kunden der Gesuchstellerin anschrieb, mit dem Ziel, eine Geschäftsbeziehung einzugehen bzw. diese (nunmehr beim neuen Arbeitgeber) fortzusetzen, ist nach Auffassung der Vorinstanz als besonders treuwidrig einzustufen, zumal es sich angesichts der Tatsache, dass die Beklagte anerkannt habe, rund 350 Kontakte angeschrieben zu haben, nicht um einen Einzelfall gehandelt haben dürfte.
Der nahtlose Wechsel der Beklagten von der Klägerin zur C AG sowie ihr sofortiger Abwerbeversuch an ihrem ersten Arbeitstag deuteten sodann darauf hin, dass die Beklagte ihren Wechsel zu einem direkten Konkurrenten wohl schon länger geplant haben dürfte und sich damit – im Wissen um das vereinbarte Konkurrenzverbot – bewusst zu diesem Wechsel entschieden habe.
6.3.2 Das Vorgehen der Beklagten erweist sich zudem als besonders treuwidrig. In tatsächlicher Hinsicht ist erstellt, dass die Beklagte und ein weiterer Mitarbeiter der Klägerin, E, ihren Arbeitsvertrag fast zeitgleich per 30. September 2022 gekündigt haben und E die Geschäftsführung bei der C AG übernommen hat. Die Feststellung der Vorinstanz, es sei (erhöht) glaubhaft, dass sich diese abgesprochen haben, da es unwahrscheinlich sei, dass die zeitgleiche Kündigung und der Wechsel in dieselbe Konkurrenzunternehmung blossem Zufall geschuldet seien, ist nicht zu beanstanden und wurde im Berufungsverfahren nicht gerügt.
7. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Hauptsachenprognose positiv ausfällt, d.h. das Vorliegen eines zivilrechtlichen Anspruchs (Realvollstreckung des Konkurrenzverbots) glaubhaft im Sinne der Rechtsprechung ist (Art. 261 Abs. 1 lit. a ZPO).
9.1 Die Beklagte beantragt subeventualiter, dass das von der Vorinstanz ausgesprochene Tätigkeitsverbot für die Beklagte bei der C AG auf ihren früheren Wirkungskreis bei der Klägerin (Kantone Aargau, Bern, Basel-Stadt, Solothurn und Tessin) zu begrenzen sei, ihr mithin lediglich zu verbieten sei, in diesen Kantonen Kunden der C AG zu besuchen und/oder diese zu kontaktieren oder anderweitig zu betreuen. Die Beklagte führt hierzu aus, dass unbestritten sei, dass sie tatsächlich und nur in den Kantonen Aargau, Bern, Basel-Stadt, Solothurn und Tessin tätig gewesen sei.
9.3 Im Urteil des Bundesgerichts 4C.298/2001 erwog dieses, dass die Arbeitsorganisation im Betrieb der neuen Arbeitgeberin eine Rolle spiele, soweit es um die Frage gehe, ob die Verwendung der an der früheren Stelle erworbenen Kenntnisse des Beklagten den Kläger erheblich schädigen könnte. Dass eine solche Schädigungsmöglichkeit bestehe, liege auf der Hand, habe der Beklagte doch bezüglich der von der Klägerin vertriebenen Produkte Einblick in Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnisse sowie den Kundenkreis. Er verfüge damit über Informationen, die von der neuen Arbeitgeberin konkurrenzierend ausgenutzt werden könnten.
An der Möglichkeit einer Schädigung ändere es nichts, wenn die Beklagte sich im neuen Betrieb nicht um die vom Konkurrenzverbot erfassten Produkte kümmere. Diese organisatorische Massnahme reiche in keiner Weise aus, um zu verhindern, dass Informationen vom Beklagten zum hierfür Verantwortlichen fliessen und verwendet werden können. Die vorliegende Konstellation ist mit derjenigen, die dem vorstehend zitierten Bundesgerichtsentscheid 4C.298/2001 zugrunde lag, vergleichbar.
Wenn es auch nicht um den sachlichen Geltungsbereich eines Konkurrenzverbots geht, sondern den örtlichen Umfang eines ausgesprochenen Tätigkeitsverbots, sind die Überlegungen dieselben. Entgegen der Darstellung der Beklagten ist dem Schutz der Klägerin mit einem auf bestimmte Kantone beschränkten Tätigkeitsverbot bei der C AG nämlich auch hier nicht Genüge getan. Die C AG ist als direkte Konkurrentin der Klägerin auch in Kantonen tätig, in denen die Beklagte früher für die Klägerin tätig war.
9.4 Die von der Vorinstanz ausgesprochene Massnahme ist geeignet und erforderlich, um die gefährdeten, erheblichen Interessen der Klägerin zu schützen. Besondere Gründe, die eine Realvollstreckung als unverhältnismässig erscheinen liessen, sind nicht ersichtlich. Damit ist die Berufung der Beklagten abzuweisen.
Obergericht Aargau, Entscheid ZSU.2023.48 vom 1.5.2023
Staatshaftung
Kanton haftet für Fehler des Notars bei der Beurkundung
Ein Notar muss die Klienten über Vertragsänderungen informieren, die erhebliche Risiken mit sich bringen.
Ein Selbstverschulden der Kunden kann aber die Schadenersatzforderung reduzieren.
Sachverhalt
Ein Ehepaar verkaufte seine Bündner Wohnung für 490'000 Franken. Die Entwürfe des Vertrags sahen vor, dass der Preis über den Notar bezahlt wird. Kurz vor der Beurkundung bekam der Notar eine Nachricht der Maklerin. Das Geld sei ihr bereits bezahlt worden. Der Notar änderte den Vertrag. Das Paar unterschrieb, ohne über die Auswirkungen der Änderung aufgeklärt worden zu sein. Die Maklerin verschwand mit dem Geld, das Paar stand ohne Geld und ohne Wohnung da. Es forderte vom Kanton Graubünden Schadenersatz für die ungenügende Aufklärung durch den Notar. Das Verwaltungsgericht sprach dem Paar die Hälfte des Schadensbetrags zu.
Aus den Erwägungen
7.1.3 Am Tag der Beurkundung, am 3. Juni 2019, änderte der Notar aufgrund einer Mail der Maklerin der Verkäufer vom Vortag die Kaufpreisregelung. Demzufolge wurde gemäss Angaben der Parteien der volle Kaufpreis bereits treuhänderisch und ausseramtlich auf das Konto der G-Genossenschaft überwiesen, welche von den Parteien gemäss separater Absprache beauftragt wird, die Kaufpreistilgung und Bezahlung der Vertragskosten vorzunehmen.
7.2 Die Änderungswünsche waren sehr kurzfristig. Aufgrund der Mail von J vom 2. Juni 2019 konnte Notar M nicht davon ausgehen, dass die Parteien Kenntnis von dessen kurzfristigen Änderungswünschen hatten, wenn sie eben diese Mail nicht gelesen hatten, geschweige denn, dass sie damit einverstanden waren.
Es handelt sich bei der Kaufpreisregelung um einen wesentlichen Bestandteil eines jeden Kaufvertrags. Mit der kurzfristigen Änderung der Kaufpreisklausel wurden die Kläger wesentlich schlechtergestellt, als sie dies bisher gemäss allen Vorentwürfen, mit denen sie sich im Vorfeld der Beurkundung auseinandergesetzt hatten, waren. Die abgeänderte Kaufpreisregelung entspricht nicht der Praxis. Diese Gegebenheiten sprechen dafür, dass Notar M hätte erkennen müssen, dass er in diesem Geschäft die Parteien über die kurz vor der Beurkundung vorgenommenen Änderungen in einem vertieften Ausmass hätte belehren müssen und tatsächlich sicherstellen, dass die Parteien verstehen, welche Folgen die Änderungen der Bestimmung über den Kaufpreis bewirken.
Wenn allerdings derart kurzfristig Änderungen vorgenommen werden, selbst wenn diese von der Maklerin der einen Partei veranlasst wurden, hat der Notar diese Änderungen mit den Parteien zu besprechen – vor allem wenn er, wie vorliegend, davon ausgehen muss, dass die Parteien über die Änderungen nicht informiert waren und zudem eine Partei dadurch schlechtergestellt wird.
Ihm hätte klar sein müssen, welche Sicherheiten die Kläger durch die Änderungen am Vertragstext einbüssen. Demnach ist Notar M seiner Belehrungspflicht im konkreten Fall nicht in genügender Weise nachgekommen. Er hat weder die Vorstellungen und Absichten der Beteiligten ermittelt, noch sie über Inhalt und erkennbare Tragweite des Geschäfts belehrt.
7.3 Notar M hat seine Sorgfaltspflichten nach Art. 26 NotG verletzt, indem er kurzfristige Änderungen am vor Monaten durch die Parteien abgesegneten Vertragsentwurf vorgenommen hat, ohne diese Änderungen und deren Folgen den Parteien in genügendem Masse zu erläutern.
8. Die Kläger machen die Kaufpreissumme in der Höhe von 490'000 Franken zuzüglich Zins seit 4. Juni 2019 geltend. Vor der Beurkundung waren die Kläger Eigentümer einer Liegenschaft in F. Danach waren die Kläger nicht mehr Eigentümer der Liegenschaft in F und sie haben den von den Käufern bezahlten Gegenwert für die Liegenschaft von 490'000 Franken nicht erhalten. Hätte die Beurkundung gemäss den im Vorfeld vereinbarten Bedingungen stattgefunden, wären sie seit 4. Juni 2019 im Besitz des Kaufpreises von 490'000 Franken oder die Beurkundung hätte nicht stattfinden können und sie wären nach wie vor Eigentümer der Liegenschaft. Der Schaden in der Höhe von 490'000 Franken zuzüglich Zins seit dem 4. Juni 2019 ist ausgewiesen.
9.1 Es ist davon auszugehen, dass die Kläger, wären sie umfassend über die vorgenommenen Vertragsänderungen informiert worden, den Vertrag nicht unterzeichnet hätten. Hätte Notar M seine Sorgfalts- und Belehrungspflichten in genügendem Masse wahrgenommen und die Parteien umfassend aufgeklärt, wäre der Kaufvertrag mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zustande gekommen. Somit wären in diesem Fall die B nach wie vor Eigentümer der Liegenschaft und hätten keinen Schaden erlitten. Demnach ist der natürliche Kausalzusammenhang vorliegend als erfüllt zu betrachten.
9.2 Unter diesen Umständen erscheint die Sorgfaltspflichtverletzung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet, den eingetretenen Erfolg zu bewirken. Die durch Notar M begangene Sorgfaltspflichtverletzung hatte auf den eingetretenen Erfolg auf jeden Fall eine begünstigende Wirkung. Mithin ist in casu auch die adäquate Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung zu bejahen.
9.3 Zu prüfen bleibt vorliegend allerdings, ob der Kausalzusammenhang allenfalls unterbrochen wurde. Der adäquate Kausalzusammenhang wird unterbrochen, wenn zu einer an sich adäquaten Ursache eine andere Ursache hinzutritt, die einen derart hohen Wirkungsgrad aufweist, dass erstere nach wertender Betrachtungsweise als rechtlich nicht mehr beachtlich erscheint (BGE 116 II 519, E. 4b, S. 524). Es stellt sich somit die Frage, ob einerseits das Verhalten der Maklerin und andererseits das Verhalten der Kläger selbst die Sorgfaltspflichtverletzung von Notar M als inadäquat erscheinen lässt.
9.3.1 Zunächst ist ein allenfalls bestehendes Drittverschulden durch die Maklerin zu prüfen. Die Änderungswünsche der Maklerin hätten nach dem natürlichen Lauf der Dinge eben gerade nicht dazu führen dürfen, dass der Notar die Beurkundung trotzdem vornimmt respektive es unterlässt, die Parteien darüber zu informieren. Vielmehr wäre ein aufmerksamer Notar nach der allgemeinen Lebenserfahrung unter den gegebenen Umständen argwöhnisch geworden und hätte die Beurkundung allenfalls abgesagt oder zumindest mit den Parteien genau besprochen, welche Folgen die Änderungen mit sich bringen.
Somit besteht kein adäquater Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Maklerin bezüglich der Vertragsänderung sowie mangelnden Belehrung durch den Notar und dem eingetretenen Schaden. Infolgedessen kann das Verhalten der Maklerin den Kausalzusammenhang nicht unterbrechen.
9.3.2 Die Kläger haben den Vertrag, den ihnen Notar M vorgelesen hat, unterzeichnet. Es bleibt somit zu prüfen, ob ein Selbstverschulden der Kläger vorliegt. Sie hatten den abgeänderten Vertrag vor sich, konnten ihn demnach lesen, und zudem wurde er ihnen von Notar M vorgelesen. Sie hätten die Beurkundung abbrechen können oder zumindest nachfragen können, als sie bemerkt haben, dass der Notar nicht denselben Vertragstext vorliest, den sie im Vorfeld abgemacht hatten.
Dennoch ist es auch nachvollziehbar, dass sie dem Notar vertraut haben und dass sie am Tag der Beurkundung nicht mit derart ungewöhnlichen Änderungen am Vertragstext gerechnet haben. Folglich ist zwar das Selbstverschulden der Kläger durchaus gegeben, die Intensität dieses Verhaltens erscheint jedoch nicht als so hoch, dass es die Sorgfaltspflichtverletzung des Notars als Ursache zu verdrängen vermögen würde.
9.3.3 Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass durch das Fehlverhalten der Maklerin sowie das Selbstverschulden der Kläger das Fehlverhalten der Beklagten nicht derart verdrängt wird, dass es nach Ansicht des Gerichts als adäquat kausale Ursache ausser Betracht fiele. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass das entsprechende Verhalten einen Einfluss auf den Schaden hatte.
9.4 Gemäss Art. 44 Abs. 1 OR kann das Gericht die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden, falls Umstände, für die der Geschädigte einstehen muss, auf die Entstehung oder die Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert haben. Dazu zählt auch das Verhalten von Hilfspersonen, welchen der Geschädigte die Erfüllung einer Vertragspflicht bzw. die Ausübung eines Rechts aus einem Schuldverhältnis übertragen hat (BGE 130 591, E. 5.2, S. 601).
Demnach fällt das Verhalten der Maklerin als Vertreterin der Kläger in die Risikosphäre der Kläger. Ausserdem ist den Klägern, wie bereits festgestellt, ein Selbstverschulden vorzuwerfen. Das Verschulden des Schädigers wiegt nach Ansicht des Gerichts schwerer als jenes der Geschädigten.
Der Schädiger hat die Mail der Maklerin gelesen, sich damit zumindest so weit auseinandergesetzt, dass er eine wesentliche Vertragsbestimmung komplett abgeändert hat und diese Tatsache hat er in der Folge mit den Parteien nur ungenügend thematisiert.
Die Geschädigten auf der anderen Seite haben nicht interveniert als sie einen überarbeiteten Vertragstext vorgelegt und vorgelesen bekamen. Es ist davon auszugehen, dass sie die Mail der Maklerin nicht gekannt haben. Die aktive Veränderung des Vertragstextes und das Unterlassen seiner Aufklärungspflicht wiegen deutlich schwerer als das gutgläubige Mitmachen der Geschädigten, die dem Notar ihr Vertrauen geschenkt haben.
Das Gericht erachtet eine Reduktion des Schadens von 25 Prozent aufgrund des Selbstverschuldens der Kläger wegen ihrer mangelnden Eigenverantwortung für angemessen. Hinzukommt das Verhalten der Maklerin, das den Klägern anzurechnen ist. Auch diesbezüglich wird das Verschulden des Schädigers als schwerer betrachtet. Schliesslich hätte er, wie bereits mehrfach erwähnt, unter den gegebenen Umständen stutzig werden müssen und hätte vor allem die Parteien sehr genau über die Änderungen aufklären müssen.
Dennoch ging das Fehlverhalten grundsätzlich von der Maklerin aus und ist ihr Verschulden nicht von der Hand zu weisen. Daher erachtet das Gericht aufgrund ihres Verhaltens eine weitere Reduktion des Schadens um 25 Prozent für angebracht. Folglich ist der Schaden, für den der Schädiger und somit die Beklagte einzustehen hat, nach Art. 44 Abs. 1 OR um insgesamt 50 Prozent zu reduzieren aufgrund von Umständen, für die die Geschädigten einzustehen haben.
9.5 Zusammenfassend ist die Klage somit im Umfang von 50 Prozent gutzuheissen. Im Übrigen ist die Klage abzuweisen.
Verwaltungsgericht Graubünden, Urteil U 2020 55 vom 6.6.2023
Strafprozessrecht
Vier-Augen-Delikt: Zwei Befragungen des Opfers nötig
Strafverfolgungsbehörden müssen erwachsene Opfer in «Aussage gegen Aussage»-Konstellationen zumindest zwei Mal befragen. Nur so können Aussagen auf ihre Kohärenz hin beurteilt werden. Mindestens eine Befragung muss mit Video aufgezeichnet werden.
Sachverhalt
Die Anzeigeerstatterin in einem Sexualstrafverfahren wurde von einer spezialisierten Polizistin kurz nach dem angeblichen Vorfall befragt. Das erstinstanzliche Gericht verzichtete darauf, die Frau noch einmal zu befragen. Es verurteilte den Beschuldigten wegen Vergewaltigung. Das Kantonsgericht Luzern erachtete eine zweite Befragung der Frau als zwingend und führte diese durch. Es sprach den Beschuldigten frei.
Aus den Erwägungen
3.5.2 Das Berufungsgericht wiederholt erstinstanzliche Beweisabnahmen, wenn die Voraussetzungen von Art. 389 Abs. 2 StPO erfüllt sind, und erhebt von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei die nötigen zusätzlichen Beweise (Art. 389 Abs. 3 StPO). Eine unmittelbare Beweisabnahme im Rechtsmittelverfahren hat laut bundesgerichtlicher Praxis auch zu erfolgen, wenn eine solche im erstinstanzlichen Verfahren unterblieb oder unvollständig war und die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint (Art. 405 Abs. 1 i.V.m. Art. 343 Abs. 3 StPO; BGE 143 V 288 E. 1.4.1, 140 IV 196, E. 4.4.1).
Eine unmittelbare Abnahme eines Beweismittels ist notwendig im Sinne von Art. 343 Abs. 3 StPO, wenn sie den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Kraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den unmittelbaren Eindruck der Aussage der einzuvernehmenden Person ankommt, so wenn die Aussage das einzige direkte Beweismittel («Aussage gegen Aussage»-Konstellation) darstellt. Allein der Inhalt der Aussage einer Person (was sie sagt), lässt eine erneute Beweisabnahme nicht notwendig erscheinen.
Massgebend ist, ob das Urteil entscheidend von deren Aussageverhalten (wie sie es sagt) abhängt (BGE 140 IV 196, E. 4.4.2). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung können auf Video aufgezeichnete Einvernahmen genügen, um sich ein hinreichendes Bild von der Glaubwürdigkeit der Auskunftsperson oder des Zeugen respektive der Glaubhaftigkeit deren Aussagen zu verschaffen.
Dies ist namentlich der Fall, wenn weitere Sachbeweise oder Indizien vorliegen und die einvernommene Person konstant und in sich logisch konsistent aussagt (6B_612/2020 vom 1.11.2021, E. 2.3.4, 6B_1265/2019 vom 9.4.2020, E. 1.2). Das Gericht verfügt bei der Frage, ob eine erneute Beweisabnahme erforderlich ist, über einen Ermessensspielraum.
Vorliegend handelt es sich um eine «Aussage gegen Aussage»-Konstellation. Die Aussagen der beiden beteiligten Personen sind die einzigen und damit entscheidenden direkten Beweismittel. Sachbeweise dafür, dass der Geschlechtsverkehr zwischen der Privatklägerin und dem Angeklagten einvernehmlich oder nicht einvernehmlich war, finden sich in den Akten nicht. Der Anklagevorwurf stützt sich weitestgehend auf die Aussagen der heute volljährigen Privatklägerin, die bisher lediglich einmal – audiovisuell – einvernommen wurde.
In einer solchen Konstellation ist es unerlässlich, die Privatklägerin ein zweites Mal persönlich anzuhören und zu befragen. Nur wenn von einer aussagenden Person mehrere Aussagen über denselben Sachverhalt zu verschiedenen Zeitpunkten vorliegen, können diese Aussagen mittels einer sogenannten Konstanzanalyse hinsichtlich Auslassungen, Ergänzungen und Widersprüche überprüft und bewertet werden. Die Konstanzanalyse stellt dabei ein wesentliches methodisches Element der Aussageanalyse dar.
Es handelt sich um eine Mindestanforderung einer als glaubhaft beurteilten Aussage (BGer-Urteil 6B_595/2021 vom 24.6.2022, E. 5.4.2 mit Hinweisen; vgl. BGE 128 I 81, E. 2 und 3; Berlinger, Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Strafprozess, Diss. Luzern 2014, S. 43 ff.; Ludewig/Baumer/Tavor, Wie können aussagepsychologische Erkenntnisse Richtern, Staatsanwälten und Anwälten helfen?, in: AJP 2011 S. 1415 ff., S. 1429).
Eine zweite Befragung ist notwendig, um inhaltliche Diskrepanzen und Unklarheiten in den Aussagen der Privatklägerin anzusprechen, die bisher nicht thematisiert wurden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich nach der ersten Einvernahme durch neue Beweismittel Widersprüche ergeben, zu denen die Privatklägerin bisher nicht Stellung nehmen konnte.
Ein ausdrücklicher Antrag einer Partei ist für die Befragung vor Schranken nicht erforderlich. Sowohl die Rechtsmittelinstanz als auch das erstinstanzliche Gericht sind dem Untersuchungsgrundsatz verpflichtet (Art. 6 StPO; vgl. Art. 343 Abs. 1 und 3 StPO; Art. 389 Abs. 3 StPO). Aus all diesen Gründen und entgegen der im angefochtenen Urteil vertretenen Auffassung erweist sich die Zweiteinvernahme der Privatklägerin vorliegend geradezu als zwingend und wurde im Berufungsverfahren nachgeholt.
Nach dem Gesagten ist das erwachsene Opfer in Konstellationen wie der vorliegenden im Strafverfahren insgesamt mindestens zweimal zu befragen. Davon ist mindestens eine Befragung audiovisuell aufzuzeichnen. Die erste Befragung hat möglichst rasch nach dem Vorfall stattzufinden (vgl. für die Befragung von Kindern ausdrücklich Art. 154 Abs. 2 StPO), wobei zu berücksichtigen ist, dass der Abruf von Erinnerungen wenige Stunden nach dem Ereignis erschwert sein kann, was sich negativ auf die Qualität der (Erst-)Aussage auswirken kann.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass dieser Effekt drei bis vier Stunden nach dem stressauslösenden Ereignis nachlässt (Sommer/Gamer, Einfluss traumatischer Ereignisse auf das Gedächtnis – neurowissenschaftliche Befunde, in: Praxis der Rechtspsychologie 1/28, S. 97 ff.; Niehaus, Einvernahme und Aussagepsychologie, in: Seminar zur 5. Tagung zum Strafprozessrecht, Zürich 2022, S. 156 ff.). Die zweite Befragung hat grundsätzlich im Vorverfahren oder spätestens im erstinstanzlichen Hauptverfahren zu erfolgen.
Das Erinnerungsvermögen verschlechtert sich bei grossen Zeitabständen zwischen dem Ereignis und der Einvernahme. Bei Zeitspannen unter sechs Monaten fällt der Zeitfaktor für das Erinnerungsvermögen jedoch weniger ins Gewicht, woraus sich ableiten lässt, dass die Zweiteinvernahme idealerweise möglichst rasch, spätestens jedoch innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nach der ersten Befragung erfolgen sollte (vgl. Roebers, in: Walther/Preckel/Mecklenbräuker [Hrsg.], Befragung von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2010, S. 269 f.).
Kantonsgericht Luzern, Urteil 4M 22 105 vom 30.5.2023
Aargauer Justiz stoppt unzulässige Überwachung
Betroffene einer verdeckten Polizeifahndung müssen nachträglich informiert werden. Und automatische Autonummerfahndungen müssen im Detail im Gesetz geregelt werden. Sonst sind Persönlichkeitsrechte verletzt.
Sachverhalt
Zwei Privatpersonen haben zwei Bestimmungen im Polizeigesetz des Kantons Aargau angefochten. Das kantonale Verwaltungsgericht heisst die Beschwerde gut und hebt die Gesetzesartikel auf. Die vorgesehene präventive verdeckte Fahndung ohne nachträgliche Information der Betroffenen verstösst gegen die informationelle Freiheit und die Rechtsweggarantie. Ebenso unzulässig ist eine automatische Verkehrsüberwachung per Video ohne eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.
Aus den Erwägungen
5.1 Die von den Gesuchstellern angefochtenen Bestimmungen des Polizeigesetzes lauten wie folgt:
§ 35c (Präventive verdeckte Fahndung) Abs. 8 Die Mitteilung gemäss Absatz 7 (Die Kantonspolizei teilt den betroffenen Personen spätestens mit Abschluss der präventiven verdeckten Fahndung mit, dass nach ihnen verdeckt gefahndet worden ist) kann mit Zustimmung des Zwangsmassnahmengerichts aufgeschoben oder unterlassen werden, wenn a) die Erkenntnisse nicht zu Beweiszwecken verwendet werden, und b) der Aufschub oder die Unterlassung zum Schutz überwiegender öffentlicher oder privater Interessen notwendig ist.
§ 36b (Automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung) Abs. 2 lit. a Der automatisierte Abgleich (von automatisiert erfassten Kontrollschildern von Fahrzeugen) ist zulässig mit polizeilichen Personen- und Sachfahndungsregistern.
6.1 Gemäss Art. 13 Abs. 2 BV hat jede Person Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten. Entgegen der missglückten Formulierung gewährleistet diese Bestimmung nicht bloss den Schutz vor Missbrauch persönlicher Daten, sondern ein verfassungsmässiges Recht respektive Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Jede Person muss die Möglichkeit haben, gegenüber einer fremden, staatlichen oder privaten Bearbeitung von sie betreffenden Informationen bestimmen zu können, ob und zu welchem Zweck diese Informationen bearbeitet und gespeichert werden, ohne Rücksicht darauf, wie sensibel die fraglichen Informationen tatsächlich sind (BGE 147 I 103, E. 15.1; 145 IV 42, E. 4.2; 144 I 281, E. 6.2; Rainer J. Schweizer / Lea S. Striegel, in: Bundesverfassung St. Galler Kommentar, 4. Aufl. 2023, N. 79 zu Art. 13).
Der hier angefochtene § 35c Abs. 8 PolG beinhaltet insofern einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung respektive das daraus fliessende Auskunftsrecht, als unter gewissen Voraussetzungen (zum Schutz überwiegender öffentlicher oder privater Interessen und falls die Erkenntnisse nicht zu Beweiszwecken verwendet werden) keine oder erst mit zeitlichem Aufschub eine Mitteilung an die betroffene Person erfolgen soll, dass gegen sie präventiv verdeckt gefahndet wurde. Darüber hinaus sind nach zutreffender Argumentation der Gesuchsteller die Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV sowie das Recht auf wirksame Beschwerde nach Art. 13 EMRK tangiert.
Art. 29a BV räumt jeder Person einen substanziellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle der Rechts- und Tatsachenfragen ein. Dabei darf der Gesetzgeber Ausnahmen vorsehen, den Zugang zum Gericht aber weder in grundsätzlicher Weise ausschliessen noch in unzumutbarer Weise erschweren (Andreas Kley, in: Bundesverfassung St. Galler Kommentar, a.a.O., N. 8 zu Art. 29a).
Ohne eine Mitteilung, dass gegen sie präventiv verdeckt gefahndet wurde, kann sich die betroffene Person nicht wirksam gegen die in Frage stehende Datenbearbeitung, die einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, zur Wehr setzen, d.h. die Mitteilung über die präventiv verdeckte Fahndung ist Voraussetzung für die Gewährung von effektivem Rechtsschutz nach Art. 29a BV und Art. 13 EMRK (vgl. BGE 147 II 408, E. 6.3; Kley, a.a.O., N. 9 zu Art. 29a).
6.2.1 Mit dem angefochtenen § 35c Abs. 8 PolG besteht für die oben dargelegten Grundrechtseingriffe eine gesetzliche Grundlage in einem formellen Gesetz. Einer solchen bedarf es gemäss Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV grundsätzlich auch, weil es sich bei den erwähnten Grundrechtseingriffen nur schon aufgrund der Sensitivität der bearbeiteten Personendaten, aber auch aufgrund der Form der Datenbeschaffung um einen schwerwiegenden Eingriff handelt (vgl. Schweizer / Striegel, a.a.O., N. 122 zu Art. 13).
6.2.2 Die öffentliche Sicherheit sowie die Verbrechensbekämpfung können einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen (Schweizer / Striegel, a.a.O., N. 130 zu Art. 13). Allerdings sind solche Interessen spezifisch mit Bezug auf den Verzicht auf eine nachträgliche Benachrichtigung der von einer präventiven verdeckten Fahndung betroffenen Personen nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen, weil die Benachrichtigungspflicht dazu dient, den Rechtsschutz der betroffenen Personen zu gewährleisten.
Zudem wird dadurch das Risiko verringert, dass die bei der verdeckten Präventivfahndung gewonnenen Beweise in einem möglicherweise später eröffneten Strafverfahren für unverwertbar erklärt werden.
6.2.3 Im Urteil 1C_39/2021 vom 29. November 2022, E. 6.3.2, weist das Bundesgericht darauf hin, dass allfälligen überwiegenden Interessen an der Geheimhaltung der Identität des verdeckten Fahnders oder der verdeckten Fahnderin auch durch eine Beschränkung des Akteneinsichtsrechts als mildere Massnahme Rechnung getragen werden könnte, ohne den Rechtsschutz der von der Fahndung betroffenen Person vollständig auszuschliessen.
Die betroffene Person würde alsdann nur noch darüber informiert, dass gegen sie verdeckt gefahndet wurde, wohingegen die Identität der verdeckt fahndenden Person nicht offengelegt würde. Dadurch dürfte die Gefährdung der Effizienz der präventiven verdeckten Fahndung zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und zur Verbrechensbekämpfung zu einem wesentlichen Teil entfallen. Dass allein die Bekanntgabe des Einsatzes dieses Fahndungsmittels in einem konkreten Fall ausreichen würde, um dieses (in den meisten Fällen) seiner Wirksamkeit zu berauben, wird vom Regierungsrat wiederum nicht dargetan.
6.3 In diesem Sinne ist darauf abzustellen, dass es mildere Massnahmen als der in § 35c Abs. 8 PolG vorgesehene Aufschub oder Verzicht auf die Mitteilung der präventiven verdeckten Fahndung an die davon betroffene Person gibt, mit denen sich das angestrebte Ziel der Sicherheit der verdeckten Fahnder und der Effizienz der Verbrechensbekämpfung hinreichend erreichen lässt. Folglich greift § 35c Abs. 8 PolG übermässig in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 13 Abs. 2 BV) und in die Rechtsweggarantien (Art. 29a BV und Art. 13 EMRK) ein. Entsprechend ist die angefochtene Norm als verfassungs- und konventionswidrig aufzuheben.
7.1 Einen weiteren Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 13 Abs. 2 BV), und zwar einen solchen schwerwiegender Art, bewirkt § 36b Abs. 2 lit. a PolG, wonach automatisch erfasste Fahrzeugkontrollschilder mit nicht näher eingegrenzten polizeilichen Personen- und Sachfahndungsregistern abgeglichen werden dürfen (BGE 146 I 11, E. 3.2 f.; 143 I 147, E. 3.3; Schweizer /Striegel, a.a.O., N. 122 zu Art. 13 BV).
Erklärt wird die hohe Eingriffsintensität unter anderem durch den von den Gesuchstellern beschriebenen «chilling effect». Die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV) ermöglicht die serielle und simultane Verarbeitung grosser und komplexer Datensätze innert Sekundenbruchteilen, was insofern über die herkömmliche verkehrstechnische Informationsbeschaffung und die Fahndungssysteme der bisherigen sicherheitspolizeilichen Gefahrenabwehr hinausgeht.
Die Eingriffsintensität nimmt mit dem Zugriff und der Nutzung der Daten durch die zuständigen Behörden erheblich zu. Namentlich die Kombination mit anderweitig erhobenen Daten und eine entsprechende Streuweite des Systems können Grundlage für Persönlichkeits- oder Bewegungsprofile bilden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der weder anlassbezogene noch aufgrund eines konkreten Verdachts erfolgte Eingriff in die Grundrechte eine abschreckende Wirkung zeitigen kann, indem mit einer (geheimen) späteren Verwendung der Daten durch die Behörden gerechnet wird, was zu einem Gefühl der Überwachung führen und die Selbstbestimmung hemmen kann (BGE 146 I 11, E. 3.2 f.; BGE 143 I 147, E. 3.3).
7.2 Im Urteil 1C_39/2021 vom 29. November 2022, E. 8.5.1, befand das Bundesgericht bezüglich einer gleichlautenden Regelung im Solothurnischen Gesetz über die Kantonspolizei (§ 36octies Abs. 2 lit. a), der systematische Abgleich der automatisch erfassten Fahrzeugkontrollschilder mit nicht näher bestimmten polizeilichen Personen- und Sachfahndungsregistern sei (trotz des Verweises der Behörden auf § 36 KapoG/SO mit einer Liste von polizeilichen Personen- und Sachfahndungsregistern, die sich angeblich nicht beliebig erweitern lässt) zu weit gefasst und dementsprechend zu wenig eingrenzbar (auch wegen möglicher Anpassungen durch Fremdänderungen in Spezialerlassen).
Ein solcher Abgleich würde eine Vielzahl von Fällen umfassen, für welche die Anordnung einer automatisierten (oder automatischen) Fahrzeugfahndung entweder nicht erforderlich sei (z.B. in den Fällen gemäss § 36 Abs. 1 lit. d [Ausschreibung von Minderjährigen oder Personen unter Beistandschaft, wenn sie sich der elterlichen oder behördlichen Aufsicht entziehen oder von einem ihnen zugewiesenen Pflegeplatz entweichen] oder § 36 Abs. 1 lit. e [Ausschreibung von vermissten Personen], wenn keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die entwichene oder vermisste Person mit einem Auto unterwegs sein könnte), oder übermässig wäre, weil keine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorliege (z.B. beim Abgleich mit dem Register der Personen, denen gemäss § 36 Abs. 1 lit. c eine amtliche Verfügung oder ein amtlicher Entscheid zugestellt werden müsse).
7.3 Nicht anders präsentiert sich die Rechtslage mit Bezug auf den hier angefochtenen § 36b Abs. 2 lit. a PolG, der eher noch weniger eingrenzt, mit welchen polizeilichen Personen- und Sachfahndungsregistern die automatisch erfassten Fahrzeugkontrollschilder abgeglichen werden dürfen.
8. Zusammenfassend lassen sich die angefochtenen Bestimmungen des PolG (§ 35c Abs. 8 und § 36b Abs. 2 lit. a) nicht mit übergeordnetem Recht vereinbaren, indem sie übermässige Eingriffe in verfassungsmässige Rechte bzw. Garantien (informationelle Selbstbestimmung [Art. 13 Abs. 1 BV], Rechtsweggarantien [Art. 29a BV und Art. 13 EMRK]), Schutz der Privatsphäre [Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 EMRK]) zulassen, die im Falle von § 36b Abs. 2 lit. a PolG überdies einer genügenden bzw. genügend bestimmten gesetzlichen Grundlage entbehren. Demzufolge sind die beiden Bestimmungen in Gutheissung des vorliegenden Normenkontrollbegehrens ersatzlos aufzuheben.
Verwaltungsgericht Aargau, Urteil WNO.2023.1 vom 28.9.2023
Verwaltungsverfahren
Anwalt muss den Empfang von E-Mails verifizieren
Der Versand von E-Mails ist unsicher. Ein Rechtsvertreter muss sich daher versichern, dass die Klientschaft die Nachricht erhalten hat. Eine Versäumnis führt nicht zur Fristwiederherstellung.
Sachverhalt
Ein Anwalt erhob für seine Klienten Beschwerde in einer baurechtlichen Streitigkeit. Er leitete ihnen die Aufforderung, den Kostenvorschuss zu bezahlen, per E-Mail weiter. Die E-Mail ging beim Versand verloren. Dies ist kein Grund für eine Fristwiederherstellung, entschied das Obergericht Schaffhausen.
Aus den Erwägungen
4.1 Schwierigkeiten im Umgang mit Informatiksystemen stellen regelmässig keinen Fristwiederherstellungsgrund dar. Einer Verfahrenspartei ist grobe Nachlässigkeit vorzuwerfen, wenn das Fristversäumnis darauf zurückzuführen ist, dass sie eine entscheidrelevante Mitteilung per E-Mail versandt hat, ohne weitere Kontrollmassnahmen zu ergreifen. Es ist heute als allgemein bekannt vorauszusetzen, dass der Verkehr mit E-Mails gefahrenbehaftet und im Allgemeinen nur beschränkt verlässlich ist.
Es ist daher unerlässlich, sich den Eingang des E-Mails bestätigen zu lassen oder dessen Übermittlung auf andere, primär herkömmliche Weise (telefonisch, postalisch) zu verifizieren und nicht auf das Ausbleiben einer Fehlermeldung oder auf den Eingang einer automatisierten Zustellbestätigung zu vertrauen (OGE 60/2018/14 vom 26. Februar 2019, E. 2.2.2 mit Hinweis auf BGer 2C_699/2012 vom 22. Oktober 2012, E. 4, sowie Kaspar Plüss, in: Alain Griffel [Hrsg.], Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG], 3. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2014, § 12 N. 73; vgl. ferner BGE 145 V 90, E. 6.2.2).
4.2 Nach dem Gesagten ist jedenfalls von einem anwaltlichen Rechtsvertreter aufgrund seiner anwaltlichen Sorgfaltspflicht zu erwarten, dass er fristgebundene und mit der Säumnisfolge des Rechtsverlusts verbundene Anordnungen nicht bloss an seine Mandantschaft weiterleitet, sondern sich deren Eingang bestätigen lässt. Unterbleibt eine solche Bestätigung, hat er bei der Klientschaft nachzufragen.
Im vorliegenden Fall versäumte es der Rechtsvertreter, sich bei den Beschwerdeführern nach dem Eingang seines E-Mails vom 5. April 2023 zu erkundigen, obwohl ihm Letztere den Eingang des E-Mails nicht (von sich aus) bestätigt hatten. Nachdem dem Rechtsvertreter die Säumnisfolgen (Rechtsverlust) bekannt waren, ist nicht zu beanstanden, wenn der Regierungsrat darin eine grobe Nachlässigkeit im Sinne von Art. 11 VRG erblickte. Daran vermag nichts zu ändern, dass die E-Mail-Kommunikation zwischen dem Rechtsvertreter und den Beschwerdeführern offenbar zuvor tadellos funktioniert hatte.
Bei diesem Ergebnis kann offenbleiben, wie glaubhaft die Darstellung der Beschwerdeführer ist, sie hätten das E-Mail des Rechtsvertreters nicht erhalten. Offenbleiben kann sodann, ob sich der Rechtsvertreter überdies nach der gebotenen Sorgfalt hätte vergewissern müssen, dass die fristwahrende Handlung vor Fristablauf von seiner Klientschaft vorgenommen wurde.
Unzutreffend ist jedoch, dass die Beschwerdeführer bis dahin Vorschussrechnungen jedes Mal fristgerecht bezahlt hatten. Dem Rechtsvertreter musste aus dem zwischen denselben Parteien geführten Verwaltungsgerichtsverfahren bekannt sein, dass die Beschwerdeführer die dort angesetzte Kostenvorschussfrist ungenutzt verstreichen liessen, weshalb ihnen am 2. Dezember 2022 – mithin nur vier Monate vor dem Versand des E-Mails vom 5. April 2023 – eine Nachfrist angesetzt werden musste.
Die Beschwerdeführer haben sich das Verhalten ihres Rechtsvertreters anrechnenzulassen (OGE 60/2019/19 vom 15. Oktober 2019, E. 6; 60/2018/14 vom 26. Februar 2019, E. 2.3; Meyer, Art. 11 VRG N. 6). Ob ihnen auch persönlich ein grob nachlässiges Verhalten vorgeworfen werden kann, muss daher nicht mehr geprüft werden.
Obergericht Schaffhausen, Entscheid 60/2023/35 vom 27.10.2023